Читать книгу Postkarten einer Toten - Thomas Neumeier - Страница 21
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ОглавлениеIhren Rucksack geschultert und die Reisetasche hinter sich her ziehend, stieg Corinna Duck am Kindinger Bahnhof aus. Eine strahlende Maisonne hieß sie bei ihrer Rückkehr in die alte Heimat herzlich willkommen. Sie genoss den Moment und fragte sich, warum sie sich hier schon so lange nicht mehr blicken lassen hatte. Der Ausblick rundherum suchte seinesgleichen. Mächtige Jurafelsen umgarnten das Tal, gekrönt von sattgrünen Wäldern unter einem heute herrlich blauen Himmel. Kipfenberg lag nur ein paar Kilometer weiter, und schon jetzt fieberte sie dem Moment entgegen, die imposante Burg wiederzusehen. Hier war sie zur Schule gegangen und hatte die prägende Zeit ihrer Kindheit verbracht, nachdem ihre Eltern berufsbedingt vom oberfränkischen Lichtenfels hierhergezogen waren. Im zehnten Jahr Realschule hatte Corinna dasselbe dann noch einmal durchmachen müssen, ihre Freunde im Altmühltal verlassen und ihre mittlere Reife in Amberg abgeschlossen.
Sabine Schwabeder sah die hübsche Blondine aus dem Zug steigen und wusste auf Anhieb, dass es die war, auf die sie wartete. Der Xavi hatte sie ihr als patentes Madel, die seinerzeit in der Schule gar nicht so schlecht ausgesehen hat beschrieben. Mit anderen Worten, sie war bildhübsch, was auf diese Blonde da definitiv zutraf. Darüber hinaus stieg neben ihr nur noch eine kleine Handvoll anderer Leute aus. Sabine hob winkend die Hand und ging auf sie zu.
„Sie sind die Duck Corinna, oder?“, rief sie.
Die Blonde nickte mit einem aufgeschlossenen Lächeln. „Jawohl, bin ich. Corinna Duck, nicht verwandt oder verschwägert mit Donald und Dagobert. Und Sie sind dann wohl dem Xavi seine Angetraute?“ Ihr Blick fiel auf Sabines Kugelbauch. „Er hat am Telefon ausführlich geschwärmt, dass ihr zwei bald zu dritt sein werdet. Toll! Meinen Glückwunsch.“
„Sabine“, stellte Sabine sich vor und reichte ihr die Hand. „Ich glaube, wir sollten uns duzen. Was meinst du?“
„Liebend gern“, erwiderte Corinna bei einem kurzen Händedruck. „Ich kann dir gerade gar nicht sagen, wie sehr es mich freut, wieder hier zu sein. Ich hoffe, ein paar meiner alten Schulspezis sind noch in der Gegend.“
„Garantiert. Komm, da drüben steht das Auto.“
Erst jetzt, als sie sich in Bewegung setzten, fiel Sabine auf, dass Corinna anstelle eines beschuhten rechten Fußes eine Schiene hatte. Sie klackerte ein bisschen beim Auftreten.
„Der Grund, warum ich nicht mehr Auto fahren darf“, erklärte Corinna augenzwinkernd. „Aber Zugfahren ist auch nicht so schlimm. Ansonsten bleiben mir noch Taxis und Freunde.“
„Darf ich fragen, wie das passiert ist?“
„Freilich darfst du“, entgegnete Corinna. „Das ist in Afghanistan passiert. Unser Konvoi ist in einen Hinterhalt geraten. Das Fahrzeug, in dem ich gesessen bin, hat es besonders schwer erwischt. Mein Unterschenkel war leider nicht mehr zu retten. Unterm Knie haben sie ihn mir abnehmen müssen.“
„Du warst also … wie sagt man, Zeitsoldat?“
„Nein, ich wollte mein Berufsleben lang bei der Truppe bleiben. Wollte Offizier werden. Na ja, bis zum Leutnant habe ich es ja auch geschafft. Jetzt bin ich in Rente.“
„Wie furchtbar. Tut mir leid.“
„Tja, die Versehrtenrente könnte in der Tat höher sein.“
„Das hab ich nicht gemeint. Ich meine das mit deinem Bein.“
„Ach, das ist kein Problem. Ich habe Glück gehabt, um genau zu sein. Und ich würde wieder hingehen, wenn ich vor der Wahl stünde.“
Die beiden hatten Sabines Panda erreicht. Corinna machte den Kofferraum auf und wuchtete ihre Tasche und den Rucksack hinein.
Sabine öffnete die Fahrertür. „Und jetzt machst du irgendwas Detektivisches?“
„Es ist mehr Beratung“, antwortete Corinna und stieg an der Beifahrerseite zu. „Bei der Bundeswehr bin ich auch Drogenbeauftragte gewesen. Der Druck, der auf den Kameradinnen und Kameraden bei lebensgefährlichen Einsätzen lastet, macht sie anfällig dafür. Auch die Erschöpfung und die große Verantwortung. Ich habe Vorträge gehalten, Aufklärung und Suchtberatung betrieben und auch Nachforschungen angestellt. Meinen Erfahrungsschatz aus dieser Zeit spiele ich jetzt im zivilen Leben aus. Menschen mit dauerhaften körperlichen Gebrechen, will sagen Verkrüppelungen, biete ich ebenfalls Rat an, wenn sie ihn von mir wollen.“
„Faszinierend“, sagte Sabine aufrichtig beeindruckt. „Ich glaube, da haben wir nachher beim Kaffee eine Menge zu plaudern.“
„Ganz bestimmt. Bei euch sind in letzter Zeit ein paar komische Dinge vorgefallen, habe ich vom Xavi gehört.“
„Das kann man so sagen. Die Knochen im Wald halte ich zwar für einen Scherz, aber die Sache mit den Postkarten und den beiden Toten ist schon seltsam.“
„Knochen im Wald? Postkarten? Und Tote gibt’s auch?“
„Ach, das weißt du noch gar nicht?“
„Der Xavi hat mir am Telefon nicht viel erzählt. Wann kommt er denn heim?“
„So um halb fünf.“
Als Xaver heimkam, hatten sich Sabine und Corinna bereits angefreundet. Xaver fand seine Frau und seine alte Schulfreundin im Schatten der Markise auf der Terrasse vor.
„Mensch, Cori“, rief er mit ausgebreiteten Armen. „Schön, dass du da bist. Du schaust fabelhaft aus.“
„Xavi“, erwiderte sie und erhob sich. „Na endlich bist du da.“
Xaver gab seiner Sabine einen Kuss, dann riskierte er es, die Cori flüchtig zu umarmen. In der Schule damals hatte er eine ganze Weile ganz schön auf sie gestanden. Und sie auch irgendwie auf ihn, wie er meinte. Bis sie dann mit ihren Eltern weggezogen war. Das hatte den pubertierenden Möchtegern-Stenz, der er damals war, ziemlich getroffen.
Auf seinem Heimweg vom Landratsamt hatte er sich schon genüsslich die eine oder andere Eifersuchtsszene mit Sabines Beteiligung ausgemalt. Dass sie und die Cori sich spinnefeind gegenübersäßen. Dass sie sie lauthals anschrie, wonach sie ihn, Xaver, niemals bekäme. Oder dass sie sie vielleicht sogar schon aus dem Haus geworfen hätte. Stattdessen saßen die beiden in bester Laune auf der Terrasse und hatten offenbar einen Umgang gefunden, als wären sie die alten Schulfreunde und nicht die Cori und er. Wie enttäuschend.
Xaver setzte sich dazu und schenkte sich entkoffeinierten Kaffee in Sabines leere Tasse ein.
„Hattest du davon heute nicht schon im Büro genug?“, fragte sie.
„Das ist ein Klischee, das ich nicht bediene“, antwortete Xaver und gab ordentlich Milch und Zucker hinzu.
„Die Sabine hat mir schon ein bisschen was erzählt von dem, was euch plagt“, sagte Corinna. „Wollen wir das jetzt vertiefen?“
Xaver schüttelte den Kopf. „Ich schlage vor, das machen wir später im Beisein von meinem Bruder und seiner Frau. Die beiden betrifft das ja wahrscheinlich noch mehr als uns. Um acht, wenn der Papa zum Stammtisch verschwunden ist, fahren wir zum Hof raus.“
Corinna zog eine amüsierte Schnute. „Darf dein alter Herr etwa nichts von mir wissen?“
„Vorerst lieber nicht“, antwortete Xaver. „Der hat es nicht gern, wenn sich Fremde in Familienangelegenheiten einmischen. Es geht immerhin um unseren Wald. Unter anderem.“
„Noch was anderes“, warf Sabine ein. „Die Corinna schläft natürlich bei uns, oder? Ich richte nachher gleich das Kinderzimmer her.“
„Ich hab mir eigentlich gedacht, sie bei der Fassl-Wirtin unterzubringen“, sagte Xaver etwas verdutzt. „Der Hannes kennt die Cori schließlich auch. Der würde sich freuen.“
„Blödsinn“, protestierte Sabine. „Corinna, du schläfst bei uns, solange du da bist. Es sei denn, du willst lieber zur Fassl-Wirtin?“
„Nein, also, wenn euch das nichts ausmacht, dann bleibe ich gern hier.“ Auch Corinna wirkte von dem Angebot milde überrascht, freute sich aber sichtlich.
„Dann wäre das ja geklärt“, sagte Sabine zufrieden, und die beiden Frauen lächelten sich freundschaftlich an. Das lief irgendwie ganz anders ab, wie es sich Xaver vorgestellt hatte, aber was soll’s.
„Den Hannes müssen wir dann aber trotzdem mal besuchen“, sagte Xaver. „Den habe ich nämlich schon heißgemacht, dass die Cori nach Kipfenberg kommt. Wenn du schon nicht in der Fassl-Pension einziehst, müssen wir zumindest mal bei ihm vorbeischauen.“
„Macht das“, sagte Sabine und erhob sich vorsichtig. „Ich richte derweilen das Zimmer her und mache uns was zu essen. Was hältst du von Spätzle in Bärlauchcreme, Corinna?“
„Klingt fantastisch. Kann ich dir dabei helfen?“
„Hierbei nicht, aber ein andermal gern. Fahrt ihr nur erst mal zum Hannes.“
Nach dem Abendessen fuhren Xaver und die beiden neuen besten Freundinnen im Schwabeder-Hof ein. Dem Papa wollte er die Corinna vorerst verschweigen. Der hatte fremde Einmischung prinzipiell nicht gern und fasste es als Schwäche auf, wenn man andere um Hilfe bat. Vielleicht symptomatisch für die erste Nachkriegsgeneration nach den Trümmerfrauen. Aber auch der Ignaz hatte nicht sonderlich begeistert geklungen, als ihm Xaver heute Vormittag unterbreitet hatte, dass er in diesen Schulfreunden-Schlamassel nun seinerseits eine alte Schulfreundin hinzuziehen wollte. In der Hinsicht hatte der Ignaz viel vom Papa angenommen.
Kurz darauf saßen sie zu fünft am Küchentisch. Die Rhonda hatte freundlicherweise Mineralwasser, Bier und Kekse aufgetragen, aber die Stimmung war eher als gedrückt zu bezeichnen. Xavers Schwägerin schien die Vorbehalte vom Papa zu teilen. Darüber hinaus hatte sie der Ignaz offensichtlich überhaupt nicht informiert, dass er, Xaver, jemanden von außen miteinbezog. Hinzukommend lastete natürlich auch der erschütternd plötzliche Tod von der Ingrid auf den Gastgebern. Inzwischen war durchgedrungen, dass sie wohl einen Stromschlag in der Badewanne abbekommen hatte.
„Was ist denn mit deinem Fuß passiert?“, waren die ersten Worte, die der Ignaz an die Cori richtete.
„So ein blöder Taliban hat ihn mir weggeschossen“, antwortete Corinna. „Hat mein Auto mit schwerer Artillerie unter Feuer genommen, als ich drin gesessen bin.“
„Jetzt sag halt“, bohrte der Ignaz weiter.
Xaver sprang ein. „Ähm … du, Ignaz, das war wirklich ein Taliban“, klärte er seinen Bruder auf. „Die Corinna war Soldatin und in Afghanistan stationiert.“
„Aha.“ Der Ignaz nickte, den Sachverhalt nun durchschauend. „Und wie ist das so mit so einem Ersatzfuß?“
„Ganz okay“, antwortete Corinna.
„Bei Eis und Glätte recht schwierig, oder?“
„Geht so.“
„Darfst du damit Auto fahren?“
„Nein.“
Der Ignaz nickte erneut. „Und sonst? Hast du den immer dran?“
„Nur wenn ich ihn gerade brauchen kann.“
„Also nicht die ganze Zeit.“
„Nein.“
„Beim Schlafen?“
„Nein.“
„Beim Duschen?“
„Da schon. Beim Vögeln lasse ich ihn auch dran. Man ist dann beim Stellungswechsel flexibler.“
„Ah. Ja, das wäre meine nächste Frage gewesen.“
„Können wir jetzt mal anfangen?“, warf die Sabine ein. „Wir haben doch einiges zu erörtern.“
„Allerdings“, bekräftigte Xaver. „Drei Tote in drei Tagen.“
„Wieso denn drei?“, erwiderte die Rhonda aufgeschreckt.
Bei der nachfolgenden Diskussion stellte sich heraus, dass die Rhonda der Theorie von der Sabine zugeneigt war, wonach Xavers gruseliger Fund auf einen Scherz zurückzuführen wäre und gar keine echten Knochen waren. Xaver wurmte das, er nahm es aber gezwungenermaßen hin. Ein offener Streit deswegen brachte nichts. Außerdem war er sich gar nicht mal so sicher, ob ihm wenigstens der Ignaz glaubte. Xaver würde diese Angelegenheit in einer ruhigen Minute mit der Corinna allein besprechen. Als ehemalige Soldatin wusste die vielleicht am besten, wie das aussah, wenn menschliche Körperteile verbrannten.
„Also, ich hätte mir schon ein bisschen mehr Begeisterung und Auskunftsfreude von den beiden erhofft“, sagte Xaver, als er mit Sabine und Corinna um kurz nach neun nach Kipfenberg zurückfuhr. „Ein bisschen mehr über die Jandl Ute und was damals so alles passiert ist. Weil, wenn diese Postkarten echt sind, dann muss die ihren Selbstmord vorgetäuscht haben.“
„Klar, eine Sechzehnjährige soll ihren Tod vorgetäuscht haben“, meinte Sabine mit allem gebührenden Sarkasmus auf dem Beifahrersitz.
„Natürlich mithilfe ihrer Eltern, die sie ja angeblich baumelnd in ihrem Zimmer gefunden haben wollen“, erläuterte Xaver.
„Und warum sollen die Jandls den Tod ihrer Teenagertochter vorgetäuscht haben?“
„Keine Ahnung. Vielleicht wollten sie irgendeine Versicherung bescheißen. Oder die Schulbehörde. Oder wen auch immer.“
„Einen größeren Krampf habe ich noch nie gehört.“
„Morgen sollten wir mal nach Böhming zu den Eltern fahren“, meldete sich Corinna von der Rücksitzbank. „Vielleicht sind sie so freundlich und händigen uns alte Schriftproben, Hausaufgaben und so was von ihrer Tochter aus. Dann könnten wir ihre Handschrift mit der Schrift auf den Postkarten vergleichen.“