Читать книгу Postkarten einer Toten - Thomas Neumeier - Страница 17
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ОглавлениеIngrid Ulmen, geborene Ulmen und vorübergehende Madwasi, fuhr in ihrem Scirocco vom Schwabeder-Hof auf direktem Wege zu ihrem Elternhaus in Hirnstetten, wo sie seit ihrer Scheidung wieder wohnte. Es sollte nur vorübergehend sein, doch inzwischen waren es acht Monate. Nun ja, die Eltern freute es, dass sie nach so vielen Jahren des Streitens wieder zueinandergefunden hatten, und auch Ingrid gefiel es, wieder in Hirnstetten zu wohnen. Kurz vor dem Ortsschild schnippte sie ihre Kippe aus dem Fenster. Dass sie mit dem Rauchen angefangen hatte, brauchten Mama und Papa nicht zu wissen.
Was der Vogelscheuche an Hirnstetten vor allen Dingen gefiel, war die Vertrauensseligkeit der Leute. Die Eltern von der Ingrid waren bestimmt nicht die Einzigen, die ganztägig ihr Haus unverschlossen ließen. Die Vogelscheuche hatte einen günstigen Zeitpunkt abgewartet, als Mama Ulmen gerade ihren Pflanzgarten umgrub und Papa Ulmen hinter dem Scheunenanbau seine Blase entleerte, und war dann unbemerkt und schattengleich ins Haus eingedrungen. Dort wollte sie sich alle Freiheiten lassen. Nichts musste passieren, alles durfte passieren. Ergab sich eine günstige Gelegenheit, würde sie zuschlagen. Ergab sich keine, was soll’s. Dann würde sie wieder gehen. So still und heimlich, wie sie gekommen war. Sie hatte es nicht eilig mit dem, was zu tun war. Im Gegenteil. Gut Ding durfte ruhig Weile haben.
Die Vogelscheuche gestattete sich eine ausführliche Erkundungstour durch das Ulmen-Haus, während sich Mama und Papa Ulmen draußen im Garten beschäftigten, den Rasen mähten und den Gemüsegarten jäteten. Ganz die alltäglichen Dorfrentner eben. Ein klein bisschen tat es der Vogelscheuche leid, dass sie den beiden schon bald ihre Tochter wegnehmen würde. Sie ging mehrere Optionen durch. Sie könnte die Ingrid mit einem harten Gegenstand erschlagen. Das würde großen Spaß machen, aber viel eleganter wäre es natürlich, wenn es wie ein Unfall aussähe. So wie beim Gruber Maxi. Auch so etwas sollte sich arrangieren lassen. Nirgendwo passierten mehr Unfälle als in den eigenen vier Wänden.
Als der rote Scirocco von der Ingrid in den Hof einbog, stand die Vogelscheuche am Fenster eines Schlafzimmers im ersten Stock. Es war jetzt achtzehn Uhr. Die Ingrid hielt ihren Wagen neben der sorgfältig gehegten Blumenrabatte an. Sie wirkte ziemlich gehetzt, als sie ausstieg, flüchtig ihren Papa hinter seinem Rasenmäherbügel grüßte und in Richtung Haustür stolzierte. Ich könnte dich zu Tode hetzen, dachte die Vogelscheuche und kicherte leise in sich hinein.
Nun stieg die Spannung. Die Vogelscheuche würde in diesem Schlafzimmer abwarten, was geschah. Käme die Ingrid herein, würde sie sie schnell und lautlos überwältigen und sich nachher etwas einfallen lassen, wie man sie möglichst unkompliziert aus dem Leben scheiden lassen könnte. Ließe die Ingrid das Schlafzimmer unbeachtet, war ihr vielleicht noch etwas mehr Lebenszeit vergönnt. Sollte sich keine gefällige Gelegenheit ergeben, würde sich die Vogelscheuche für heute ganz einfach wieder zurückziehen. Doch sie spürte, dass das Schicksal sie auch heute begünstigen würde. So wie gestern beim Gruber Maxi, als genau zur rechten Zeit ein schwerer Lkw des Weges kam. Sie stellte sich hinter die Schlafzimmertür und horchte nach draußen.
Jemand kam die Stufen rauf. Konnte nur die Ingrid sein. Ob sie in dieses Schlafzimmer käme? Es sah nicht so aus, als ob es regelmäßig benutzt würde. Es fehlte jegliche persönliche Note. Wahrscheinlich ein unbenutztes Gästezimmer.
Offenbar war die Ingrid in ein anderes Zimmer gegangen, kehrte aber schon kurz darauf in den Mittelgang zurück. Die Vogelscheuche vernahm deutlich, wie sie an ihrer Tür vorbeimarschierte, vermutlich auf dem Weg ins Bad am Ende des Flurs.
Schon hörte die Vogelscheuche Wasser rauschen. Die Ingrid ließ sich ein Bad ein. Na also, das traf sich doch wunderbar. Daraus ließ sich etwas machen. Der knatternde Rasenmäher draußen lief mit Benzin, somit würde den Strom erst mal keiner vermissen, wenn er plötzlich weg wäre. Würde die Ingrid jetzt noch die Badtür unverschlossen lassen, so wie Mama und Papa Ulmen ihre Haustür, wäre alles perfekt. Da das Schicksal sie begünstigte, erwartete die Vogelscheuche nichts anderes.
Das Wasser lief nicht mehr, die Badtür war noch einen Spalt breit offen. Ein bisschen Geplantsche drang in den Flur. Demnach hockte die Ingrid bereits im Wasser. Verwöhnte, faule Tussi, dachte sich die Vogelscheuche. Mama und Papa Ulmen arbeiteten fleißig am Haus, während die es sich da drin bequem machte.
Die Vogelscheuche nahm das kleine Radiogerät am Nachttisch des Schlafzimmers auf und zog den zugehörigen Stecker aus der Dose. Vor der Badezimmertür legte sie es ab. In einer Schublade des kleinen Wohnzimmers am anderen Ende des Flurs hatte sie vorhin einen Verlängerungsdrilling entdeckt. Den holte sie hinzu und schloss ihn an der Steckdose gleich neben der Badtür an. Das Radio steckte sie in den Drilling und richtete sich mit dem nun zu einer Waffe umfunktionierten Gerät in der Hand vor der Tür auf. Es musste schnell gehen. So schnell, dass die Ingrid nicht schreien konnte. Falls ihr das doch gelänge, wäre das ziemlich blöd. Andererseits, so laut wie draußen der Rasenmäher lärmte, würde es eh keiner hören, also was soll’s. Die Vogelscheuche stieß die Tür auf und trat ein.
„Die Scheuch, die Scheuch, die Scheuch ist da“, sang sie der Ingrid vor, die völlig verdutzt und mit weit aufgerissenen Augen aus der vor Schaum überquellenden Wanne schaute.
Auf ein Gespräch oder ein bisschen Flehen hatte die Vogelscheuche keine Lust. Sie entließ das Radiogerät ins Wasser und erfreute sich an dem zischenden Laut, der im Bad widerhallte. Die Ingrid hatte keinen Ton von sich gegeben, als es sie wie einen Reanimierten aus dem Wasser gehoben hatte, nur um dann hinterkopfs auf dem Wannenrand aufzuschlagen. Nun rutschte sie regungslos und mit geschlossenen Augen tiefer ins Schaumwasser.
Kurz bevor der Mund unter Wasser tauchte, hörte sie allerdings auf damit. So was Blödes. Die Vogelscheuche überlegte. Wie war das noch mit Strom, Wasser und den Sicherungen? Da das ins Wasser gefallene Radio gewiss einen Kurzschluss ausgelöst hatte, sollte es bis auf Weiteres im ganzen Haus keinen Strom mehr geben. Das hieß, das Radio im Wasser war nicht mehr am Netz, was wiederum bedeutete, auch das Wasser täte es nicht mehr. Oder? So ganz hundertprozentig sicher war sich die Vogelscheuche nicht, ob sie nun gefahrlos ins Wasser greifen konnte oder nicht. Deshalb benutzte sie die Klobürste, um Ingrids Kopf unter Wasser zu drücken. Da die Metze den Stromschlag möglicherweise überlebt hatte, musste sie sicherheitshalber auch noch ersaufen. Zwei Minuten lang hielt die Vogelscheuche sie unter Wasser, dann stellte sie die Klobürste an ihren angestammten Platz neben dem Lokus zurück. Was für ein wundervoller Tag.
Als sie das Bad verließ, fiel ihr Blick auf den eingesteckten Drilling neben der Tür. Ja freilich, wie simpel. Sie hätte ja nur ausstecken müssen, dann wäre das Wasser garantiert nicht länger gefährlich gewesen. Dass sie da nicht früher drauf gekommen war. Die Vogelscheuche kicherte und machte sich davon.