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Die Protokolle

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Gerade um die Transparenz in diesem Mammut-Verfahren zu gewährleisten, sollte es eigentlich selbstverständlich sein, dass der Prozess per Video oder mit Tonband aufgenommen oder zumindest mitstenografiert wird – so wie das auch bei Debatten im Bundestag geschieht, die man dann auf der Homepage des Bundestags nachlesen kann. Oder wie am Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag, in dem zusätzlich zum Protokollanten sogar acht Kameras das Prozessgeschehen aufnehmen. Doch eine solche Dokumentation über den NSU-Prozess existiert nicht. Es gibt kein offizielles Protokoll dieses Prozesses, ein Umstand, der selbst vielen interessierten Beobachtern des Verfahrens nicht bewusst war und immer wieder ungläubiges Kopfschütteln erregte.

Es ist in Deutschland – ganz anders als in den USA – bisher verboten, Gerichtsverhandlungen in Ton oder Film aufzunehmen. Und der Vorsitzende Richter Manfred Götzl hat gleich zu Beginn einen entsprechenden Antrag der Verteidigung abgelehnt – damit, wie er sagte, die Zeugen nicht beeinflusst werden und frei aussagen könnten.

Im Gerichtssaal des Oberlandesgerichts München saßen zwar Protokollanten, aber sie schrieben nur auf, ob Zeugen erschienen und Angaben zur Sache machten. Was die Zeugen aussagten, lässt sich offiziell nirgendwo nachlesen – deswegen kam es bei der Bewertung von Zeugenaussagen schon während des Prozesses wiederholt zu Diskussionen. Verteidiger, Ankläger, auch die Richter schrieben zwar eifrig für sich mit, aber alle nur das, was für ihre eigenen Bedürfnisse wichtig erschien. Und jeder erinnerte sich anders. Schon im Auschwitz-Prozess, der 1963 begann, wurde beklagt, dass es kein offizielles Protokoll gab. Das Gericht selbst hat dann »zur Stützung des Gedächtnisses« Tonaufnahmen fertigen lassen. Zunächst sollten sie vernichtet werden, erst auf Protest jüdischer KZ-Opfer wurden sie aufbewahrt und später für die Wissenschaft freigegeben, mittlerweile hat sie die UNESCO als Quelle von welthistorischem Rang anerkannt. Aus dieser Erfahrung haben die deutschen Gerichte jedoch bisher kaum Lehren gezogen.

Wer sich später exakt erinnern will, was im wichtigsten Prozess der vergangenen Jahrzehnte wirklich passiert ist, welcher Zeuge gelogen und wer die Wahrheit gesagt hat, der musste sich die Mühe machen, Tag für Tag persönlich im Gerichtssaal A 101 des Oberlandesgerichts an der Nymphenburger Straße in München zu erscheinen und per Hand oder auf dem Laptop mitzuschreiben. Doch schon der Zugang zum Gericht war beschränkt: Die 50 Plätze für Journalisten wurden unter vielen Interessenten verlost. Dem Magazin der Süddeutschen Zeitung ist es gelungen, einen Platz zu erhalten. Daraufhin haben die Autoren Annette Ramelsberger, Wiebke Ramm, Tanjev Schultz und Rainer Stadler die Protokolle Tag für Tag, Jahr für Jahr, mit dem Laptop auf den Knien tagsüber mitgeschrieben und anschließend an langen Abenden sortiert, geglättet und verdichtet. Das Team hat keinen einzigen der Prozesstage versäumt, vom Beginn am 6. Mai 2013 bis zum Ende am 11. Juli 2018. So sind die NSU-Protokolle entstanden – eine Sammlung von Original-Zitaten und Dialogen als Dokumentation eines in der deutschen Nachkriegsgeschichte einmaligen Prozesses.

Die Protokolle sind nicht durch die interessengeleitete Sichtweise von Anklägern, Verteidigern oder Nebenklägern bestimmt, sie zeigen – soweit das möglich ist – ein unparteiisches, authentisches, weitgehend unkommentiertes Gesamtbild des Prozesses, die Essenz von Hunderten Verhandlungstagen. Redundantes wurde weggelassen, juristische Feinheiten auf das zum Verständnis unbedingt Nötige reduziert, stundenlange Befragungen von wortkargen Zeugen, die alle im Gerichtssaal als quälend empfunden haben, sind auf zentrale Aussagen und Dialoge reduziert. Wegen der historischen Bedeutung des Prozesses war den Autoren von Anfang an bewusst, dass sich die Protokolle nicht nur ans Fachpublikum wenden, sondern auch interessierten Laien zugänglich sein sollten. Allein deshalb erwies sich eine gewisse Straffung der Mitschriften als unumgänglich. Gleichzeitig war es natürlich das Ziel, alle für das Verständnis und die Bewertung des Verfahrens relevanten Inhalte zu dokumentieren, So wurde ein Umfang von knapp 2000 Seiten erreicht. Mehr wären nicht mehr lesbar gewesen, weniger hätten zu viele Lücken gelassen.

Wegen der Persönlichkeitsrechte mussten manche Namen von Zeugen abgekürzt werden, ihre Aussagen, auch ihr Sprachduktus aber blieben unverändert. Aus den Protokollen ertönt ein Chor unterschiedlichster Stimmen: Der Brandsachverständige redet nicht von Ruß, sondern von »thermischer Beaufschlagung«. Die Polizistin sagt, das Opfer sei »ex« gewesen, wenn sie erklären will, dass der Mensch schon tot war, als sie kam. Neonazis sprechen von »national« oder »normal«, wenn sie rechtsradikal meinen. Alle diese Facetten bilden die Protokolle ab. Diese Protokolle sind im wahrsten Sinne Mit-Schriften. Das Gericht hat den Audio-Mitschnitt des Verfahrens verboten. Die Inhalte der Protokolle wurden nach journalistischen Kriterien ausgewählt, nicht nach juristischen. Deswegen ist nicht jeder einzelne Antrag, der für Juristen interessant sein könnte, mit aufgenommen, dafür aber finden sich darin Dialoge, die die Dynamik der Beziehungen unter den Prozessbeteiligten zeigen.

Besonders wichtig war dem Autorenteam, die lebhafte Auseinandersetzung in diesem Prozess zu zeigen: die Wortwechsel zwischen Richter und Verteidigung, die Originaltöne der Zeugen, die beklemmenden Auftritte der Eltern von Opfern und Tätern, kurz: die akribische Suche nach der Wahrheit. So ist dieses Werk entstanden, das gewährleisten will, was eigentlich Aufgabe des Rechtsstaats wäre: jeder interessierten Leserin, jedem interessierten Leser die Möglichkeit zu geben, die Geschehnisse dieses fünf Jahre dauernden Verfahrens nachzulesen und sich anhand dessen ein eigenes Urteil zu bilden.

Der NSU Prozess

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