Читать книгу Kinderlandverschickung - Ted Moré - Страница 11

Der Schönling.

Оглавление

Junka kam Ostern „Siebenunddreißig“ in die Schule mit einem eleganten Tornister aus dickem Leder. Der sollte wohl einige Jahre halten. Aus dem Tornister bammelte an einem gehäkelten Band der weiße Tafellappen den man brauchte die Schiefertafel im Holzrahmen zu putzen und für neue Buchstaben und Zahlen Platz zu schaffen.

Der Anfangsbuchstabe im Lehrstoff war das i und deshalb hießen „Erstklässler“ auch i-Männchen. I-Mädchen gab es nie. Da redete man herum mit i-Männchen-Klasse und so.

Der Klassenlehrer besaß sämtliche Sympathien von Junka und Junka mochte den Schulbetrieb und betrieb ihn mit Lust und Liebe wie man das allgemein erwartete.

Mit dem Schulbeginn endete für Junka die ungebundene Kinderzeit. Ab nun stand er in einer täglichen Pflicht wie die großen Leute auch. Er ging mit stolzgeschwellter Brust da hinein.

Eigentlich bestand eine Schulpflicht darin, dass sie mit sechs Lebensjahren begann und mit vierzehn Jahren endete. Demnach musste eine achtjährige Schulzeit da sein, aber das war so ein Ding das der Schüler Junka nie richtig in den Griff bekam.

Die Weißenburgschule hatte drei Stockwerke mit hohen Schulzimmern und in jedem Stockwerk zwei Klassen. Eine Klasse bekam Unterricht unter dem Dach, im vierten Stockwerk, aber „nichts Genaues konnte man nicht sagen“. Demnach hatte es im Haus nur sieben Klassen. Von einer achten Klasse hörte man nichts. Man sprach undeutlich von Pflichtjahr bei Mädchen, aber Buben wurden doch im Haushalt nicht gebraucht? Eine Frage die für Junka ungelöst blieb.

Die oberste Klasse, demnach die siebte, kommandierte ein Rektor Neuvater mit leicht gewelltem Haar und wie Junka feststellte leicht geölt. Der stand in geputzten Halbschuhen und seine Waden, die Gehwerkzeuge, umhüllten karierte Socken passend zu Knickerbockerhosen und einer Jacke aus dem gleichem Stoff, und an manchen Tagen war alles passend mit langer Hose. Das Oberhemd verdeckte größtenteils ein ärmelloser Pullover und eine Krawatte ahnte aus der spitzen Pullover-Öffnung.

An manchen Tagen, und davon gab es eine Menge, erschien der Rektor in einer braunen Uniform mit Schirmmütze und Stiefeln, von deren Vorschriften und Zugehörigkeit Junka nie erfuhr. Der Rektor demonstrierte irgendwie so seine Parteizugehörigkeit.

Dieser Rektor verbarg in seiner Hose einen Reitstock, wie die Buben sagten und man konnte sich ausrechnen, dass dieses Instrument auf eine stramme leichte Hose eingedroschen schmerzhaft, sogar sehr schmerzhaft sein konnte, musste oder sollte. Verschiedene Buben konnten ganze Arien davon singen, denn sie forderten immer mal wieder Prügel heraus. Dann zog dieser Rektor Schönling einfach den Stecken aus der Hose und drosch drauf los. Manchmal fand in Junkas Klasse auch so eine Art Standgericht statt, wenn die Buben der höheren Klassen irgendwas „ausgefressen“ hatten. Dann prügelten beide: Junkas Klassenlehrer und Rektor Schönling, aus den „bösen“ Buben Geständnisse heraus die teils unverständlich im Raum standen, aber offensichtlich den Lehrern Gewissheit brachten.

Und bei der Gelegenheit fiel Rektor Schönling besonders auf und erntete davon bei Junka einen Hass der Sonderklasse. Er mochte den Rektor nicht. Junka bekam nie Prügel, schon gar nicht von diesem Schönling.

Schulkinder bekamen in verschiedenen Läden, bestimmt in solchen die Schulartikel wie Ranzen, Tafeln, Schulhefte, Bleistifte und Radiergummi verkauften einen Stundenplan geschenkt. Den Stundenplan schrieb der eine oder andere Lehrer an die Tafel zum Abschreiben. Die Schulkinder erfuhren den Zweck des vorgedruckten Stundenplans mit der dekorativen Fassung und schrieben ab. Und damit hatte sich der Fall. Man konnte sich felsenfest darauf verlassen, dass dieser Stundenplan höchstens zur Dekoration irgendwo herumhing. Aber kein Mensch, nicht einmal der Lehrer, der Erfinder, kümmerte sich um das was er vorgegeben hatte. Der Unterricht hatte mit dem Stundenplan nichts zu tun.

Der schlimmste Punkt auf dem Stundenplan hieß Turnen. Turnunterricht, so hatte mal Wer verlauten lassen, oder gesagt, oder es hatte sich herumgesprochen, erteilte der Schönling. Da er aber Rektor war, irgendwelche Verwaltungsaufgaben hatte, fiel der Turnunterricht aus, das heißt „Er wurde ersatzlos gestrichen“ und fand nie statt.

Zu Ostern gab es Versetzungszeugnisse, dann im Sommer so eine Art Vorwarnung auf Weihnachten, und manchmal verdarben, in verschiedenen Familien, die Weihnachtszeugnisse die Weihnachtsstimmung.

Da kommt doch der Schönling in die Klasse an einem regnerischen Novembertag und verkündet er müsse Noten für Turnen erstellen. Das ginge ganz leicht: Ein jeder Junge möge Hacken zusammenknallen und den deutschen Gruß offerieren oder zelebrieren und danach gäbe es Zeugnisnoten.

Donna Clara nahm den Stundenplan wörtlich und Junka musste an dem Tag, an dem es Turnen hieß mit schlabbrigem Trainingsanzug und Turnschuhen in die Schule, denn wo sollte er sich umziehen ohne seine körperlichen Intimitäten einer breiteren Öffentlichkeit Preis zu geben.

Da waren die mit den Lederschuhen besser daran als Junka mit seinen „Pitschen“ wie er zu den einfachen Turnschuhen sagte. Es war nichts mit Hacken zusammen und so. Das gab ein befriedigend und das blieb ihm während seiner gesamten Volksschulzeit. Wie gesagt: Turnunterricht fand nicht statt.

Das, Junkas Schulanfänge, fanden zu einer Zeit statt da man noch evangelische und katholische Schulen hatte und Jungen und Mädchen in einer Klasse Unterricht bekamen. Also besuchte Junka die evangelische Schule, hatte selbstverständlich Religions-Unterricht vom Start weg und sein Klassenlehrer betreute demnach Rechnen, Lesen und Schreiben, Malen, Religion und Musik. Es wird ja im Nachhinein viel „gequasselt“, aber der Klassenlehrer der ersten Stunde in Junkas Schulzeit gehörte der NSDA-Partei an, war im Kirchenvorstand und arbeitete nebenbei für die NSV, der nationalsozialistischen Volkswohlfahrt. Er hatte also Beziehungen, wie der Volksmund in solchen Fällen behauptet in seiner Unwissenheit, und gehörte somit zu den Besseren. Doch er trug keine Uniform.

In einer gemischten Klasse ging es selbstverständlich gemischt zu und kleine Buben schätzen auch die Äußerlichkeiten kleiner Mädchen. Das reicht von der Kleidung bis zu den geflochtenen Zöpfen und dem Gehabe, und da schwärmt der eine für die Maria und der andere für die Elisabeth, und wenn sie dabei feststellen, dass der auch genau für die Maria und für die Elisabeth schwärmt, dann geschieht, dass was jeder Ziegenbock auf der Weide treibt: Man gerät aneinander.

Nun ist das ja nicht so, dass man als Junge schon für ein Mädchen schwärmt, aber man traut sich nicht einmal mit der zu sprechen, wenn es nicht unbedingt einen Anlass gibt. Auf dem Schulhof stehen Jungen für sich und Mädchen für sich. Das Ganze bezieht sich auf Distanzen.

Gut, im Kindergarten war das Zusammensein enger und da hätte Junka gerne mal bei irgendeiner Gelegenheit den Prinzen gespielt, dass aber mit einer schönen gepflegten Prinzessin am Arm. Nun, vielleicht gingen hier in der Schule, wo die Entfernungen zu den Mädchen sich vergrößerten, wahrscheinlich wollten die das auch so, Junka die gleichen Träume durch den Kopf. Vielleicht nahmen sie da auch realistische Formen an, was weiß man schon.

Von Ostern bis zum 1. Mai, dem Welttag der Arbeit, bleibt nicht viel Zeit, aber der Maibaum wird auf dem Albert-Leo-Schlageter-Platz in einem Loch verankert und gesichert. Die bunten Papierfetzen bekam er vor dem Aufrichten, und nun steht er da und wartet darauf besungen zu werden.

Da heißt es doch in der Schule man möge am 1. Mai morgens mit einer Kinderfahne an der Schule erscheinen. Gut. Junka besaß keine Fahne, und deshalb ging Donna Clara mit Junka in einen Laden eine solche zu kaufen. Junka wollte die mit dem schwarzen Schaft, dem goldenen Schaftaufsatz und dem lackierten Fahnentuch. Die kostet Einemarkundfünfzig. Das findet Donna Clara ist Zuviel. Nach einigem hin und her kommt die Verkäuferin mit einer größeren Fahne heraus an einer grüngefärbten Fahnenstange und die kostet fünfunddreißig Pfennig. Sie wird gekauft.

Am nächsten Morgen geht Junka pünktlich zur Schule. Wie üblich vor acht Uhr. Vor der Schule ist alles leer. Kein Mensch da. Dann kommt das schönste Mädchen aus seiner Klasse. Die Ruth. Dunkle Zöpfe. Schickes Kleidchen. Schwarze Lacklederschuhe. Weiße Strümpfe. Eine Fahne nach seinem Geschmack, doch die ist bereits etwas eingerissen.

Sie warten. Schließlich sagt sie: „Sind wir zu spät?“

„Nein, bestimmt nicht. Ist noch nicht acht Uhr.“

Die Uhr der katholischen Kirche ist gut zu sehen.

Es wird acht Uhr. Es kommt niemand.

Das Mädchen muss was loswerden: „Du hast eine schöne Fahne, wo hast du die her?“

Junka nennt den Laden. Es haut ihn fast um. Er hat die schönere Fahne! Nach einiger Zeit kommt eine Frau die immer mit einem Kleppermantel herumläuft und einen Rauhaardackel an der Leine spazieren führt und die Freundin einer Lehrerin ist mit der sie zusammenwohnt. Zusammen wohnt und lebt. Die sagt zu den beiden Kindern: „Ihr könnt nach Hause gehen!“ Weiter nichts. Kein Kommentar. Sie trennen sich, weil sie getrennte Wege haben. Aber in Zukunft sagen sie sich wenigstens „Guten Tag!“ Das macht Junka bei den anderen Buben etwas unbeliebt, denn ausgerechnet die schöne Ruth? Das bringt ihm in Zukunft Sprüche: „Der poussiert mit der Ruth! Die Ruth, die Ruth, die pudert sich vor Wut!“

Junka geht an diesem 1. Mai mit seiner Fahne nach Hause und findet zu den Maifeierlichkeiten auf dem Albert-Leo-Schlageter-Platz den angekommenen Mai mit Birken und Fahnen, Uniformen, einem Spielmannszug und dann singen alle Menschen „Der Mai ist gekommen!“

Die Fahne aber findet einen Platz in der Ecke des Korridors der Wohnung wo sie für immer bleibt, denn sie wird nicht mehr gebraucht. Von der Aufforderung am ersten Mai vor der Schule zu erscheinen redet keiner mehr. Es bleibt ein Geheimnis. Quintessenz: Man sieht in vielen Filmen Kinder die mit Fahnen winken. Sie winken irgendwie immer und überall, aber nicht da wo Junka ist oder sich ansonsten aufhielt. Das muss in einer anderen Welt gewesen sein. Oder aber: Es hat einer soundso viel Kinder auf einen Klumpen befohlen und dann haben die auf Vorrat für alle Propaganda-Filme gewinkt, so ähnlich wie Opa Witten behauptete, dass bei rauschendem Beifall im „Radio“ Pottdeckel aneinander gekloppt werden. Da kamen Junka Bedenken in verschiedenen Richtungen.

Es gibt Unterschiede an Menschen so erfuhr Junka in seiner neuen Umgebung. Und etwas ganz Neues kam auf den kleinen Jungen zu, denn in dieser Umgebung am Albert-Leo-Schlageter-Platz gab es die eine oder andere Hausfrau die ihn befragte ob er für sie mal eben nach „Otto Mess“ laufen würde ein halbes Pfund Zucker und ein Pfund Mehl zu kaufen. Das tat er dann auch. Zur Belohnung gab es einen oder zwei Pfennige, und das war für einen kleinen Jungen ein Vermögen. Geld an und für sich. Geld von dem niemand wusste bis auf den Geber, und er konnte darüber verfügen und sich in der Drogerie Salmiakpastillen kaufen, oder „Bömbskes“ an der „Bude“ oder beim Bäcker, wo es die „meisten“ gab. So etwas sprach sich bei den Kindern herum. Fünf Pfennig war die billigste Portion Eis im Hörnchen.

Und auf dem Wochenmarkt?

Die Händler lernten ihn im Laufe der Zeit kennen und schenkten ihm einen Apfel, eine Birne, eine Apfelsine. In dieser Richtung verwöhnte man Junka, An Obst mangelte es nie. Für Vorräte im Haushalt sorgte Donna Clara.

Und es kommt eine Neuerung ins Haus: Ein Radio. In einem Kasten sind die Röhren und vorne ist eine Skala, wo man mit einem Knopf Sender suchen kann und laut und leise einstellen soll. Davon führt ein Draht zu einem anderen Kasten in dem der Lautsprecher ist. Für die Erdung schließt man einen dünnen Antennendraht an den Wasserhahn an. Es kommt noch eine Art Antenne dazu die vom Fensterkreuz zu einem Pfirsichbaum führt und einen weiteren Empfang verspricht.

Radio ist Junkas neue Liebe, denn da kommt Musik die man sonntags am Nachmittag einschaltet. Man hört auch samstagnachmittags „bunte Nachmittage“. Da werden Witze erzählt von einem Hahn der Eier legt, von einem Mann der von seiner Frau vermöbelt wird. Viel mehr versteht Junka nicht, aber es werden zwischendurch Schlager im Fox-trot-Rhythmus gesungen, und ein Willi Schneider wird von Donna Clara immer wieder gerne gehört, denn der singt Lieder „Vor meinem Vaterhaus steht eine Linde“ und so.

Sonntags geht Wadeck manchmal auf den Fußballplatz. Junka findet es da langweilig. Natürlich wird er hier und da mitgenommen, aber bald stellt Wadeck die Frage: „Hast du Lust?“ Und die hat er nicht, denn erst wird immer Handball gespielt und dann kommt Fußball und da muss man sich aufregen.

Meistens geht man sonntags irgendwohin wo was los ist. Oft auch auf den Friedhof. Da kauft Junka vor dem Tor von einem Gärtner Blumen. Frisch aus dem Blumengarten gepflückt. Blumen für Omas Grab. Also für fünfunddreißig Pfennig gibt es einen dicken Strauß gemischter Blumen. Zum Herbst hin sind es dann Astern. Das Grab von einer Tante Luzie, einer Schwester von Wadeck wird nicht mit Blumen bedacht.

Man dreht noch eine größere Runde spazierenderweise und landet irgendwo im Sommer in einer Gartenwirtschaft wo Musik ist und für Kinder eine Schaukel und ein Karussell das man schieben muss. Also man schiebt mit Schwung an und springt auf. Eigentlich war diese Gaststätte Junkas Lieblingsaufenthalt. Erstens konnte man da, als Kind, den Musikern auf die Finger schauen und zweitens versammelten sich da immer eine illustre Schar von Kindern die gerne Karussell fuhren. Die anderen Kneipen waren nicht kindgemäß eingerichtet.

Eine von diesen Gartenwirtschaften hat einen Affenkäfig und eines sonntags sind dann die Affen ausgebüxt in die hohen Kastanienbäume der Gastwirtschaft. Das gab ein beträchtliches „Hallo“, und immer wieder sahen viele Leute hoch in die Bäume und sagten: „Da ist einer!“

Und in der Schule erfuhr Junka, dass die Engländer „unsere Kolonien“ geklaut hätten und dass Österreich heim ins Reich geholt werden wolle, und die Sudetendeutschen auch.

Und Junka erinnerte, dass so einer aus dem Sudetenland manchmal besoffen ist, Junka hielt das für eine Art Hessenland, denn so sprachen irgendwie die großen Leute. Junka fand den Besoffenen lustig, weil er Laute spielte und dazu Lieder sang in irgendeiner merkwürdigen Sprache die von Lehrern als Mundart bezeichnet wurden.

Opa Witten sprach mit Oma Witten plattdeutsch, aber das konnte Junka verstehen. Er verstand und sprach auch polnisch, doch das solle er nun nicht mehr tun wurde ihm empfohlen, aber bestimmt nicht verboten, denn in Witten gab es eine Familie die ihn zu sich holte und dann polnisch sprach und sich freute, dass er das auch konnte.

Nun hatte Junka, wenn er aus dem Schlafzimmer-Fenster sah immer eine Art Park vor der Nase. Wiese, Blumenrabatten, Flieder, hohe, spitze Pappeln, Koniferen. Muttertags sahen die Fliedersträucher am Morgen sehr gerupft und geplündert aus. Da muss man wohl auf den Trichter gekommen sein, dass der Park zu nackt aussah. Deshalb erschien eines Tages eine Bautruppe und baute ein Ehrenmal mit drei schmalen Türmen in den Himmel. Die Aufschrift aus eisernen Buchstaben: „Den Toten zum Gedächtnis, den Lebenden zum Vermächtnis.“

Am Tag der Einweihung kamen viele Uniformen, auch eine Formation der Wehrmacht mit Gewehren. Musikkapellen spielten Märsche bis alle da waren. Dann wurde geredet. Es wurden Kränze niedergelegt. Man sang das Lied von Ludwig Uhland „Ich hatte ‚einen Kameraden“ und es wurde dreimal in die Luft geschossen, dann kam Alles über und SA marschiert. Und Süd hatte ein Ehrenmal zu dem immer einmal im Jahr hin marschiert wurde.

Ein Kallemann in der Nachbarschaft baute das Ehrenmal aus einer Zigarrenkiste nach und malte mit großen Buchstaben die Schrift von Vermächtnis auf. Dann sammelte er Kinder die zu den Einweihungsfeierlichkeiten kamen und es kam ein bunter Haufen, auch Junka, und jeder hatte irgendwas Soldatisches dabei, aber zumindest einen Holzsäbel. Einer setzte einen „echten“ Stahlhelm aus Pappmaché auf sein Haupt. Man schoss mit Patrönchen-Revolvern und sang auch.

Junka baute auch ein Ehrenmal und lud zur Einweihung ein, aber am nächsten Tag war das Ehrenmal zerstört. Er verdächtigte gleich diesen Kallemann und brachte dessen Ehrenmal auch zum Einsturz und so. Er klaute aber nicht das herumliegende, wichtige und dekorative Moos, das er genau wie Kallemann von Schimmelsacks Hühnerstall gepflückt hatte. Das artete zu einer Kampfansage aus und Kallemann war mit Tünnes bekannt der von Geburt an für die linke Hand nur zwei Finger vorwies, also einer der einen Daumen und einen kleinen Finger für sein weiteres Leben mitbekam. Der hielt diese Hand immer erschreckend kleineren Kindern vor die Nase und war deshalb gefürchtet.

Junka, und Achim sprachen da schon von „Unsann Klupp“, konnten jedoch nur auf Menne und Tajo zurückgreifen, neben seinem Adjutanten Achim. Der brachte dann noch Jüppgen mit, der nur zwei Haustüren weiter wohnte. Mehr war da nicht.

Überhaupt „Cliquenbildung“. Achim kam auf den Trichter und sprach von „unsann Klupp“. Das wurde ein Begriff, denn der „Klupp“ befasste sich nicht nur mit dem beliebten „Soldatenspiel“ zu dem man ein Schulterstück, oder eine Fangschnur aus weißer Gardienenkordel oder eine ausgediente Schreckschusspistole und ähnlich vorwies, da wurden in den meisten Fällen Knüppel und Stöcke eingesetzt. Da gab es feine Unterschiede. Es wurden Stöcke als Gewehre und Säbel gebraucht.

Die Vorbilder zu den Spielen fand man im Kino und es wäre seltsam gewesen von einem Film zu sprechen. Man berief sich auf Kino mit „Onkel Fritz“ oder bezog sich auf im „Alten“ oder im „Neuen“, denn der Kinobesitzer war inzwischen so reich, dass er sich zwei Kinos leisten konnte. Das „alte“ stand dabei auch schon auf dem Grundriss eines noch älteren Kinos. Da klebten noch Tapeten und Bemalungen an Nachbarshäusern.

Überhaupt muss an dieser Stelle bemerkt werden, dass Junka nie von der Düppelstraße aus jemals einen Kinobesuch machte. Hier aber, am Albert-Leo-Schlageter-Platz holte er das bald nach, denn das neue Kino zeigte den Film „D 3 88.“ Otto Wernicke spielte den echten Werkmeister und man baute Flugzeuge. Mehr war da nicht. Der Film endete mit dem Absturz eines Doppeldeckers und Otto Wernicke konnte wieder in anderen Filmen sein deutsches Gesicht vorzeigen.

Anders Kino mit Onkel Fritz.

Der besagte Onkel Fritz verteilte vormittags vor verschiedenen Schulen Zettel und lud somit ein zu einem Kinonachmittag mit vielen Filmen und zusätzlich „Karl renoviert seine Wohnung“. Also Karl schickt seine Frau mit der Frau von seinem Freund weg, denn sie wollen die Wohnung renovieren. Die Frauen verreisen. Die zwei Männer gehen auf den Markt und kaufen ein. Sie kaufen auch eine Gans. Die wird dann einfach in die Bratröhre gesteckt bis sie qualmt. In der Zwischenzeit rühren sie Wannen und Kübel mit Farbe an. Auch eine Leiter steht erwartungsvoll mitten im Raum. Es wird die Decke gemalt. Da fällt einer in das Fass mit weißer Farbe, denn der Film kennt noch keine anderen Farben außer schwarz und weiß. Die Nachbarin kommt dazu und fällt in das Fass mit schwarzer Farbe. Dann werden die Wände und die Nachbarin tapeziert und alles in Farbe getaucht bis die Damen aus dem Urlaub zurückkommen und die Hände über ihren Köpfen zusammenschlagen.

Dann kommt ein Kulturfilm wie man Zahnpasta in die Tube fabriziert. Und nun ein Stück „Pat und Patachon -Film“, dann wieder ein Autorennen und noch einmal ein Stück Film mit „Pat und Patachon“. Die sind die Helden der Jugend, denn die anderen wie Charlie Chaplin und Buster Keaton sind verboten. Ersatz bieten gekonnt Hans Moser und Theo Lingen. Auch Heinz Rühmann hat einen Ruf als Lustig- Macher, aber den mochte Junka nur in der Rolle „Feuerzangenbowle“, „Der Mann der Sherlock Holmes war“ und „Lumpazi Vagabundus“. „Quax der Bruchidiot“, wie die Buben sagten, fand Junka affig und aufgesetzt.

Das zeigte Onkel Fritz nicht. Dafür kostete bei ihm der Eintritt nur zehn Pfennige und im „Kino“ fünfunddreißig Pfennige auf dem billigsten Platz. Junka bemühte sich immer 1. Platz zu sitzen. Das kostete zwar zehn Pfennige mehr, aber man fühlte sich.

Und dann kam der Film „Trenck der Pandur“ und Hans Albers spielte darinnen eine dreifache Rolle. Er spielte sich, seinen Vetter und seinen Vater. Von da an wollten alle Buben Trenck der Pandur sein. Hätten man nichtverklärenden Geschichtsunterricht gehabt, dann hätte man von den windigen Panduren gehört und sich distanziert. So aber pfiff man die Titelmelodie und lies Buben dazu marschieren. Irgendeine von den Großschnauzen, den älteren Buben, nahm Parade ab.

Heini Blanke mochte Junka, und als der ihn in Herne besuchte schickte Onkel Heini ihn ins Kino. Da lief der Film „……schlagen sich durch!“ Es hätte heißen müssen: „Dick und Doof schlagen sich durch!“ Das ging nicht, weil Doof als Jüdisch galt, obgleich man alle eineinhalb Meter lesen konnte: „Emil ist doof!“ oder wer sonst gerade verdummdeiwelt werden musste. Übrigens: Es war genau dieser Film mit den besonderen Slap-Sticks wo Doof aus einer Faust eine Pfeife formt und die mit Tabak füllt. Dann steckt er den Daumen als Pfeifenmundstück in seinen Mund, schnippt aus seiner anderen, zur Faust gemachten Hand den Daumen heraus wie wenn ein Feuerzeug aufspringt, und siehe da: Der Daumen brennt. Damit zündet er die Pfeife an und raucht genüsslich. Dick probiert das auch und schreit Zeter- und Mordio als sein Daumen brennt.

Und einen ähnlichen Film mit vollkommen anderen Gegebenheiten, und nicht wie bei Dick und Doof im Wilden Westen, sondern unter Anderem in einem Schmierentheater und in einem Mädchen-Pensionat wurde mit Pat und Patachon gedreht.

In diesem Film, so stellte Junka fest, dass Onkel Fritz immer nur Ausschnitte aus eben diesem Film als Einzel-Kunstwerk verkaufte. Junka verknallte sich in „Dick und Doof!“ Er fand sie göttlich. Lehrer sagten undeutsch! Mussten sie auch, denn es stimmt, aber auch wenn es lustig ist. Es ist unpädagogisch, aber lustig. Mit dem Finger in andrer Leute Augen stechen? Das tun Zuhälter, die das reichlich üben. Es gibt dann noch, dass man wen der „einem an die Wäsche will“, sachlich und gekonnt gegen die Schienenbeine tritt und dann „Reißaus“ nimmt. Das ist immer besser als sich auf eine Hauerei einlassen. Noch besser ist: Man geht solchen, angriffslustigen, halbverblödeten Zeitgenossen aus dem Weg.

Junka vergaß bald die Zeit in der Düppelstraße, das Geschrei der Erwachsenen mit: “Gleich kisse n Paah inne Fresse!“ und auch „Dowe Sau!“ Er vergaß auch Mädchen die unter ihren Rock griffen, ein gummibewehrtes Schlüpfer Bein lüfteten und mit gezieltem Strahl irgendwohin pinkelten, während Buben schon mal gezielt auf andere Kinder pinkelten und sich nicht schämten.

Das gab es nicht am Alber-Leo-Schlageter-Platz. Gut, man verglich schon mal: „Zeig mal Dein!“, aber sonst? Mit Mädchen wurde selten gespielt. Die spielten für sich, kamen höchsten Mal beim Brennball dazu, und damit hatte sich der Fall.

Gut, da war Gitti. Die himmelte man an, weil sie immer einen Hund dabeihatte. Das war was ganz Besonderes. Einen Hund besitzen? Das Größte. Und dann noch einen der immer dabei war und selten zu Hause bleiben musste.

Erwachsene die sich anbrüllten? Vielleicht ein paar Besoffene, aber bestimmt nicht am Albert-Leo-Schlageter-Platz. Da lernte ein kleiner Junge sich zu benehmen, wenn er auch bisweilen einem anderen Buben irgendwas Unangenehmes versprach, aber zur Ausführung kam selten was.

Man braucht aber bestimmt nicht weit zu laufen, genau genommen nur ums Eck durch die Sedanstraße mit dem Kindergarten bis zur Katholischen Kirche vor deren Gegenüber zwei Häuser mit sechs Stockwerken standen mit einer Menge an kinderreichen Familien. Diesen Häusern gegenüber steht der „Kölner Hof“ mit großem Saal für alles Mögliche, und schon war ein gewisser Ruf da. Da gab es auch einen guten Bäcker zu dem man Kinder zum Einkaufen schickte und auf dem Eck einen Kolonialwaren-Laden, und dazu noch eine Kneipe und ein anrüchiges „Café Hemd hoch!“ Und rundherum hatte es eine Menge Kinder und etwas aufgedonnerte Damen die tagsüber in der Kneipe saßen. Das freut die Wirte, denn dann läuft der Umsatz.

Nur, die Kinder betrachteten sich als Clique, den Platz mittendrin als ihr Eigentum. Folglich war es gefährlich da Brötchen zu holen, denn es drohte die „Marien-Clique“ die als Anführer einen Hilfsschüler namens „Dschideck“ hatte der mit einer Pistole, einem Browning nachempfunden, herumfuchtelte und die mit einer abgespielten Grammophonnadel lud. Gut, wenn er die Pistole abdrückte fiel die Grammophonnadel vorne raus. Mehr war nicht.

Und es kam der Tag an dem Junka mit „Unsann Klupp“ in dem Gelände vor der Spichernstraße, die damals etwa mit zehn Häusern und einer Lagerhalle bebaut war, an einer Höhle gruben, weil da die eine oder andere Baufirma gelben Sand zum Mauern holte und dass Grundwasser einen Teich zum Plantschen oder Spielen bildete. Da stand plötzlich die Marien-Clique da und wollte eine Hauerei anfangen und Junka gefangen nehmen mit vorgehaltener Pistole. Junka besaß eine durchgebohrte Schreckschusspistole, ein reines Dekorationsstück, denn der Lauf war durchgebohrt, irgendwer hatte eine sechs Millimeter Patrone abgefeuert und die Kugel war seitwärts aus dem Lauf ausgebrochen. Nun war die Pistole eine Dekoration, sah aber auch sehr dekorativ aus. Junka besaß demnach auch eine Pistole, mit dem Zweck Löcher in die Hosentasche zu bohren, weshalb sie zu Hause in einer Schublade seines kleinen Tischchens lagerte. Plötzlich stand dieser „Dschideck“, wie man zu diesem Typen sagte, mit der Pistole vor ihm und tat irgendwie wichtig. Er redete irgendeinen Unsinn und dann, ob er Junka „eine kleben“ wollte oder was, Junka ließ nichts zu, reagierte schnell, schob seine Linke vor, haute seinem Gegenüber eins auf die Backe, griff sich dessen Pistole, schwang sich unter einen nebenstehenden Stacheldraht hindurch und rannte davon. Der Dschideck schien perplex und nahm keinerlei Verfolgung auf.

Der „Klupp“ bestand an diesem Tag aus fünf oder sechs Mitgliedern und die folgten Junka Richtung Heimat.

Da bestaunten sie alle Junkas Beute. Es war auch eine Schreckschusspistole, aber wer hatte schon dazu Munition. Es hingen da so Parolen bezüglich irgendwelcher Verbote in der Luft. Zugegeben große Jungen bekamen aus irgendeiner Quelle Platzpatronen und die knallten, wenn sie mit der Flitsche auf steinernen Untergrund flitschten. Das mache einen Schuss-Lärm und man guckte sich vorsichtig über die Schulter ob nicht ein Polizist in der Nähe ist. Eigentlich ist das ein teurer Spaß und zweitens: „Wozu?

Aber zurück zur Pistolen-Eroberung.

Die Überraschung kam am nächsten Tag. Da erschien bei Junka eine Abordnung von der Marien-Clique und bat ihn die Pistole zurück zu geben, denn sonst bekäme Dschideck von seinem größeren Bruder, dem sie gehöre, den Arsch voll. Man wolle auch in Zukunft keinen Ärger machen. Junka gab die Pistole zurück und hatte in Zukunft keinen Ärger mehr mit der Marien-Clique. Das war eigentlich das einzige Mal in seinem Leben das wer so großzügig Wort hielt. Es war auch was Besonderes, denn normalerweise betraute man für Sowas einen Erwachsenen und der ging dann hin und quasselte den Leuten den Buckel voll. Hier aber machten Kinder unter sich aus, und das war sehr neu.

Er traute ihnen, den Buben, und sie ließen ihn zum Bäcker gehen und in Ruhe.

Die Sedanstraße begann auf der rechten Seite am Anfang mit einem sehr großen Garten. Dann folgten vier oder fünf Häuser furchtbar ähnlich und viereckig, wo vornehmlich „bessere“ Leute wohnten. Da wohnte ein höherer Offizier der das Pour le Merit trug, dass er im ersten Weltkrieg verliehen bekam und der war Rektor der katholischen Schule. In einem Haus wohnte ein Studienrat mit vielen Kindern und einer Frau die nie ohne Hut mit Schleier aus dem Haus ging und viel in Cafés herumsaß.

Überhaupt die Frauen.

Wenn sonntags die Kirche mit ihren Glocken zur Messe mahnte, dann zogen viele Frauen von der Ruhrstraße am Alber-Leo-Schlageter-Platz vorbei in die Marienkirche. Manche gingen in der alten Tracht aus Westpreußen, Weißrussland, Masuren und Oberschlesien. Andere verkleideten sich sonntagsmässig mit Hut und Schleier, das sehr in Mode war. Die Männer zogen traurige Anzüge an, denn Dunkel galt als vornehm. Außerdem ging man nicht ohne Hut, damit man den ziehen konnte zum Grüßen. Die Trachten bestanden aus Röcken bis fast auf den Boden und vornehmlich aus Schultertüchern die man bei schlechtem Wetter über Kopf und Schultern drapierte. Alles aus gewebtem Tuch und aus Wolle.

Da war noch ein seltsamer Brauch der Junka geläufig war. Mussten diese Frauen mal „Pipi“, dann gingen sie an den Wegesrand wo gewöhnlich höheres Gras wuchs und, wenn man genau hinschaute, dann „piselte“ es. Das ging, weil die Unterhosen der Damen in der Mitte, im Schritt, offen waren.

Wenn Damen aufs WC gingen rauschte es meistens gewaltig. Das zwang einen erfinderischen Menschen die Tür zur Herrentoilette, in einem Lokal in Essen, mit „Eingang zur Plätscherquelle“ zu bezeichnen. Bei der Damentoilette stand geschrieben: „Eingang zu den Niagara-Fällen“.

Junka hatte sich bald eingelebt in das Kinderleben am Albert-Leo-Schlageter-Platz.

Kinder haben manchmal Lust wen zu ärgern was in der Regel drastisch bestraft wird. Nicht aber wenn das Opfer sich nicht so sehr wehren konnte. Zu diesem Zweck gab es einen Gustav der rein körperlich nicht den „zugelassenen“ Regeln entsprach. Er schaute etwas dumm aus der Wäsche, sprach nicht astrein, ging immer mit einem Stock, und musste zu Hause für seinen Vater Margarine mit dem Handwagen ausfahren. Nicht jeden Tag, aber oft. Auf- und abladen schaffte er auch, und wenn er nicht richtig spurte dann traktierte ihn der Alte mit Backpfeifen und „Gustav! Gustav!“. Nun, die Kinder liefen in die Nähe des Gustavs, der hatte noch gesunde Brüder, und dann sagten sie zu ihm: „Gustav, wenn ich euern Herbert schnapp, dann!“ und sie machten die Bewegung des Halsabschneidens. Dann nahm Gustav seinen Krückstock und lief auf die Kinder los. Die nahmen Reißaus und reizten ihn weiterhin bis sie dessen überdrüssig wurden. Das geschah meistens bald und immer mal.

Es geschah auch etwas wiedersinniges mit einer Mathilde die eigentlich immer nur böse guckte von sehr minderem Verstande nur böse Äußerungen tat, aber im Kindergarten eine Art Aufenthaltsgenehmigung hatte und manchmal nur für kurze Zeit abgegeben wurde. Sie zankte offensichtlich mit Kindern gerne. Da tat Schwester etwas Merkwürdiges: Sie verkleidete Mathilde, zog ihr ein Paar Strümpfe über die Hände und ließ sie als Osterhasen vorführen und auf einem Stuhl Platz nehmen. Junka verstand überhaupt nicht das: Warum? Nikolaus, Weihnachtsmann, Geburtstagsmann, alles klar! – Aber Osterhase?

Das waren schon merkwürdige Dinge die da geschahen.

Da hatte sich bei den großen Leuten ein seltsamer Brauch eingeführt, denn manche betonten bei der Zahl „zwei“ des besseren Verständnisses halber „Zwo“ und Junka hatte einen Klassenkameraden, mit Namen Rudi, der machte sich besonders bemerkbar und verkündete sein Onkel sage sogar „Dro“. Damit erntete er allgemeines Unverständnis. Es mag so oder so sein: Ein paar Wochen später war dieser Junge tot. Einfach tot. Krank? Keine Ahnung. Tot.

Der Klassenlehrer verkündete das Rudi tot sei und man werde die Beerdigung begleiten, ob man denn zu Hause nach einer Spende zu einem Kranz für den Rudi nachfragen wolle. Man war sich einig, wegen der Einmaligkeit und wegen des Besonderen und die Klasse sammelte insgesamt zwölf Reichsmark und noch was zusammen. Zwei Schüler der oberen Klasse gingen diesem ersten Schuljahr voraus und trugen den Kranz. Man marschierte vor dem Leichenwagen.

Und dann?

Da gab es Aufläufe von Menschen mit Hüten auf dem Kopf die mit Landmessgeräten auf dem Albert-Leo-Schlageter-Platz herumliefen und was auf irgendwelche Papiere schrieben. Nach einiger Zeit fuhren Dampfmaschinen auf und Arbeiter arbeiteten mit Schaufeln, Hacken und Pickeln und bearbeiteten den unschuldigen Erdboden und huben ihn aus und schaufelten Boden oder Erde auf bereitstehende Pferdekarren, dass die den Dreck, wie wir Kinder sagten in die Winkelstraße fuhren die den Helbach kreuzte, und wo auch eine Kippe (eine Aschenkippe) sich angesiedelt hatte. Da entstand so zum Helbach ein erhöhtes Ufer.

Und als der Alber-Leo-Schlageter-Platz tiefer gelegt war, kamen wieder Fuhrwerke und füllten ihn mit Schotter aus Bergbauabfällen mit schwarzen, harten Steinen gemischt mit schwarzer Asche wie sie anfällt in Kokereien. Wenn die Arbeiter Feierabend machten kamen die Kinder und untersuchten alles ganz genau, weil Kinder eben neugierig sind, und da waren in der schwarzen Asche irgendwelche Steine die nach Verschmelzen aussahen. Ein gewisser Pilo, der zwar mit Junka in eine Klasse ging, dessen Zwillingsbruder, seltsamerweise mindestens einen Kopf als er, ebenso „kleben“ geblieben war, erzählte das diese schwarzen Klumpen aus Eisen seien und man sie dem Klüngelkerl verkaufen könne. Da füllten sich die Buben die Hosentaschen damit, gingen heim und entleerten sie an geheimen Orten und holten mehr und mehr davon. Junka hatte fast einen Marmeladeneimer voll, da stellte es sich heraus, dass die Klüngelkerls, die Rohproduktenhändler, das Zeug nicht annahmen. Es waren eine Menge Jungen sehr enttäuscht.

Mit Harken und Schaufeln schafften Menschen dem Platz eine glatte Oberfläche. Damit nicht genug: Es kamen Dampfwalzen und festigten und glätteten den Platz. Dann rollte ein gewaltiger Ofen an in dem Teer gekocht wurde. Dieser Teer vermischte sich mit Schottersteinen die irgendwie aus größeren entstanden die man zertrümmerte. Der Platz bekam eine Teerauflage. Die wurde erneut gewalzt von den Dampfwalzen. Kinder die das Zeug anfassten bekamen daheim die Hände mit Bimssteinen geschrubbt. Teer klebt erbärmlich fest.

Nach einigen Tagen rollte und krachte noch eine Maschine dazu und die kochte Asphalt wie die Kinder erfuhren. Dann mussten Dampfwalzen eine astreine, glatte Oberfläche walzen und der Rollschuhplatz war fertig, so erfuhren die Menschen hinten rum und irgendwie, denn nicht ein Jeder hielt sich eine Zeitung. Und dann kam der Tag der Einweihung. Tribünen baute man rundherum auf. Fahnenstangen rahmten ein und Fahnen flatterten im Wind. Musik marschierte daher und der Rollschuh-Verein aus Herne kam mit großem Gefolge, mit Rollschuhläufern und Mannschaften die das Rollhockey spielten und mit schicken Paaren in schicken Klamotten die Paar liefen. Die Damen mit kurzen Röckchen und die Herren mit weißen, langen Hosen. Musik erscholl über Lautsprecher und Redner mussten Reden halten bevor der Vereinsvorsitzende, wie die Buben feststellten ein geborener Poussierstängel, die Eröffnung mit einer Schönen tanzte. Sie tanzten Walzer.

Der Tag füllte sich. Die Köpfe füllten sich mit Träumen um und von Rollschuhen. Dieser Laden da, der verkaufte Sammeltassen und andere Geschenke die man Frauen zum Muttertag und zum Geburtstag machte, der verkaufte Rollschuhe. Drei Sorten. Solche die man an Schuhe schraubte, dann anschnallbare mit Kugellager und billige mit „Eierkugellager“. Letztere kosteten dreifünfundachtzig Reichsmark das Paar und waren auch wie die besseren in Schuhgrößen zu verstellen vermittels Schraube und Schraubenschlüssel.

Zugegeben Donna Clara hielt ihren Haushalt in Schuss, wie das so heißt und mit Opa Wadecks fünfzig Reichsmark pro Monat, Wadecks Lohn von durchschnittlich zweihundert im Monat und dem was sie hinzu verdiente durch ihre Tätigkeiten als Verkäuferin bei den Gemüsehändlern kommt sie gut zurecht, und man spart nicht beim Essen. Das unter keinen Umständen. Nur für Dinge nebenher, wie Rollschuhe für Junka, da geht kaum was. Junka sollte wohl abwarten bis Geburtstagsmann oder Weihnachtsmann, wobei der Geburtstagsmann sich langsam verabschiedete!

Unverhofft kommt oft! Das ist auch so ein Spruch. Sonnabend. Markt ist zu Ende. Da kommt Onkel Heini, nicht eigentlich ein Onkel, aber ab und zu muss Donna Clara für ihn auf dem Markt verkaufen. Wadeck guckt dann etwa so von links nach schräg, aber sonst hat er nichts dagegen. Also, Onkel Heini hat einen Haufen Blumensträuße von blauem Flieder. Die hat er nicht verkauft und am nächsten Tag ist Muttertag, und der sagt zu Junka: „Kannze verkaufen. Das Geld kannst du behalten! Fünfzehn Pfennige für den Straus.“ Junka überlegt nicht lange, nimmt fünf oder sechs Blumensträuße auf den Arm und geht gleich in die Sedanstraße ins erste Haus, und, was Wunder, im dritten Haus hat er keinen Straus mehr auf dem Arm und er geht nach Hause und holt Nachschub. Er nimmt die nächsten Häuser und biegt dann in die Marienstraße und auch in die Häuser der Marien-Clique. Junka verkauft und die Clique beobachtet ihn und begleitet ihn. Junka muss schon wieder nach Hause Nachschub holen. Zwei große Jungen begleiten ihn und nehmen den Rest auf ihre Arme. Dann verteilen sie sich und wechseln die Straßenseite. Die Buben verkaufen auch, denn sie kennen noch den und den und für so wenig Geld kann man immer verkaufen und sie tun das auch.

Junka hat mitgerechnet. Er hat das Geld in seiner Tasche nachgehalten. Er hat einen Geldbetrag von über fünf Reichsmark zusammen. Da kommen die zwei Jungen zu ihm und sie haben auch verkauft.

„Gut!“ sagt Junka. „Jeder gibt mir jetzt zwanzig Pfennig!“

„Im Ernst?“

„Im Ernst!“ sagt Junka.

Sie geben ihm jeder zwanzig Pfennig.

„Bis ein toffter Seeger!“ sagt einer.

„Wenne noch mal sowat hass, dann komm bei mich bei!“

„Jau nich!“ Und dann trennen sich die Jungen und gehen ihre Wege, und Junka hat bei denen ein Stein im Brett. Er aber geht nach Hause. Es ist ein Tag vor Muttertag.

Wadeck fragt ihn: „Was war das da im Keller?“

„Ich habe in einer kleinen Wanne einen Haufen Fliedersträuße gehabt. Onkel Heini hat gesagt, dass ich die verkaufen kann und ich habe sie verkauft. Jetzt will ich für Donna Clara das Muttertags-Geschenk kaufen und für mich Rollschuhe!“

„So viel Geld hast du?“

Da macht Junka seine Taschen leer und legt das Geld auf den Tisch. Wadeck staunt nicht schlecht und er zieht sich um. Das dauert etwas und sie sind sich einig, dass Donna Clara nichts merken darf. Außerdem fragt Wadeck ob Junka für zehn Pfennig „Eckstein“ ausgeben wolle, denn er habe ein Geschäft gemacht. Und Junka tut das mehr als selbstverständlich. Dann gehen beide in das Geschäft, das kann ein Junge von sieben Jahren nicht allein mit so viel Geld in einen Laden gehen und einkaufen. Er kauft für Donna Clara des Muttertages Geschenk, ein Brotschiffchen, wie man so sagt, eine Schale aus preiswertem Porzellan und bemalt mit bunten Blumen und für sich die billigsten Rollschuhe.

Eigentlich hat er sich selbst übertroffen, aber wer soll ihm das bestätigen? Unbewusst oder wie auch immer hat er sich ein Denkmal gesetzt indem er die beiden Buben die er eigentlich gar nicht mochte, mit in seinen Verkauf einzog. So konnte er am Diensttag, wenn er Onkel Heini traf, erzählen von seinem Verkauf, und die beiden Jungen? Das sagte sich Junka: „Es gibt zwei Möglichkeiten. Erstens: Sie werden sagen ich sei ein Blödmann, oder sie sagen Toffter Seeger!“

Die Zukunft erwies die Jungen waren für das zweite Programm und nahmen ihn für voll.

Es erweiterte sich ohnedies die Mannschaft um „Unsann Klupp“.

So hätte sich der Albert-Leo-Schlageter-Platz allmählich in einen eleganten Aufmarschplatz für Vereine verwandeln können, aber dem war nicht so. Die jährlichen Zusammenkünfte auf dem asphaltierten Platz konnte man leicht an den Fingern einer Hand abzählen. In Süd gab es mehrere Kompanien von Schützenvereinen und die feierten nicht jährlich, aber immerhin, manchmal ein Schützenfest. Nie auf dem gepflasterten Platz. Immer auf einem der freistehenden Flächen Aufmarschplatz vor dem Lyzeum oder dem Platz an der Feldstraße. Dann gab es noch den Platz, eigentlich Kirmesplatz an der Hochlarmarkstraße, aber sonst nur noch in dem Teil der Südstadt König-Ludwig.

SA-Aufmärsche fielen wohl flach wegen Mangels an Masse. Auch die vielzitierte Hitlerjugend trieb sich nicht auf dem Asphalt herum.

Da tummelten zusehends mehr und mehr Rollschuhläufer und auch Junka war mittendrin. Den Mädchen war es wohl wichtig ihre „Böllekes“, wie die Jungen das nannten, zu zeigen, denn alle hatten plötzlich kurze Röckchen und zeigten gewaschene Schlüpfer. Nur eine, die Tochter von Schuster Kaiser, die mit dem großen Schuhladen, die trug ein Höschen gleichfarbig zu dem Röckchen darüber, und natürlich Rollschuhe mit angeschraubten Schuhen.

Vor Junkas Haus, mitten in den Anlagen und gleich neben dem Ehrenmal, stand so ein Haus wo so „Bessere“, in erster Linie Lehrer, wohnten. Also zwei Lehrer, der mit Gattin einen Kopf größer als er, dafür war sie Vorsitzende in der NS Frauen Schaft. Der Zweite, Alkoholiker und wie die Kinder hinter der Hand sagten „Dumme Sau“, die Frau einen Kopf kleiner, dabei soll er sie mal mit einer Kaffeekanne vermöbelt haben. Dann noch ein wichtiger Polizist der Wert auf Uniform legte und damit wahrscheinlich auch schlafen ging. Der war nun auch Rollschuhfahrer und machte mit jungen Mädchen Paarlauf. Nach drei Wochen hatte der einen Arm im Gipsverband, denn er war auf die Fläche geknallt. Die Poussierstängel saßen dann im Vorbau der „angepissten“ Selterwasserbude, hinein durften nur ganz besondere Lieblinge von der Inhaberin die auch die Stadtwaage betreute. Da tranken sie dann buntes Knickelwasser von „Pullen-Jupp“ dem Lieferanten.

Junka aber stand ab jetzt im Rang der Kinder etwas höher, denn an ihn richtete man die Frage: „Lässte mich ma fahrn?“ Den Schlüssel zum Rollschuhe passend schrauben trug Junka am Bindfaden um den Hals. Junka ließ immer fahren, und so erweiterte sich seine Clique.

Die Spitze Pappel bot sich an, weil deren Zweige nicht ausschwärmten zu einer Baumkrone, sondern sich eng am Stamm noch Oben reckten. So wuchsen da natürlich die erwünschten „Hockeilollas“ wie die Buben sagten. Stecken mit der Krümmung eine hölzerne Kugel zu führen und ins gegnerische Tor zu knallen. Wehe er traf den Torwart. Der brauchte eine Zeit den Trefferschmerz zu verdauen. Also steckte der Torwart alte Schulhefte in seine Kniestrümpfe und dann stürmte man auf Rollschuhen. Diese Saison dauerte höchstens drei bis vier Tage, höchstens mal eine Woche, dann waren wieder Fußball, Brennball, Schlagball und Pinnchenklopfen dran. Der Mensch liebt nun mal die Abwechslung.

Die Zeiten änderten sich schnell, denn die Polizei bekam zwei Etagen in einem Mietshaus der Stadt, das eigens für sie errichtet wurde, aber zusätzlich noch Wohnungen in zwei Etagen bekam. Da musste natürlich gefeiert werden und die Polizei-Uniform wechselte auf Graugrün, aber mit Tschako.

Und dann grub man hinter dem roten Amt eine Baugrube über Eck: Die neue Feuerwehr!

Den ausgehobenen gelben Sand lagerte man vor der NSV und das wurde vorübergehend ein beliebter Spielplatz wo Kinder Burgen bauten, kleinere Kinder mit Förmchen Sandkuchen bucken und auch so allerhand Kurzweil getrieben wurde bis zu einer großen Rutsche die man in den Sand spurte. Kinder konnten sich im Sand wälzen und reichlich davon mit in die häuslichen vier Wände tragen.

Wie bemerkt, der Sandhaufen fand vor der Tür der NSV statt und zu der führten vom ausgesparten Weg sechs steinerne Stufen breit und sicher empor.

Da steht eines Tages der Leiter dieser Dienststelle, der Dranschack, auf der Treppe und sagt laut: „Seid mal ruhig!“ Und die Kinder sind ruhig, denn jedes Kind kennt ihn und weiß, dass er hier was zu sagen hat. „Wer von euch möchte nach Hamburg?“ – Da sagt Junka: „Ich!“ – „Na gut!“ antwortet er, „Frag ‘mal zu Hause. Nee, ich komm ‘heute Abend bei euch vorbei!“ Und dann geht er wieder.

Es gibt natürlich allerhand Gerede, denn der eine sagt: „Ich hätte auch, und wenn ich ja gesagt hätte, dann hätte ich gar nicht zu Hause fragen müssen, denn mein Vater kennt den Dranschack!“ – „Quatsch, der ist doch mit unsann Papa im gleichen Gesangverein!“ – „Den kenn wir schon lange!“ Und Kinder übertrumpfen sich gerne, wenn es gilt zu zeigen wie hoch man dem Anderen überlegen ist, wenn es um nichts geht. Der Nachmittag nimmt dann wider seinen Verlauf bis die Kinder heimgepfiffen werden, sofern sie nicht vorzeitig einen Abbruch ihres Spielnachmittags taten.

Junka sitzt beim Abendessen, da klingelt die Drehklingel und Donna Clara geht nachschauen wer abends zu Besuch kommt. Da sagt der Dranschack den Deutschen Gruß und wird eingelassen. Er berichtet das in der nächsten Woche der Transport einer Kinderlandverschickung stattfindet, und der Zug geht nach Hamburg. Kosten tut es überhaupt nichts, nur sollte eine Unbedenklichkeit seitens der Schule vorliegen, was ja in diesem Fall bereits bestätigt wäre, da ja der Klassenlehrer von Junka bereits keine Bedenken angemeldet habe. Es fehlte dann nur die ärztliche Untersuchung, und dann könne Junka für sechs Wochen nach Hamburg und eine Luftveränderung erfahren.

Der Dranschack bekommt eine Zusage und Junka bekommt das Kribbeln. Verreisen tut er wahnsinnig gerne, und es kann ja nicht falsch sein Städte und andere Leute kennen zu lernen. Immerhin war Junka schon allein, mit sechs Jahren, nach Witten gefahren zu Opa und Oma. Junka geht in den nächsten Tagen mit Donna Clara zum vorgeschriebenen Arzt und bringt die Untersuchung hinter sich. Da wird nach ansteckenden Krankheiten geforscht, viel mehr aber nicht. Das ist verständlich, denn es sollen wohl keine Seuchen ausgeweitet werden. Donna Clara ist sehr geschäftig, denn Junka muss doch ein paar Sachen zum Anziehen mitnehmen, und das Eine oder andere muss noch gewaschen werden. Und welchen Koffer soll er nehmen, oder besser zwei kleine Lederkoffer? Geld gibt man ihm keins mit. Davon war ja auch keine Rede. Und eigentlich ist das Ganze doch wohl irgendwie ein Blödsinn, aber man kann ja nie wissen!

Kinderlandverschickung

Подняться наверх