Читать книгу Postkarten einer Toten - Thomas Neumeier - Страница 6
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ОглавлениеMaivollmond, ein sternenklarer Nachthimmel, stattliche achtzehn Grad Celsius draußen und ein paar mehr in seinem Auto – Hannes wusste aus langjähriger Erfahrung, dass dies optimale Voraussetzungen waren, um romantikbedürftige Urlauberinnen ins Bett zu kriegen.
„Wie weit ist es denn noch?“, fragte die Blonde auf seinem Beifahrersitz mit einer Spur Ungeduld.
„Gleich sind wir da“, erwiderte Hannes in einem Tonfall, der ihre Erwartungen hochhalten würde. „Du wirst staunen, glaub’s mir. Bloß noch ein bisschen weiter.“
Von Wurzeln und Schwemmlöchern ordentlich durchgeschüttelt, kroch sein alter Combi kaum zwanzig Stundenkilometer schnell durch das mondhelle Holz. Der Kiste mehr zuzumuten, würde sich wahrscheinlich als verhängnisvoll erweisen. Außer der Traktorflotte der Schwabeders fuhren hier normalerweise auch selten andere Fahrzeuge lang, und keine flüchtige Weiberbekanntschaft überstieg den Wert eines tadellos funktionierenden Autos.
Auf Scheinwerfer verzichtete Hannes wohlweislich. Der satte Vollmond machte sie überflüssig. Außerdem kannte er den Weg im Schlaf. Er schleppte jedes Jahr sehnsuchtsvolle Seelen hier rauf, um sie hernach in sein Bett zu dirigieren. Im Sommer tat es nicht selten auch die Rücksitzbank seines altgedienten Combis, die sich in den Kofferraum umklappen ließ. Die hübsche Hamburgerin war die erste in dieser Saison. Ob es klappen würde, stand noch offen. Hannes fiel auf, dass sie sich ziemlich steif gegen das Armaturenbrett stemmte. Typisch Städter, grinste er stumm in sich hinein. Gieren nach der Romantik in freier Natur, aber wehe, die Sache verläuft unbequemer, als ein Paar Schuhe zu kaufen.
„Willst du nicht lieber das Licht einschalten, Hannes?“
„Das brauchen wir nicht. Schau dich doch um. Der Mond tunkt den Wald in dieses wundervolle Dämmerlicht. Geradezu magisch, findest du nicht? Die Scheinwerfer würden das völlig kaputt machen.“
Und uns weithin sichtbar, überlegte er. Er wollte nichts riskieren. Womöglich war einer der Schwabeders heute Nacht auf der Pirsch.
Fünf viel zu lange Minuten später, während derer die Hamburgerin durch lautes Schnaufen und nervöse Blicke noch mehrfach Bedenken angemeldet hatte, taten sich die Bäume endlich auf.
„Wir sind da“, gab Hannes mit Hingabe bekannt. „Das habe ich dir zeigen wollen. Na, was meinst du?“
Seine Beifahrerin löste sich endlich aus ihrer starren Haltung und reckte den Kopf zur Windschutzscheibe, während der Wagen sanft in radkastenhohes Gras rollte.
„Eine Lichtung“, stellte sie fest und schaute sich nach allen Seiten um.
Der Vollmond über den hohen Fichtenwipfeln tauchte das Innenleben des Wagens in ein geisterhaftes Licht und verpasste den beiden Insassen eine ungewöhnliche Aura.
Der Hamburgerin gefiel es sichtlich, denn ihr blieb vor Staunen der Mund offen stehen. „Du hast recht. Das ist zauberhaft.“
„Ja, gell? Wie ich gesagt hab.“
Hannes war zufrieden. Es war wohl absehbar, dass er sie rumkriegen würde. Ziemlich mittig auf der kreisrunden Lichtung stoppte er seinen Wagen, gerade rechtzeitig, bevor die Mondkugel und die paar Sterne, die ihr zu Füßen lagen, hinter den Wipfeln verschwanden. Hannes’ Mutter hatte erst heute Morgen eifrig mit ihrer Nachbarin, der redseligen Sanladerin, quer über die Straße debattiert, in welchem Haus Venus und Mars zurzeit stünden und was das für ihren Alltag zu bedeuten hätte. Was er davon hatte aufschnappen können, war Hannes schon wieder aus dem Gedächtnis. Der Mond stand gerade in perfekter Konstellation zu dieser Lichtung, und nur das zählte.
Der weitere Ablauf im Inneren der Karosserie war für Hannes der übliche. Hände fanden sich und blieben einander zärtlich zugetan. Vermeintlich geistreiche Anekdoten über die feinen Unterschiede zwischen der Hamburger Hafengegend und den bayerischen Wäldern wurden ausgetauscht, dazu bestenfalls halbernst gemeinte Hoffnungen und Erwartungen, die nach der einen oder anderen Enttäuschung im Leben noch übrig waren. Hannes kannte dieses Ritual des gemeinsamen Schwelgens, dem ein simples Bedürfnis nach Halt und einem Stückchen Glück zugrunde lag. Als ihm der Moment gekommen schien, hob er die Hand behutsam an ihre Wange. Ein sekundenlanger Augenkontakt war ausreichend, um zu wissen, dass auch sie es wollte. Beider Lippen näherten sich an, ersehnten eine Begegnung.
Doch es kam zu keiner. Hannes brach ab, kurz bevor es so weit war. Aus den Augenwinkeln hatte er im Rückspiegel etwas aufblitzen sehen.
„Was ist?“, fragte die Hamburgerin irritiert.
„Keine Ahnung. Ich dachte, da war was.“
Hannes fuhr herum und beäugte das Areal hinter ihnen durch die ausladende Heckscheibe. Die Hamburgerin tat es ihm gleich.
„Ein Tier wohl, oder wie?“, wollte sie wissen. „Was läuft hier denn so rum? Aber keine Bären, oder? Wölfe wollt ihr Bayern doch wieder ansiedeln, habe ich gelesen. Sind da etwa schon welche da?“ Ein Anflug von Panik schlich sich in ihre Stimme.
„Nein, keine Bären“, sagte Hannes. „Und auch keine Wölfe.“
Fast glaubte er schon, das Mondlicht hätte ihm einen Streich gespielt, als er in der dunklen Waldschneise, aus der sie gekommen waren, eine Bewegung sah. Eine Gestalt nahm menschliche Form an. Hannes fluchte leise.
„Ist das ein Jäger?“, fragte die Hamburgerin.
Hannes schüttelte den Kopf, aber blieb ihr eine Erklärung schuldig. Hier stimmte etwas nicht. Jäger spazierten in einer solchen Nacht nicht durch den Wald, sondern lauerten auf ihren Hochsitzen. Der Wasti kam ihm in den Sinn. Der hatte ebenfalls ein Auge auf den hübschen Urlaubsgast geworfen und grinsend am Stammtisch gesessen, als Hannes und die Hamburgerin vorhin aufgebrochen waren. War er ihnen nachgefahren, um ihm die Tour zu vermasseln? Doch falls das der Wasti war, war er nicht allein. Da war noch jemand. Oder vielleicht sogar mehrere. Das Mondlicht umriss einen Mann mit Hut. Aber das war nicht alles. Hinter ihm in der Finsternis war noch etwas. Hannes glaubte eine unförmige Gestalt auszumachen, die nun am Rand der Lichtung zu Boden ging. Er ließ das Fenster einen Spalt breit herunter. Vielleicht würde er Stimmen hören. Doch nein, da waren keine. Niemand redete da draußen. Der Wald hüllte sich in Schweigen.
„Was geschieht denn da?“, fragte die Hamburgerin. „Wer ist das? Du sagtest doch, wir wären hier ganz allein, weil niemand diese Stelle kennt.“
Kaum anzunehmen, dass diese Leute sie gehört haben konnten, doch just in dem Moment nahm Hannes eine Bewegung des Hutträgers wahr. Vielleicht war ihm der Buckel in der Wiese, der Hannes’ Auto war, erst jetzt aufgefallen. Nein. Das war nicht der Wasti auf Freiersfüßen.
Im nächsten Augenblick zerriss ein Schuss die nächtliche Idylle, und die Heckscheibe des Wagens zersprang in tausend Splitter und Scherben. Die Hamburgerin kreischte. Hannes blieb das eigene Kreischen im Halse stecken. Er startete den Motor und trat das Gaspedal durch. Der Wagen schoss im ersten Gang auf den Schatten am Rande der Lichtung zu. Durch blanken Zufall erwischte er eine Lücke im Ring der Bäume und brach ins Gehölz ein, schrammte Baumstämme und plättete Gebüsch und Sträucher. Der Waldboden neigte sich an dieser Stelle steil nach unten. Von ihren Sicherheitsgurten bequemerweise gelöst, wurden beide Insassen nach vorne geschleudert. Kein Airbag fing sie auf. Die Hamburgerin krachte mit dem Oberkörper gegen das Armaturenbrett. Hannes konnte sich gerade noch am Lenkrad abstützen. Die plötzliche Gewichtsverlagerung bedingte, dass er sowohl Gas als auch Kupplung voll durchdrückte. Der Motor heulte auf und der Wagen raste, der Schwerkraft folgend, zwischen Fichten und Föhren den Abhang hinunter. Dass er auf dieser Abfahrt keinen Stamm frontal rammte, war reines Glück. Etwa sechzig Meter tiefer, wo der Boden weniger abschüssig wurde und außerdem ein Forstpfad kreuzte, gelang es Hannes, seinen Wagen abzubremsen und auf Spur zu bringen. Ohne anzuhalten, geschweige denn über die Fahrtrichtung nachzudenken, schaltete er einen Gang höher und trat aufs Gaspedal.
Für einen kurzen Moment wandte er den Kopf zur Seite. Die Hamburgerin kauerte im Beinbereich des Beifahrersitzes und schaute wimmernd und tränend zu ihm hoch. Ihre Unterlippe war aufgeplatzt, und Blut tropfte auf ihre Bluse. „Hast du nicht gesagt, diesen Platz da oben kennt niemand?“
Plätze, die niemand kannte, gab es nicht, wusste Hannes. War es letztlich der alte Schwabeder selbst gewesen, der die Flinte auf ihn gerichtet hatte? Hannes zitterte am ganzen Leib und fuhr tapfer weiter. „Hab mich wohl geirrt.“