Читать книгу Postkarten einer Toten - Thomas Neumeier - Страница 20
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ОглавлениеNoch vor der Arbeit begab sich Xaver Donnerstagfrüh erneut an die Stelle, an der er vor zwei Tagen das schaurige Lagerfeuer entdeckt hatte. Der Ring aus Steinen war noch da. Darin ein feiner Teppich von Asche. Die Polizisten hatten sich hier sorgfältig umgesehen, hatte der Schlupf Benni behauptet. Irgendwelche Hinweise auf den Knochensammler sollten also nicht mehr zu finden sein. Nichtsdestotrotz verspürte Xaver ein dringendes Bedürfnis, sich hier umzuschauen. Hier hatte er sich in vermeintlich trauter Idylle einen großen Schrecken eingefangen. Dieses Erlebnis verlangte nicht nur Klärung, sondern auch Aufarbeitung. Er wollte vermeiden, dass er bei künftigen Waldbesuchen immer dieses Bild von einem grinsenden Totenschädel zwischen Glut und Asche mit sich herumtrug. Er musste das verscheuchen, und das ging nur, wenn er hierher zurückkehrte und das Rätsel löste. Zum ersteren Teil hatte ihn auch Sabine ermuntert. Das Rätsel zu lösen, hatte er sich selbst auferlegt.
Xaver gedachte, von hier ins Schambachtal hinabzusteigen, weil ihm das der einzige logische Fluchtweg schien, den der Knochenklauer genommen haben konnte. Vielleicht würde sich irgendwo eine Spur von ihm finden. Er hielt inne, als er etwas hörte. Ein taktvolles, kräftiges Brummen, das näherkam. Wahrscheinlich oben am Forstweg. Xaver fuhr herum. Den Sound seiner alten Maschine würde er auch in einem grölenden Bierzelt wiedererkennen. Er hastete zur Feuerstelle zurück und den sacht ansteigenden Hang hinauf. Der rohe Klang seiner alten Derbi kam näher. Was trieb ein sechzehnjähriger Kindinger um diese Uhrzeit an einem Schultag im Wald?
Fast oben am Weg angelangt, suchte Xaver hinter einer Eiche Deckung und wartete ab. Schon kam das erwartete Gefährt aus Kipfenberger Richtung herangebraust. Der Fahrer trug einen schwarzen Helm, eine gleichfarbene Lederjacke und dunkelblaue Jeans. Mit Höchstgeschwindigkeit, was bei diesem Zweirad bei günstigem Wind etwa 60 km/h waren, passierte er Xaver, ohne ihn zu bemerken. Kurz darauf verschwand er aus seinem Sichtfeld um eine Biegung.
Vorgestern, als Xaver Hand und Schädel gefunden hatte, war seine alte Maschine ebenfalls durch den Wald geknattert. Heute tat sie es wieder. Missbrauchte das Kindinger Balg diesen Waldweg etwa irgendwie als Abkürzung? Der anmutige Lärm des Eintakters war noch gut hörbar, als der Fahrer vom Gas ging. Kein Zweifel, er hatte angehalten. Was hatte das jetzt zu bedeuten? Xaver stieg die zwei Meter zum Forstweg hoch und nahm die Beine in die Hand. Er lief in die Biegung und stoppte, als er etwa zweihundert Meter voraus die Derbi und ihren Fahrer erspähte. Doch die beiden waren da nicht allein. Ein silberfarbenes Auto, das Fabrikat konnte Xaver wegen des sichtraubenden Mopeds nicht erkennen, hatte mitten auf dem Weg angehalten, und ein Insasse war ausgestiegen. Er stand bei dem Mopedfahrer und überreichte ihm etwas. Es sah aus wie eine Plastiktüte. Der Mopedfahrer nahm sie entgegen und packte sie unter seine Lederjacke. Dann wendete er die Derbi und heizte zurück in Richtung Kipfenberg. Xaver ging erneut in Deckung und ließ ihn passieren. Der silberne Wagen fuhr geräuschlos rückwärts, wendete und fuhr ebenfalls davon. Das Fabrikat hatte Xaver wieder nicht erkannt, geschweige denn ein Kennzeichen.
Xaver ging davon aus, dass auch Geld den Besitzer gewechselt hatte. Was das bedeutete, lag auf der Hand: Der Schwabeder-Wald wurde als Umschlagplatz für illegale Geschäfte benutzt. Wahrscheinlich ging es um Drogen. In Xaver stieg die Wut hoch. Das würde er nicht auf sich beruhen lassen. Und der Papa und der Ignaz auch nicht. Drogen hatten maßgeblich Schuld daran, dass die kleine Lisa nicht mal ein Jahr alt werden durfte. Beim Verlassen einer Arztpraxis war dem Ignaz und der Rhonda damals eine Gruppe Heranwachsender in den Weg getreten. Was sie von ihnen wollten, hatten sie nie erfahren. Einer von ihnen hatte der Rhonda das Bündel aus dem Arm gerissen, das die kleine Lisa war. Womöglich hatte er es für eine Tasche mit wertvollem Inhalt gehalten. Bei dem nachfolgenden Gerangel fiel es aufs Pflaster. Die kleine Lisa hatte schwere Kopfverletzungen erlitten und war ein paar Tage später im Krankenhaus gestorben.
Der Prozess gegen den Haupttäter fand ein halbes Jahr später statt. Dem Ignaz und der Rhonda hatte die Kraft gefehlt, dem beizuwohnen. Das war auch besser so. Aufgrund des Drogenkonsums war der Haupttäter nur bedingt schuldfähig gesprochen worden und bekam eine unbedeutende Strafe, über die er sich wahrscheinlich noch heute köstlich amüsierte. Der Tod der kleinen Lisa ging nicht einmal als Totschlag, sondern als Unfall in die Statistiken ein. Der gegnerische Anwalt hatte sogar der Rhonda die Schuld an allem zuzuschieben versucht. Wollte geltend machen, sie hätte, labil wie sie doch sei, ihr Baby selbst zu Boden geschmissen.
Wütend trat Xaver gegen den nächsten Baum, um sich abzureagieren. Die Sabine war schwanger. Es hätte der schönste Sommer seines Lebens werden sollen. Aber jetzt das. Im Schwabeder-Wald wurden nicht nur menschliche Köpfe und Hände geröstet, es wurden auch illegale Geschäfte abgewickelt. Wahrscheinlich hing beides sogar irgendwie zusammen. Und zu allem Überfluss benutzte dieses Gesindel dabei auch noch seine gute alte Derbi.
Der Ignaz musste umgehend von allem erfahren. Da fiel Xaver wieder ein, dass seinen großen Bruder derzeit noch ein paar andere Dinge plagten: diese seltsamen Postkarten von einer Toten und damit der jüngst verstorbene Gruber Maxi und das blöde Klassentreffen. Das wurde allmählich ein bisschen viel und vor allem unübersichtlich, wie sich Xaver eingestand. Er musste den Veit anrufen und nach Hause pfeifen. Der war zwar oft ein wenig ungestüm und büffelhaft, genau wie der Papa früher, aber vielleicht war das genau das, was sie jetzt brauchten. Hier musste jetzt ordentlich aufgeräumt werden.
Im Verlaufe des Tages, während er im Landratsamt mühsam unterschiedlichste Bewilligungsgesuche bearbeitete, überlegte es sich Xaver anders. Der Veit war wahrscheinlich doch nicht der Richtige, Licht in diese Geschehnisse zu bringen. Das hier ging über Kipfenberg und den Schwabeder-Wald hinaus. Sinnvoller wäre es, den Schlupf Benni hinzuzuziehen. Allerdings bestand die Möglichkeit, dass der ihn seit vorgestern für einen Schwachsinnigen hielt.
Eine endgültige Entscheidung wollte Xaver zu Hause fällen. Dort aber überfiel ihn seine Frau erst mal mit einer Neuigkeit, die ihm beinahe den Fußboden wegzog.
„Mensch, Xavi, du wirst es nicht glauben, aber gestern Abend ist noch jemand vom Ignaz und der Rhonda ihrer alten Klasse verstorben.“
Xaver glaubte, sich verhört zu haben, und horchte nach.
„Noch eine ist tot“, erläuterte die Sabine. „Eine aus Hirnstetten. Ingrid Ulmen. Ein häuslicher Unfall, hat es geheißen.“
Ingrid Ulmen. Der Name wühlte Xaver auf, wie es gerade nicht viele andere hätten tun können. Zittrig zog er seinen Stuhl unter dem Küchentisch hervor und setzte sich. Ein häuslicher Unfall. Einen Tag nach dem Verkehrsunfall vom Gruber Max.
„Die habe ich gestern getroffen.“
„Was hast du?“
„Das war die, die gestern am Hof war, als ich rausgefahren bin.“
Nun nahm auch die Sabine Platz, ungeachtet, dass die Schnitzel in der Pfanne am Herd jeden Moment anbrennen mussten.
„Das ist ja furchtbar“, sagte sie. „Waren sie denn gut befreundet?“
„Nein, wohl nicht“, sagte Xaver. „Die haben viele Jahre lang keinen Kontakt mehr gehabt.“
„Warum war die dann gestern da?“
„Wegen dem Gruber.“
„Ach so. Klar, hätte ich mir denken können.“
„Merkst du nicht, dass da irgendwas nicht stimmt?“, fragte Xaver.
„Was soll nicht stimmen?“
„Knochen in unserem Wald, zwei alte Schulkameraden vom Ignaz sterben kurz vorm Klassentreffen, und dann die komischen Postkarten.“
„Was für Postkarten?“
„Ach ja, das habe ich dir noch gar nicht erzählt.“
Beim abendlichen Rasenmähen kurz vor Sonnenuntergang war Xaver so in Gedanken vertieft, dass er mehrere Blumenstauden und Zierbüsche ihres Gartens in Mitleidenschaft zog. Am Dienstagmorgen die Knochen, Dienstagabend der Gruber tot, gestern Abend die Ingrid tot. Beides alte Klassenkameraden vom Ignaz und der Rhonda, die ebenfalls jahrelang so makabre Postkarten von einer Toten bekommen hatten. Das stank zum Himmel. Und dann waren da noch die heimlichen Geschäfte im Schwabeder-Wald.
Nach dem Rasenmähen setzte sich Xaver in seinen Wagen und fuhr zur Fassl-Wirtin, wo der Schlupf Benni heute seinen wöchentlichen Schafkopf-Abend zelebrierte. Xaver musste unbedingt mit ihm reden. Vielleicht war inzwischen jemand als vermisst gemeldet worden. Und vielleicht war dieser Jemand ebenfalls ein alter Schulkamerad seines Bruders. Falls nicht, sollte der Benni wenigstens von den krummen Geschäften im Wald erfahren. Von den Postkarten wollte er ihm nichts erzählen. Nicht ohne Einverständnis vom Ignaz.
Xaver parkte seinen Wagen im gepflasterten Parkplatz vor der Fassl-Pension. Die Fasslerin betrieb hier ein beliebtes Wirtshaus mit ein paar Fremdenzimmern und einem gemütlichen Biergarten mit Blick auf die Altmühl. Der Himmel war noch nicht völlig dunkel, aber inzwischen brannten die von der Brauerei gesponserten Zaunlaternen. Es war noch kein richtig warmer Sommerabend, aber der Biergarten war etwa zur Hälfte besetzt. Ein Teil davon waren unverkennbar Touristen. Radl-Touristen, wie die Herde von Drahteseln am Zaun schließen ließ. Am Außenstammtisch saßen ein paar Einheimische, zwei Tische weiter das Schafkopf-Quartett, dem auch der Benni angehörte. Xaver zog einen Stuhl heran und setzte sich ungefragt dazu. Proteste gab es nicht. Viele Schafkopfer ließen sich gern dabei zuschauen, wenn sie mit strategischen Meisterleistungen ein schwieriges Spiel für sich entschieden.
„Xavi, alles klar bei dir?“, bemerkte der Benni mit einem aufgeräumten Lächeln, ließ sein Blatt aber nur für einen kurzen Moment aus den Augen.
„Bei mir schon“, brummte Xaver. Mehr verlautete er vorerst nicht. Er wollte nicht gleich mit der Tür ins Haus fallen. Schafkopfer reagierten zuweilen recht empfindlich auf Störungen. Die Mitspieler vom Benni kannte Xaver nur vom Hörensehen. Zwei Enkeringer und ein Beilngrieser, soweit er wusste.
„Tut’s mal rein auf einen Wenz“, sprach der Benni mit hochzufriedener Miene in die Runde.
Xaver studierte seine Erfolgsaussichten. Der Eichel- und der Herz-Unter, zwei Säue in Grün und Herz, letztere mit Zehner und Ober besetzt, und zwei Schellen-Spatzen. Auskarter war der dicke Blonde aus Beilngries. Er kartete die Schellen-Sau.
„Da kriegst eine Spritze, Benni“, sagte der Dunkelhaarige, der dem Benni diagonal gegenübersaß, und legte ein Geldstück aus seiner Schüssel auf den Tisch, noch bevor der Benni einen seiner Spatzen zugegeben hatte. Ein Re ließ er in weiser Voraussicht bleiben. Er verlor das Spiel mit Schneider, da der Dunkelhaarige nicht nur die anderen beiden Unter, sondern auch vier Mal Eichel auf der Hand hatte.
„Zefix aber auch“, schimpfte der Benni Xaver ins Gesicht. „Kaum sitzt du da, geht nix mehr. Vorhin habe ich noch einen Lauf gehabt. Was ist denn?“
„Ich muss mit dir reden“, sagte Xaver.
„Geht’s um euren Wald?“
„Ja.“
„Dann komm morgen in Beilngries vorbei. Falls ich nicht da bin, werden die Kollegen alles aufnehmen.“
„Benni, inzwischen ist die Sache ein bisschen größer geworden.“
„Ein Grund mehr, dass du in die Inspektion kommst.“
„Das geht nicht. Zefix, Benni, jetzt geh halt schnell ein paar Minuten mit!“
Der Benni seufzte und wandte sich an seine Mitspieler. „Entschuldigt mich kurz, Jungs, ich bin gleich wieder da.“
„Hey, Xavi, hast du etwa deine alte Derbi verscherbelt?“, rief jemand quer über den Biergarten.
Xaver fuhr herum. Der Hannes, der einzige Sohn von der Fassl-Wirtin und außerdem ein Schulspezl von ihm, kam gerade mit einem vollen Tablett aus der Schänke.
„Ja, hab ich“, erwiderte ihm Xaver ungewollt barsch und marschierte auch schon weiter.
„Servus dann“, rief ihm der Hannes nach. „Grüß mir deinen Papa recht freundlich, ja?“
„Ja ja“, quittierte Xaver, ohne sich noch einmal umzudrehen.
Blödsinn. Warum sollte er dem Papa einen Gruß ausrichten, wo der morgen Abend doch eh wie jeden Freitag zum Stammtisch käme.
„Du meinst also, da wickelt irgendwer Drogengeschäfte in eurem Wald ab“, resümierte der Benni am Parkplatz der Fassl-Wirtschaft.
„Liegt doch nahe, oder?“, erwiderte Xaver. „Vielleicht hat die Leiche am Dienstag auch damit zu tun.“
„Was für eine Leiche?“
„Na, der Kopf und die Hand im Feuer!“
„Also bis jetzt, Xavi, ist da noch gar nichts bewiesen. Wir haben Ascheproben genommen und nach München geschickt, aber es kann dauern, bis da …“
„Herrgott, Benni, bei uns sterben Leute!“
„Ach, woher denn. Bis jetzt ist noch niemand vermisst gemeldet worden. Bei uns jedenfalls nicht.“
„Damit meine ich ja jetzt auch die beiden Unfälle gestern und vorgestern. Da bei Kinding und in Hirnstetten. Pass auf: Der Gruber Max hat einen Autounfall gehabt, die Ulmen Ingrid einen im eigenen Haus. Beide sind gleich alt und waren mit meinem Bruder und meiner Schwägerin in der Schule.“
„Ja und? So was passiert halt. So was passiert überall.“
Xaver wurde immer fuchsiger, aber er sah ein, dass ohne die Postkarten das mysteriöse Moment an der Sache ausgespart blieb und ein essenzieller Verbindungspunkt fehlte.
„Es ist also noch keiner als vermisst gemeldet worden“, fasste er etwas versöhnlicher zusammen.
Der Benni schüttelte den Kopf. „Vielleicht hat dir da einer einen blöden Streich gespielt. Du weißt ja, so Horrormasken und Zeugs kriegt man überall.“
Xaver erkannte, dass das so keinen Sinn hatte. „Werdet ihr wenigstens etwas wegen der Drogen unternehmen?“
„Ja, das werden wir garantiert“, versicherte der Benni. „Wir haben ab jetzt ein Auge auf euren Wald.“
Wenigstens ein kleiner Sieg, dachte Xaver. Ein Dankeschön rang er sich nicht ab, aber er nickte dem Benni anerkennend zu. „Gut Blatt noch.“
Xaver fuhr nach Hause. Jetzt noch zum Ignaz zu fahren und Ingrids Tod zu diskutieren, versprach keine Fortschritte. Sie brauchten Hilfe von außerhalb. Jemanden, der in diesem seltsamen Dickicht ein Muster entdeckte. Auf den Benni traf das leider nicht zu. Doch Xaver kam jemand anderes in den Sinn. Vielleicht hatte ihn die kurze Begegnung mit dem Hannes darauf gebracht. Er erinnerte sich an eine gemeinsame Schulfreundin, die inzwischen so eine Art Detektivbüro unterhielt, wie er beiläufig mal erfahren hatte. Morgen würde er ihre Adresse und Telefonnummer raussuchen. Vielleicht würde die Corinna ihnen helfen können.