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Verschwörungstheorien

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Aus dem Versagen staatlicher Behörden ist geradezu ein Wald an Verschwörungstheorien gewachsen. Mit jedem neuen Kriminalroman, mit jedem neuen Film, der sich an den NSU-Komplex anlehnt, wächst dieser Wald weiter. Da taucht in vorgeblich authentischen Fernsehfilmen ein V-Mann auf, der berichten kann, wie alles im Innersten zusammenhing – und kurz, bevor er sein Wissen der Polizei preisgeben will, als er mit dem Auto schon auf dem Weg zum Revier ist, jagt jemand den Wagen in die Luft. So einen Vorfall hat es nie gegeben, dennoch ist er bis heute Gegenstand wilder Spekulationen, und das nicht nur auf einschlägigen Internetseiten. In den Geschichten über den NSU wimmelt es von Dunkelmännern, die an Beate Zschäpe nur wie an der Marionette einer Staatsverschwörung ziehen. Gerade Rechtsextremisten versuchen, die gesamte Schuld auf die Behörden abzuwälzen und den NSU als bloße Erfindung des Staates darzustellen. Und ständig wird vom unheimlichen Zeugensterben im Fall NSU geraunt. Dabei haben nachträgliche Ermittlungen sehr viele dieser Verschwörungstheorien widerlegt.

Exemplarisch dafür steht der Fall Florian H. Der 21-Jährige verbrannte 2013 in seinem Auto in Stuttgart. Er wollte schon vor dem Auffliegen des NSU etwas über eine Neonazi-Organisation mit dem Namen NSU gehört haben. Er wurde vernommen, es wurde ermittelt, danach glaubte man ihm nicht mehr: Er nannte den NSU eine der größten Neonazi-Vereinigungen in Deutschland und konnte auch den Ort in seiner kleinen Gemeinde nicht mehr wiederfinden, wo er den NSU angeblich getroffen hatte. Dennoch sollte der Zeuge erneut vernommen werden, doch am Morgen der Vernehmung verbrannte er in seinem Auto. Die Polizei geht von Selbstmord aus. Am Tatort gab es Zeugen, die niemanden sahen außer Florian H. Der hatte sich kurz zuvor an der Tankstelle Benzin gekauft, das er dann entzündete. Der NSU-Untersuchungsausschuss in Baden-Württemberg hat sich intensiv mit dem Fall beschäftigt und kam zu dem Ergebnis, dass es keine Anhaltspunkte für einen Mord gibt. Dennoch lebt diese Theorie hartnäckig weiter.

Die Ignoranz, die Schlamperei und die Abschottung der Geheimdienste haben den Argwohn wachsen lassen. Manche Bürger trauen den Sicherheitsbehörden mittlerweile alles zu. Sie haben den Eindruck gewonnen, staatliche Stellen hätten den Terror bewusst und vorsätzlich gedeckt oder sogar gefördert. Solide Belege dafür fehlen. Gut belegt ist aber, dass sich der Staat mit dubiosen Spitzeln aus der rechtsextremen Szene eingelassen hat, die er oft nicht mehr unter Kontrolle hatte. Und dass er bei der Besetzung von Führungspositionen in den Sicherheitsbehörden geradezu fahrlässig vorging. So galt der Chef des Thüringer Verfassungsschutzes Helmut Roewer im Kreis seiner Kollegen im Bund und in den Ländern schon lange als Skandalfigur. Als der NSU aufflog, war er schon im Ruhestand, die Versäumnisse seines Amtes in Sachen NSU fielen in seine Zeit.

Der Versuch, die Untergetauchten zu finden, indem man die rechte Szene mit Spitzeln durchdringt, ist im NSU-Fall gescheitert. Rund um den NSU hatte der Verfassungsschutz etliche V-Leute platziert, die angeblich alle nicht genau gewusst haben wollen, wo sich das untergetauchte Trio aufhielt und was es tat. Einige V-Männer, wie Tino Brandt, waren den Gesuchten dicht auf der Spur, zugleich beteiligten sie sich an Hilfsaktionen für das Trio und spendeten sogar Geld – Geld des Steuerzahlers.

Vor Gericht sind einige dieser Spitzel als Zeugen aufgetreten, aber längst nicht alle, die sich rund um den NSU bewegt hatten. Einige V-Männer hielt das Gericht für die strafrechtliche Aufklärung nicht für wichtig genug, so auch den Neonazi mit dem Decknamen »Primus«, der jahrelang in Zwickau gelebt hatte und nachweislich den Angeklagten André Eminger kannte. Es gibt Zeugen, die bekunden, Uwe Mundlos habe nach dem Untertauchen für eine Baufirma dieses V-Mannes gearbeitet – und Beate Zschäpe womöglich in einem von dessen Läden. Erwiesen ist das nicht, vom Gericht aufgeklärt allerdings auch nicht. Die Richter hielten es für die Schuldfrage für irrelevant.

Viele Vertreter der Nebenkläger haben im Prozess immer wieder versucht, mehr Licht in die Aktionen der Behörden und das Treiben der V-Leute zu bringen. Manchmal führte dies zu ungewöhnlichen Koalitionen, denn auch einige Verteidiger drängten zur Aufklärung der Rolle des Staates – um ihre Mandanten zu entlasten. Aus Sicht der Bundesanwaltschaft war die Aufklärung der Staatsverwicklung jedoch die Aufgabe der Untersuchungsausschüsse und nicht des Strafverfahrens in München. Bundesanwalt Herbert Diemer hat solche Anträge fast immer blockiert. Und auch die rechtsradikale Gesinnung von Zeugen tat für ihn nicht wirklich etwas zur Sache. Legendär ist sein Satz: »Wir sind nicht das Jüngste Gericht.«

Ein wunder Punkt bei der Aufklärung ist der Mord an Halit Yozgat in Kassel. Als der 21-Jährige im April 2006 in seinem Internetcafé erschossen wurde, waren mehrere Kunden in dem Laden. Einer von ihnen war Andreas Temme, Mitarbeiter des hessischen Verfassungsschutzes. Er geriet damals unter Mordverdacht, weil er sich nicht als Zeuge gemeldet hatte. Die Ermittlungen gegen ihn wurden jedoch eingestellt. Nach dem Auffliegen des NSU wurde er erneut überprüft. Temme beteuerte stets, vom Mord nichts mitbekommen und auch die Leiche in dem engen Laden nicht gesehen zu haben. Das klingt selbst für einige Polizisten, die in diesem Fall ermittelten, unglaubhaft. Manche Kritiker der Ermittlungen haben sogar über eine Komplizenschaft des Beamten mit den Tätern spekuliert oder suggeriert, er sei selbst der Mörder gewesen. Temme wurde gleich sechs Mal im NSU-Prozess gehört. Am Ende glaubte ihm das Gericht. Die Familie Yozgat sieht es anders und hat das vor Gericht wiederholt geäußert. Und der detaillierte Nachbau des Internetcafés durch ein britisches Expertenteam der Gruppe »Forensic Architecture« auf der Documenta in Kassel hat ergeben, dass Temme den Schuss gehört und die Leiche gesehen haben muss – bis auf ein sehr unwahrscheinliches Zeitfenster von circa 40 Sekunden, in dem er schon weg gewesen sein könnte und die Mörder noch nicht da. Dass er aber Kontakte zum NSU gehabt hat, das konnten auch diese Experten nicht belegen.

Rund um den NSU ranken noch viele Gerüchte. So sollen Zschäpe, Mundlos oder Böhnhardt selbst V-Leute des Geheimdiensts gewesen sein – Belege dafür existieren nicht. Mundlos und Böhnhardt sollen sich nicht selbst im Wohnmobil getötet haben, sondern von einem geheimnisvollen Dritten exekutiert worden sein – auch dafür fehlen Belege. Erleichtert werden die Spekulationen aber dadurch, dass die Behörden bei der Spurensicherung geschlampt haben. So ist das Wohnmobil, in dem die Leichen von Mundlos und Böhnhardt gefunden wurden, frühzeitig vom Tatort weggeschleppt und erst danach durchsucht worden. Dadurch könnten die Spuren im Inneren des Wohnmobils verändert worden sein.

Verschwörungstheorien ranken sich auch um den Mord an der Polizistin Michèle Kiesewetter, die 2007 in Heilbronn getötet wurde. Als Schützen gelten Mundlos und Böhnhardt, das Blut von Kiesewetter wurde an einer Hose von Mundlos im Katzenzimmer in Zwickau gefunden. Auch Zschäpe hat erklärt, ihre Gefährten seien die Täter gewesen. Doch noch immer wird von der Verwicklung eines amerikanischen Geheimdienstes geraunt. Das lässt sich bisher allerdings in keiner Weise belegen. Der einzige Bezugspunkt zum NSU ist, dass die getötete Polizistin wie Mundlos und Böhnhardt aus Thüringen stammte. Belastbare Hinweise, dass sie sich kannten, gibt es nicht.

Manchmal führen spektakuläre neue Spuren nur in die Irre. So wurde im Herbst 2016 plötzlich eine DNA-Spur entdeckt, die Uwe Böhnhardt mit dem Mord an der neunjährigen Peggy aus Oberfranken in Verbindung brachte. Das Kind war im Jahr 2001 spurlos verschwunden, seine Überreste im Sommer 2016 gefunden worden. Direkt am Fundort der Leiche wurde DNA von Uwe Böhnhardt gefunden. Erst Monate später stellte sich heraus, dass die Thüringer Polizei das identische Gerät am Fundort von Peggy und bei der Bergung der Leiche von Böhnhardt eingesetzt – und offenbar DNA übertragen hatte. Es war nur einer von vielen Fehlern, die den Behörden unterliefen – so wie bei der Phantomspur in Heilbronn, als verunreinigte Wattestäbchen die Polizei nach dem Mord an Michèle Kiesewetter auf eine falsche Fährte führten.

Auch nach dem Urteil im NSU-Prozess quält viele die Unsicherheit, ob entscheidende Zusammenhänge noch gar nicht erkannt worden sind. So ist die Herkunft der vielen Waffen des NSU immer noch weitgehend ungeklärt. Und auch die Frage, ob es Komplizen, Mitwisser oder Mittäter gab, die bisher nicht bekannt sind, ist unbeantwortet. Es bleibt nach fünf Jahren NSU-Prozess die Erkenntnis: Auch juristische Wahrheit kann immer nur eine Annäherung an die Wahrheit sein.

Das Gericht jedoch hat die Strafverfolgung weiterer Verdächtiger durch sein Urteil zumindest erschwert. Denn es hat André Eminger geglaubt, dem engsten Vertrauten des NSU, wonach er trotz seiner Nähe nicht wusste, dass Mundlos, Böhnhardt und Zschäpe Morde begingen. Deswegen wurde er auch von der Beihilfe zum versuchten Mord freigesprochen. Nun ist aber auch den anderen Beschuldigten, die nah am NSU dran waren, aber nicht so nah wie Eminger, nur noch schwer der Prozess zu machen. Gerade bei Emingers Frau Susann, der ehemals besten Freundin von Beate Zschäpe, hatten sich die Ermittler zuvor noch einen Erfolg versprochen.

Der NSU Prozess

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