Читать книгу Postkarten einer Toten - Thomas Neumeier - Страница 10
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Оглавление„Ich habe einen Verdacht“, eröffnete Corinna Duck der dreiköpfigen Familie auf der anderen Seite ihres Schreibtisches. Vater und Mutter lauschten aufmerksam. Die Teenagertochter in ihrer Mitte starrte eingesunken auf den Fußboden des Büros. Sie war nicht freiwillig hier, das war ihr deutlich anzusehen. „Aber vielleicht sollte ich das zunächst mit ihrer Tochter allein besprechen.“
„Nix da“, widersprach der Vater. „Das haben wir längst hinter uns. Wir sind ja nicht blöd. Uns ist klar, was los ist. Was wir jetzt wissen wollen, ist, wie genau das passiert sein könnte. Und wen wir dafür belangen können.“
Die Teenagertochter ließ keine Regung zu, die etwas verraten könnte. Allem Anschein nach hatte sie sich bereits mit den Tatsachen abgefunden. Corinna wagte eine Prognose. „Ihren Schilderungen nach vermute ich, dass man Ihrer Tochter Flunitrazepam eingeflößt hat.“
„Fluni-was?“, fragte die Mutter scharf.
„Ein Schlafmittel, das nach zahlreichen Missbrauchsfällen in Deutschland inzwischen unter das Betäubungsmittelgesetz fällt“, fuhr Corinna mit ihrem Aufklärungsvortrag fort. „In Verbindung mit Alkohol – und es reicht schon eine geringe Menge aus – kann es massive Gedächtnislücken hervorrufen. Man mischt es dem Opfer unauffällig ins Getränk und wartet die Wirkung ab. Die setzt meistens sehr schnell ein. Wenn das Opfer dann schläfrig und willenlos wird, schleppt der Täter es fort. Was dann passiert, können Sie sich denken. Nicht selten fehlt den Opfern am nächsten Morgen jegliche Erinnerung an das Geschehene. Das Zeug ist enorm potent.“
Corinna hatte nichts geschönt. Den Eltern musste bewusst werden, was da geschehen war und auf welch niederträchtige Weise man ihrer Tochter Leid angetan hatte. Auch der Teenie musste das begreifen. Und es annehmen. Nicht unwahrscheinlich, dass die Sechzehnjährige den Täter kannte. Dass sie von ihm schwanger geworden war, hatte vermutlich nicht in dessen Absicht gelegen. Corinna musterte sie. Nach wie vor konzentrierte sich das arme Ding stumm auf den Fußboden. Womöglich schämte sie sich für den Vorfall. Es war eine häufig auftretende Reaktion bei Missbrauchten, die Schuld bei sich selbst zu suchen.
„Kann man das irgendwie nachweisen, dieses Fluni-Zeug?“, raunte der Vater. Er war ein knautschiger, zerfurchter Endvierziger, nicht groß, aber stämmig. Äußerlich wirkte er gefasst, aber Corinna spürte, wie sehr er innerlich kochte.
„Nur etwa sechzig Stunden nach der Einnahme“, antwortete Corinna. „Ich vermute, bei dir ist es schon länger her.“
Sie hatte damit das junge Ding angesprochen, das aber nicht darauf reagierte.
„Sie ist in der neunten Woche“, presste die Mutter mit verhärmter Miene hervor. Sie schien fast noch mehr zu leiden als der vergewaltigte Teenager. „An dem Wochenende, an dem es passiert sein muss, war sie auf einer Geburtstagsfeier. Und sie weiß nicht mehr, was geschehen ist. Auch nicht wann und wie sie heimgekommen ist.“ Ein tiefes Schluchzen konnte sie nicht länger zurückhalten. Ihr Mann nahm sie sanft an der Schulter. „Wie kann man es nur verantworten“, krähte sie schmerzverzerrt über den Tisch, „dass so etwas in die Hände unserer Kinder gelangen kann? Ich verstehe das einfach nicht. Wer tut denn so etwas Furchtbares?“
„Nicht selten jemand aus dem Freundeskreis“, antwortete Corinna schonungslos. „Oder solche, die von einem der Feiernden eingeladen worden sind und es ausnutzen, dass sie ansonsten mit der feiernden Clique nicht viel zu tun haben.“
„Wie kann man sich dagegen schützen?“, fragte der Vater.
„Sehr schwer, fürchte ich“, gab Corinna erneut ungeschönt zur Antwort. „Seit Jahren schon mischen die meisten Herstellerfirmen den Pillen eine blaue Tönung und Bitterstoffe bei, damit sie leichter erkannt werden können. In einen Cocktail gemischt und gut verrührt ist das aber aussichtslos. Zwischen Limonen und vielfarbigen Bitterspirituosen bemerkt kein Konsument einen ungewöhnlichen Beigeschmack. Darüber hinaus werden in einigen Ländern die entsprechenden Arzneien noch immer völlig farb- und geschmacksneutral hergestellt. Schützen kann man sich davor allenfalls, indem man sein Getränk keinen Moment aus den Augen lässt und keines von anderen Leuten annimmt. Nur direkt vom Barkeeper. Wenn man eine plötzliche Schläfrigkeit, Schwindel oder Sprachschwierigkeiten feststellt, unbedingt an einen Bekannten oder eine Bekannte wenden und dringlich um Hilfe bitten. Es kommt immer wieder vor, dass sich der Vergewaltiger vor etwaigen Zeugen als hilfsbereiter Freund aufspielt, der seine angetrunkene Freundin nur nach Hause bringen will. Wenn kein Bekannter verfügbar ist, nach der Polizei verlangen und hoffen, dass einer der anderen Anwesenden die Signale ernst nimmt und handelt. Haben Sie denn einen Verdacht, wer es gewesen sein könnte?“
Die Mutter nickte träge und tupfte sich die Augen mit einem Taschentuch.
Die Eltern waren eine Weile still, dann raunzte der Vater: „Ich bringe ihn um, dieses räudige Stück Dreck. Ich schlage ihm seinen Schädel zu Brei.“
„Nein“, platzte es aus der Tochter heraus und gab damit erstmals ein verbales Lebenszeichen von sich, seit sie in Corinnas Büro saß. „Nein, Papa, bitte tu das nicht.“
Schuldgefühle, Angst vor Gesichtsverlust, während gleichzeitig ihre Welt aus den Fugen gerät, diagnostizierte Corinna stumm.
„Aber hast du nicht gehört, was er dir angetan hat“, polterte der Vater. „Er hat dich mit diesem Zeug gefügig gedröselt und dir ein Kind gemacht. Dafür breche ich ihm sämtliche Knochen, bevor ich ihn in Einzelteilen bei der Bullerei ablade.“
Tatbereit fuhr er hoch, wurde aber prompt von seiner Tochter zurückgehalten. „Nein! Nein! Nein! Bitte“, flehte sie nachdrücklich.
Beide setzten sich wieder, und die Mutter nahm sich der Tochter an. „Schatz, wir können das noch nicht auf sich beruhen lassen.“
„Aber er hat mich nicht vergewaltigt“, erwiderte die Tochter hitzig.
Der Vater sprang wieder auf. „Sag mal, hast du denn nicht zugehört?“
„Doch, doch, hab ich schon“, beteuerte der Teenie. „Aber … aber er hat mich gar nicht vergewaltigt. Er hat mit mir geschlafen. Er hat mich nicht vergewaltigt.“
Es leugnen. Ja, auch das war eine nicht seltene Reaktion, wusste Corinna. Nach Offenlegung der Tat redeten sich die Opfer ein, der Täter hätte es gar nicht böse gemeint oder es sogar aus aufrichtiger Liebe getan. Weil das erträglicher war als die Erkenntnis, missbraucht worden zu sein.
„Jetzt hör schon auf, Liebes“, beschwor ihre Mutter. „Du musst den Tatsachen ins Auge sehen. Wir haben uns schon damals gedacht, dass man dir irgendwas angetan hat. Du bist so komisch gewesen, den ganzen Tag lang.“
Die Tochter stand von ihrem Stuhl auf. „Nein“, blaffte sie. „Nein, nein, nein! Man hat mir nichts angetan. Ich habe euch angelogen. Ich erinnere mich an alles! Wir haben im Bett von Wolfis Eltern miteinander geschlafen. Es war keine Vergewaltigung. Ich habe es gewollt. Ich wollte es! Kapiert ihr? Ich habe es gewollt!“
„Was sagst du denn da?“, brummelte ihr Vater kopfschüttelnd.
„Ich hab nicht sagen wollen, warum ich so spät heimgekommen bin“, klagte der Teenie nun den Tränen nahe. „Da habe ich gesagt, ich könne mich nicht mehr erinnern. Aber das stimmt gar nicht. Ich kann mich an alles erinnern. Es war keine Vergewaltigung! Es war echt! Ich meine … ich habe ja nicht gedacht, dass ich davon schwanger geworden bin und so, aber … aber …“
„Soll vorkommen bei so was“, zischte ihr Vater unheilvoll.
„Jedenfalls war es keine Vergewaltigung“, stellte die Tochter klar. „Ihr dürft ihm nichts tun. Klar? Wir lieben uns.“
So schnell konnte sich eine Sachlage ändern, dachte Corinna und zog unfreiwillig eine Schnute. Die Vorstellung der Tochter schien ihr überzeugend. Offenbar war es doch falscher Alarm. Die Eltern bedankten sich für Corinnas Zeit und wuselten dann mit der jungen Dame eilig durch die Tür davon. Eine Adresse hinterließen sie nicht. Corinna war klar, weshalb. Nicht dass sie noch auf die Idee käme, ihnen eine Rechnung zu stellen.
Als sie wieder allein war, erhob sie sich aus ihrem Ledersessel, streckte sich lang und ging rüber zum Fenster. Draußen brütete die dampfende Stadt in den Vorboten eines heißen Sommers, aber sie hatte vorgesorgt. Zu ihrem weißen Blouson trug sie eine meeresblaue Leggins und einen schwarzen Turnschuh. Nur einen, denn an ihrem rechten Bein lugte eine schwarze Metallschiene unter dem Hosenbein hervor. Corinna nahm den Zettel von ihrem Schreibtisch auf und studierte die Notizen, die sie sich während des Telefonats vorhin gemacht hatte, kurz bevor Vater, Mutter und Göre eingetreten waren. Schon bald würde sie ihr privater Beratungs- und Investigationsservice zu ihrer großen Freude in die alte Heimat im Altmühltal führen.