Читать книгу Kinderlandverschickung - Ted Moré - Страница 15
„Die Forell Straße.“
ОглавлениеJunka kam von Hamburg zurück und Süd hatte ihn wieder. Er besuchte wieder die Weißenburgschule, doch man verlegte die dritte Klasse auf den Dachboden und gab ihr einen neuen Klassenlehrer der immer etwas feierlich daherkam, denn er war stets komplett angezogen mit dem was einen besseren, ordentlichen Mann ausmachte. Dazu gehörten Anzug mit Weste, Oberhemd, Krawatte, Schuhe, Strümpfe Schal, Hut und Mantel. Selbstverständliches Zubehör die übliche Aktentasche. Und dieser Lehrer hatte ein Steckenpferd das hieß Heimatkunde. Das Rechnen bediente er im Lehrplan nicht so stark, verband aber Aufsätze und Diktate mit dem was in der näheren Umgebung geschah. Dazu ging er auch mit der Klasse vor die Tür, und so lernten seine Schüler die Geschichte der näheren Umgebung kennen. Machte er diese Ausflüge unterließ er es nie seine Schüler mit erhobenen Händen in eine Himmelsrichtung zu zeigen und im Chor zu betonen: „Da ist Osten!“ oder je nachdem. Ansonsten benahm er sich unpersönlich und ließ keinen an sich heran. Er war Lehrer.
Junka tat seine Pflicht, aber er musste sich dazu zwingen, denn er wollte nicht, dass ihm dieser Lehrer zu nahekam und ihn etwa tadelte, denn die Art seines Unterrichts war ihm nicht so interessant.
Junka gewöhnte sich an die neue Form Unterricht, weil man nichts daran, an der Situation und Sache, machen kann. Es gab keine Überraschungen.
Junka kam von Hamburg zurück. Er hatte viel zu erzählen, aber keiner befragte ihn wie das sonst üblich war. Man fragte ihn nicht nach den Leuten mit denen er Umgang hatte, man wollte nicht von ihm wissen ob er denn englisch lernte, ja nicht einmal seine Fotos die er mitbrachte und die seinen Aufenthalt schilderten interessierten sie. Man ging übergangslos in den Alltag. Nur Junka behielt die Bilder und betrachtete sie. Gut, er hatte nur eine Karte geschickt und sich für Aufenthalt und so bedankt, mehr aber nicht. Da fehlte ihm alles um einen Dankesbrief zu schreiben. Er verschob den auf später, wenn er den mit der Schulbildung weiter sein sollte. Nur, ab und zu erbat sich Junka das Fahrrad von Wadeck und fuhr damit irgendwie um den Rollschuhplatz rundherum, nur damit die anderen Kinder sehen, dass er das Radfahren lernte.
Da war doch diese Badeanstalt. Wie man allgemein sagte, eine große Liegewiese mit einem Planschbecken und schwimmenden Becken für Nichtschwimmer im Rhein-Herne-Kanal. Da ging man hin und konnte im Wasser herumtollen. Junka probierte sich selber das Schwimmen beizubringen, denn eine Gefahr Abzusaufen bestand nicht, höchstens, wenn sich in den Bereich Freischwimmer begab. Das Ganze kostete fünfzehn Pfennige Eintritt und man konnte seine Kleider auf einem eisernen Bügel deponieren und mit einer eisernen Nummer abholen. Natürlich gab es jede Menge Zeitgenossen die Rhein-Herne-Kanal als Ganzes zu ihrem Vergnügungspark machten und der Badeanstalt fernblieben. Gut, am Ufer auf Decken lagern und im Kanal schwimmen unterlag irgendwelchen Verboten. Die standen auf emaillierten Schildern im Gelände, aber nicht allzu groß gedruckt, oder wie auch immer. Manchmal fuhr deshalb ein Schupo mit dem Fahrrad durch die Geografie und verbot, aber wenn der weg war herrschte wieder Jubel, Trubel, Heiterkeit. Man schwamm an einen Lastkahn heran und hielt sich daran fest. Dass verboten manche Schiffer und kamen den Landesteg entlang mit irgendwas um ihren Unmut Kraft zu verleihen, aber die Schwimmer ließen sich los und schwammen davon. Große Vorsicht war bei den Schleppern geboten, wegen der Schraube und dem aufgewühlten Kanalwasser.
Und dann bekam die Weißenburgschule Einquartierung und Soldaten besetzten die Schulzimmer. Auch wurden die Schüler bald geteilt in Mädchen und Jungen. Junka kam jede Veränderung recht, denn dieser Lehrer mit Hut und Mantel blieb lange Zeit krank und verschwand irgendwann von der Bildfläche. Ersatz kam als eine kleine Lehrerin die die Größe eines größeren Jungen der Klasse drei besaß und von den meisten Buben auch nicht für voll genommen wurde. Das „Fräulein“ gab Noten für Benehmen und Fleiß und liebte Diktate, die sie auch reichlich arbeiten ließ. Das machte Junka nie was aus. Er schwebte im Deutschunterricht nie in irgendeiner Gefahr, denn er war ja sehr belesen und es interessierte ihn schon fast „nebenbei“: Deutsch? Kein Problem! – Rechnen? Kein Problem! Singen? Au Backe mein Zahn. Heimatkunde? – Fehlanzeige! Damit hatte die kleine Dame nichts am Hut. Man merkte das am fehlenden Lachen, damit hatte sie es überhaupt nicht, denn der Griesgram war ihr ins Gesichte geschrieben.
Und dann kam eine Schulverlegung der besonderen Art. Mädchen und Jungen wurden getrennt. Die einen sagten „Gott sei Dank!“ und die anderen hielten sich bedeckt. Gut, von nun an gab es nicht mehr diese blöde Redensart: „Morgen inne Schule wirsse aufgezeicht!“, was nichts Anderes hieß als das der Lehrer über die eine oder andere Missetat zu Gericht sitzen musste. Das passierte auch hie und da und brachte Abwechslung in den Schulalltag. Damit sollte also für alle Zukunft Schluss sein.
Junka musste den längeren Schulweg, an seinem ehemaligen Wohnhaus vorbei in die Forell-Schule antreten. Die Weißenburgschule blieb irgendwie auf der Strecke, kam irgendwann wieder in Betrieb, aber davon erfuhr er Garnichts. Das Kapitel war abgeschlossen. Jedenfalls für ihn.
Die neue Schule als solche? Eine lieblose Bude aus Hartbrandziegeln von fast dunkelroter bis schwarzer Farbe, Fensterrahmen in noch dunklerem Dunkel, Klassenzimmer mit Kanonenöfen bis an die Decke reichend und einem Pissoir das mit seinem Gestank jedem Schüler die Tränen in die Augen trieb.
Der Rektor Schönling der Weißenburgschule verschwand irgendwo in einer Versenkung und der neue Rektor war Junka schon dadurch aufgefallen, dass er zu Frauenschaftsnachmittagen eine dicke Blockflöte blies und auch sonst gerne in einer Extra-Uniform erschien, wenn was Besonderes stattfand. Unübersehbar trug er eine dicke, fette Nase im Gesicht, so eine wie man sie aus der Wandzeitung „Der Stürmer“ bei Judenwitzen kannte und Sohn und Tochter, mit denen er sich immer öffentlich umgab, trugen Uniform und hatten auch Gardemaß.
Dieser Rektor liebte es vor versammelter Mannschaft irgendwas zu verkünden und begann meistens mit: „Mal her hörn!“ Und dann bellte er irgendwas in die Gegend. Aber schon so laut, dass die Bewohner der gegenüberliegenden Häuser sich an offenen Fenstern zeigten, Kissen auf die Fensterbank legten und zuhörten.
Pilo bezeichnete die Leute in dem gegenüberliegenden Haus als die „Fickendiddies“ die den ganzen Tag im Fenster hängen und sonst nichts zu tun haben.
Junka kam in den Klassenraum der gleich unter dem Klassenraum des Rektors stattfand und bekam jeden Tag den Genuss einer Musikstunde wo einer auf ein Klavier hämmerte, der Rektor nämlich, und Bubenstimmen im Stimmbruch „Deutschland heiliges“, „Flamme empor“, „Fern bei Sedan“ und „Ich hatte einen Kameraden!“ grölten. Und dabei fand Unterricht statt. Die Stimmung war vorbei, wenn man denn vorlesen musste oder sich sonst konzentrieren sollte. Der Klassenlehrer Hörter ließ das kommentarlos über sich ergehen. Er war irgendwie ein Typ. Junka war mit ihm einverstanden. Der Lehrer kam jeden Tag mit dem Hut auf dem Kopf von Stadthausen angeradelt und an traurigen Tagen, so mit Regen und so, trug er einen dicken Wintermantel den er am Ofen trocknete. Den pläddernassen Hut schwenkte er und befreite ihn vom Wasser, dass die Klasse auch was von dem Regen mitbekam. Man nahm das als einen Spaß hin.
Den Unterricht nahm er sehr ernst, und wenn man nicht mit Ernst bei der Sache war in seinen Unterrichtsstunden, dann war das Zeugnis keine Überraschung, sondern ein Ergebnis. Die Heimatkunde weitete er aus und zog Westfalen mit dazu. Dabei ging es vom Teutoburger Wald bis zum Siegerland. Eigentümlichkeiten erwähnte er von denen Junka später durch Zufall erfuhr. Da war die Haubergs- Wirtschaft im Siegerland, wo Eichen zehn Jahre wuchsen, dann schälte man die Rinde ab zur Lederherstellung über Lohgerbung. Das Holz brauchte man zum Heizen, denn in Siegen gab es noch Eisen-Industrie. Gut, die betrieb man inzwischen mit Kohle, aber davor? Man sprach von den Hammerschmieden im Bach- und Flussreichem Sauerland. Von den Solinger Klingen und dem Münsterländer Schinken. Westfalen war zu der Zeit ein reiches Industrieland. Seen hatte es im Land genug zur Wasserversorgung und auch Kanäle, Erze und Kohlen und Kies auf diesen Wasserwegen zu transportieren. Das Schiffshebewerk in Henrichenburg sollte man gesehen haben und die Kanalkreuzung im Landkreis Minden wo Mittellandkanal und Weser-Ems-Kanal sich übereinander kreuzten.
Junka merkte sich das sehr genau, und es kam ihm in seinem weiteren Leben zu Gute. Witten kannte Junka und er strolchte mit seinem Lieblings-Vetter gerne bis zum Helenenberg, denn er liebte die Wälder und die Berge zu den Steinbrüchen, die sich direkt anboten darin rum zu klettern.
Es gab dann eine weitere Überraschung: Wadeck ging an den Westwall mit einem Sammeltransport, denn die Arbeitskräfte dazu organisierten irgendwelche Bau-Firmen die zu den einzelnen Bauobjekten gehörten und Zuschläge zu Vorhaben und Bauplänen bekamen.