Читать книгу Postkarten einer Toten - Thomas Neumeier - Страница 15
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ОглавлениеDie Mama war stinksauer deswegen, nichtsdestotrotz hatte Miriam gestern die Schule geschwänzt. Heute endlich konnte sie damit anfangen, die Ereignisse von Montagnacht zu eruieren. In der ersten Pause schnappte sie sich die Gundl und zog sie in eine stille Ecke des Pausenhofes. In kurzen, prägnanten Worten schilderte sie ihren gestrigen Zustand und gestand ihr ihren Filmriss von etwa drei Stunden.
„Aber ich habe doch gar nicht so viel getrunken“, schloss sie. „Oder habe ich doch? Was war denn da noch los?“
„Das wollte ich dich eigentlich fragen“, entgegnete die Gundl verhalten.
Miriam stutzte. „Wie denn? Du etwa auch? Du hast auch einen Filmriss?“ Da aber fiel ihr schon wieder ein, dass der Papa gesagt hatte, die Gundl und der Florian hätten sie zu Hause abgeliefert. Miriam fühlte sich schon deutlich besser als gestern, aber ihre Feinmotorik brauchte noch eine Eichung. Außerdem fiel ihr das Nachdenken nach wie vor schwer, so als würden noch ein paar übrig gebliebene Nebelschwaden ihres Filmrisses ihr Hirn unsicher machen. Hoffentlich ging das bald vorüber. Übermorgen stand die letzte Mathe-Klausur des Schuljahres an, und bei Miriam ging es um eine Zwei oder eine Drei im Zeugnis.
„Quatsch habe ich“, sagte die Gundl mit einer wegwischenden Handbewegung. „Aber ich möchte wissen, wo du gewesen bist.“
„Du weißt es also auch nicht?“
Die Gundl schüttelte den Kopf. „Wir haben noch über der Laura ihren Freund gelästert, dann hat mich der Flori in den Garten hinaus gedrängt. Dich habe ich kurz darauf noch mit der Aylin plaudern sehen, aber dann warst du nirgendwo mehr aufzutreiben.“
Miriam versuchte vergeblich, sich zu erinnern. „Wie spät war’s da?“
Gundl überlegte. „So halb oder dreiviertel elf, schätze ich mal.“
„Und dann? Wann bin ich wieder zu euch gestoßen?“
„Gar nicht. So gegen eins hat dich der Flori auf der Couch im ersten Stock gefunden. Du hast tief geschlafen, warst gar nicht wach zu bekommen. Wir haben dir dann noch etwas Zeit gegeben. Als nichts dabei rauskam, haben wir dich nach Hause gefahren. Deine Eltern waren ganz schön sauer, oder?“
Das ist nicht mein Hauptproblem, dachte Miriam bei sich. „Ich war also über zwei Stunden weg?“
Die Gundl bestätigte. „Hast du denn echt keine Idee, mit wem du gesoffen haben könntest?“
„Ich erinnere mich leider an nichts. An gar nichts.“
„Komisch.“
„Mit der Aylin hast du mich gesehen, sagst du?“
In der zweiten Pause nahm Miriam die Aylin vertraulich ins Gebet. Die hübsche Halbtürkin mit der Igelfrisur war nur schwer aus der Traube ihrer üblichen Clique der Elftklässler herauszulösen gewesen, doch Miriam hatte keine Ruhe gegeben und sich mit ihrer penetranten Art vor allem genervtes Kopfschütteln eingeholt. Die Aylin war dann schließlich mitgegangen.
„Woher soll ich denn wissen, wo du gewesen bist?“, blökte sie verständnislos. „Bin ich deine Mutter?“
„Wir haben da doch miteinander geredet, oder?“, erkundigte sich Miriam verunsichert.
Die Aylin musterte sie irritiert. „Weißt du das denn nicht mehr?“
Miriam scheute sich, den Kopf zu schütteln und damit ihre Unzulänglichkeit offenzulegen. Nachdem sie schwieg, fuhr die Aylin fort: „Du hast mich nach einem Namen gefragt.“
„Nach welchem denn?“, fragte Miriam.
Die Aylin schaute sie an, als hätte sie eine Schwachsinnige vor sich. Kein Wunder, Miriam kam sich allmählich selbst wie eine vor.
„Sag mal, willst du mich verarschen?“
„Nein“, beteuerte Miriam. „Bitte, Aylin, sag’s mir.“
„Du hast mich nach Kevin gefragt. Den mit dem Pitbull-Sweatshirt und den Baggy Pants. Hat vollkommen lächerlich ausgesehen.“
Ein kurzes Erinnerungsfragment suchte Miriam heim. Vage glaubte sie sich an den besagten Kerl zu erinnern. „Und dann?“, fragte sie.
„Nichts dann. Mehr haben wir nicht geredet.“
„Hast du mich danach noch mal gesehen?“
Die Aylin überlegte. „Hm, nein, ich glaube nicht. Meine Freunde und ich sind dann aber auch schon bald abgezogen. War doch eine ziemlich lahme Party.“
„Aha.“
Aylins unwirsche Miene veränderte sich plötzlich. Sie musterte Miriam eindringlich. „Sag mal“, raunte sie, „ist dir da vielleicht irgendwas passiert?“
Wenn ich das nur wüsste, lag Miriam auf der Zunge.