Читать книгу Der NSU Prozess - Tanjev Schultz - Страница 12
Zermürbung
ОглавлениеÜber mehr als fünf Jahre zog sich dieser Prozess der Erkenntnis – und er trat vom Stadium der Hoffnung auf Aufklärung allmählich in das Stadium der Zermürbung ein. Anfangs hofften noch alle darauf, dass die Hauptangeklagte Zschäpe ihr Schweigen brechen und die Hintergründe der Mordserie preisgeben werde. Dann brachten einzelne Angeklagte mit ihren Geständnissen Bewegung in den Prozess, die Hintergründe des NSU wurden sichtbar. Ein Brandgutachter führte mit mehr als 1000 Fotografien durch den ausgebrannten Unterschlupf und in den Alltag der Terrorzelle. Er führte das Gericht Bild für Bild von der Küche, wo im Kühlschrank noch der Prosecco stand, bis zum Katzenzimmer mit dem Kratzbaum für die zwei Katzen. Und er zeigte Fotos vom Wandtresor, in dem die Handschellen der getöteten Polizistin Kiesewetter lagen, davor im Brandschutt mehrere Waffen.
Auf die Zeit der erschütternden Berichte der Opferfamilien über ihr Leid und ihre Diskriminierung durch die Ermittlungsbehörden folgte die Zeit der juristischen Ränke, der Streit um Zschäpes Verteidiger, die sie ablehnte, aber nicht loswurde. Es begann ein ewiges Hin und Her, Befangenheitsanträge, Gegenvorstellungen, Fragenkataloge, Gutachter, Gegengutachter, Anträge zu Anträgen. Das Gericht ließ sich auf ein zeitraubendes Frage- und Antwort-Spiel mit Zschäpe ein. Der Vorsitzende Richter Manfred Götzl stellte ihr mündlich Fragen, ihr Anwalt schrieb alles mit. Nach drei, manchmal nach sechs Wochen präsentierte der Anwalt dann Zschäpes Antworten auf die Fragen. Dann schrieben die Richter mit. Dann folgten wieder Nachfragen, wieder drei Wochen Zeit, wieder die ausgefeilten Antworten. Spontane Reaktionen der Angeklagten waren so ausgeschlossen, dafür gab es juristisch ausgefeilte Erklärungen.
Als der Prozess begann, stöhnten die Verantwortlichen am Oberlandesgericht (OLG) München. Die Opferfamilien wollten am Prozess teilnehmen, doch der größte Saal war zu klein. Also baute das OLG den Saal aufwändig um, verbannte die Journalisten und die Besucher auf die Tribüne, schuf Platz für rund 60 Nebenklagevertreter, baute Leinwände ein, auf die die Zeugen projiziert werden konnten, damit auch alle sie sehen konnten. Und das Gericht begrenzte den Zugang zum Gerichtssaal: 51 Besucher hatten dort Platz und 50 Journalisten. In einem sogenannten Windhundverfahren mussten sich die Medienvertreter um die Plätze bewerben – wer als erster kam, hatte einen Platz. Innerhalb kürzester Zeit waren alle Plätze weg. Das war zu schnell für ausländische Medien. Erst das Bundesverfassungsgericht sorgte dafür, dass auch türkische Journalisten zum Zug kamen. Das Akkreditierungsverfahren wurde neu aufgerollt. Der Prozess begann holprig, der Beginn wurde um zwei Wochen verschoben.
So einen Prozess hatte es noch nie gegeben: fünf Angeklagte, 14 Verteidiger, 600 Zeugen, 500 000 Blatt Ermittlungsakten. Das Oberlandesgericht München trieb vor allem die Sorge um, die mehr als 60 Nebenklagevertreter würden das Verfahren unübersichtlich und undurchführbar machen. Doch die Sorge erwies sich als unbegründet. Die Anwälte der Nebenklage waren sehr diszipliniert und arbeiteten zielorientiert und konstruktiv. Es bildeten sich Teams, die sich arbeitsteilig an die Begleitung des Prozesses machten: Die Berliner um Sebastian Scharmer, Peer Stolle und Antonia von der Behrens, die Frankfurterin Seda Başay, die mit Mehmet Daimagüler aus Berlin zusammenarbeitete. Die Hamburger Thomas Bliwier, Doris Dierbach und Alexander Kienzle. Eberhard Reinecke und Edith Lunnebach aus Köln. Und die Münchner Yavuz Narin und vor allem Angelika Lex, die bis zu ihrem frühen Tod im Dezember 2015 die Nebenklagearbeit koordinierte. Zu ihrer Beerdigung kam auch Richter Götzl.
Manche der Nebenkläger machten sich selbst auf die Suche nach Beweisen, die das Bundeskriminalamt übersehen hatte. Und wurden fündig. Manche von ihnen schürften tief in der rechten Szene nach Mitwissern und Unterstützern des NSU und brachten erstaunliche Fakten zutage. Manche von ihnen fragten so pointiert, dass Widersprüche bei den Aussagen der Zeugen offen zutage traten. Aber es gab auch viele Nebenklage-Anwälte, die ihre Zeit im Gerichtssaal nur absaßen und die Sitzungsgelder einstrichen. Und einer vertrat gar eine Mandantin, die es gar nicht gab. Das flog auf, als diese Frau vor Gericht erscheinen sollte.
Die Nebenkläger trieben den Prozess voran, dagegen hielt der Streit um die Verteidiger von Beate Zschäpe das Verfahren über Monate auf. Im Sommer 2015 hatte Zschäpe plötzlich einem Justizwachtmeister mitgeteilt, sie habe kein Vertrauen mehr in ihre drei, von ihr selbst ausgewählten Verteidiger Wolfgang Heer, Wolfgang Stahl und Anja Sturm. Sie wollte zwei neue. Ihre alten überzog sie mit einer Strafanzeige und blickte sie von diesem Moment an nicht mehr an. Kein Gruß, kein Wort, obwohl sie Ellenbogen an Ellenbogen saßen. Das Gericht gestand ihr am Ende einen neuen Anwalt zu, Mathias Grasel. Ihren zweiten, Hermann Borchert, zahlte das Gericht nicht. Borchert erschien deswegen nur hin und wieder im Gerichtssaal, war aber gleichwohl der Mann, der Zschäpes Verteidigung lenkte. Weil er im Urlaub war, musste das Gericht im Herbst 2015 drei Wochen lang auf die avisierte Erklärung von Zschäpe warten. Gleichwohl mussten die alten drei Verteidiger weitermachen – das Gericht lehnte es ab, sie aus der Pflicht zu entlassen. Sie versuchten, Zschäpe zu verteidigen – obwohl ihre Mandantin das nicht wollte. Viele ihrer Anträge wirkten nach Ansicht von Prozessbeteiligten recht formalistisch. Einen Befangenheitsantrag stellten sie, weil ihnen das Gericht angeblich nicht genügend Vorschuss zahlte, einen anderen, weil auf dem Aktenordner eines Richters das Wort NSU stand – wo doch ihrer Ansicht nach noch nicht erwiesen war, dass es den NSU überhaupt gab. Alle diese Befangenheitsanträge wurden abgelehnt. Am Schluss war Heer, Stahl und Sturm wichtig zu beweisen, dass sie auch unter widrigen Umständen professionell weiterarbeiten. Schließlich stand auch ihre Reputation auf dem Spiel.
Andere Verteidiger wie die des früheren NPD-Funktionärs Ralf Wohlleben versuchten offensichtlich, mit deutlich rechts konnotierten Anträgen bei ihrer Klientel zu punkten. So beantragten sie zum Beispiel einen Demografie-Wissenschaftler zu hören. Er sollte erklären, dass der Begriff »Volkstod«, den Rechtsradikale häufig benutzen, nichts anderes als eine demografische Zwangsläufigkeit sei, wenn weiter Ausländer zuwanderten. Das Gericht lehnte diesen wie auch viele andere Anträge dieser Art ab. Im Plädoyer eines Wohlleben-Verteidigers bekam das Gericht dann sogar reihenweise Hitler- und Göring-Zitate zu hören. Die Anwälte von André Eminger schwiegen fast durchgängig, auch die von Holger Gerlach hielten sich sehr zurück. Und die Anwälte Johannes Pausch und Jacob Hösl, die den Aussteiger Carsten Schultze vertraten, begleiteten ihren Mandanten zu einem frühen und umfassenden Geständnis. Schultze belastete den Angeklagten Wohlleben schwer, deswegen versuchten dessen Anwälte, Schultzes Glaubwürdigkeit zu untergraben. Weder die Bundesanwaltschaft noch das Gericht ließen sich dadurch beeindrucken, der Angeklagte Schultze war mit seinen Aussagen einer der wichtigsten Zeugen des ganzen Prozesses.