Читать книгу Postkarten einer Toten - Thomas Neumeier - Страница 7
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ОглавлениеSechs Uhr morgens war ohne Zweifel die schönste Zeit des Tages. Die Autos standen noch in den Garagen, die Leute lagen noch in ihren Betten. Freilich, draußen im Wald war das zweitrangig, denn hier hörte man den Lärm der Menschheit sowieso nicht.
Der Wald war in der Frühe etwas Besonderes. In den Senken zogen noch die Nachtschatten umher, standhaft weigernd, sich vom Tagesanbruch verscheuchen zu lassen. Tau benetzte Steine, Moos und Holz, und ein unvergleichlich aromatischer Duft von Kiefernnadeln und anderen Waldschätzen lag allgegenwärtig in der Luft. Im Frühjahr kostete Xaver Schwabeder diese gesegnete Zeit mindestens einmal die Woche aus, bevor er zur Arbeit fuhr.
Der Wildbestand im weitläufigen Schwabeder-Holz war seit Jahren rückläufig, wofür der Papa und der Ignaz, Xavers älterer Bruder, sorgten. Der Verkauf von Brennholz war nicht erst seit der Energiewende zu einer lukrativen Nebeneinnahme geworden, deshalb taten sie gut daran, die Verbissschäden durch Schalenwild auf ein Minimum einzugrenzen. Außerdem hielt es den Wald gesund, den Wildbestand in einem akzeptablen Rahmen zu halten.
Gerade als Xaver bei einer Fichte Käferbefall diagnostizierte, durchbrach die Stille ein störendes Geräusch. Ein Eintaktermotor knatterte durch den morgendlichen Wald, noch dazu einer, der äußerst vertraut klang. Xaver spurtete eine Anhöhe hinauf, um sich Gewissheit zu verschaffen. Das Knattern entfernte sich schon wieder. Auf dem Forstweg, etwa dreißig Meter unter ihm, war nichts zu sehen. Trotzdem war er sich nahezu sicher, gerade seine alte Maschine gehört zu haben. Seine 50er Derbi mit dem Loch im Krümmer, die er im März nach jahrelanger Einwinterung für einen Freundschaftspreis von zwanzig Euro einem sechzehnjährigen Halbstarken aus Kinding abgetreten hatte. Es war ihm nicht leichtgefallen, das mit so vielen Erinnerungen bepackte Gefährt herzugeben. Leider hatte der Ignaz den Platz im Stadel für die neue Sämaschine gebraucht.
Xaver wollte sich schon wieder abwenden und zum Käferbaum zurückkehren, als er Rauch aufsteigen sah. Fahle graue Schwaden, kaum vom morgendlichen Nebel zu unterscheiden, umwehten jenseits des Forstweges das Geäst einer großen Tanne. Hatte der Kerl hier etwa gezündelt? Xaver glitt und hangelte sich vorsichtig den Abhang hinunter, überquerte den Forstweg und ließ weitere Höhenmeter hinter sich. Der Rauch quoll aus einer Senke. Was immer dort brannte, es konnte kein Frischholz sein, sonst wäre die Rauchentwicklung intensiver. Ein verlassenes Lagerfeuer möglicherweise. Vielleicht hatten die Kindinger hier letzte Nacht eine kleine Party veranstaltet.
Tatsächlich entdeckte Xaver eine Feuerstelle.
Zusammengetragene Steine umrandeten das etwa anderthalb Meter durchmessende Lagerfeuer. Das nur noch kokelnde, rußgeschwärzte Holz stellte keine Gefahr für die umstehenden Büsche und Bäume dar. Wer immer es entfacht hatte, wenigstens verstand er etwas davon. Trotzdem war es ein Unding, ein nicht vollständig gelöschtes Feuer unbeaufsichtigt zu lassen, noch dazu in einem Wald. Xaver erwog schon eine Anzeige, dann besann er sich eines Besseren. Auch er hatte in jungen Jahren Dummheiten und Unsinn angestellt. Den Kerl, der nun seine Derbi heizte, zur Rede zu stellen und ihn bei Bedarf ordentlich in der Altmühl zu wässern, erschien ihm fairer, als ihn dem Gesetz auszuliefern.
Ein schaler Geruch wie von verbranntem Gummi stieg Xaver in die Nase. Doch da war noch mehr. Etwas ekelhaft Süßliches, das ihm unbekannt war. Ein Stich Grau inmitten der schwarzen Holzüberreste erregte seine Aufmerksamkeit. Er stieß mit seinem Stiefel in die Glut und räumte den Gegenstand frei. Zunächst hielt er ihn für einen Stein. Dann jedoch drehte sich ihm ein grinsender Totenschädel zu. Ein eisiger Schauer rieselte Xaver den Rücken hinab.
Mit angehaltenem Atem wich er einen Schritt rückwärts und versuchte zu begreifen, was er da sah. Das war jetzt aber schon ein ziemlich blöder Scherz. Ein Keramikmodell aus Faschingsbeständen wahrscheinlich. Klar, was sonst? Boshaft und höhnisch schaute das Ding von kokelndem Holz und Asche umrandet zu ihm hoch. Warum hatte jemand das hier ins Feuer gelegt? Um ihn anzuschwärzen und damit ein bisschen gruseliger aussehen zu lassen? Xaver nahm einen Stock und hob den Grinser an der linken Augenhöhle ein Stück an. Er war innen keineswegs hohl, so wie er erwartet hatte. Was war das? Hatten sie ihn mit Erde aufgefüllt? Ein neuer Gedanke pumpte ihm Schübe von Adrenalin durch Mark und Bein: Das könnten Fleisch und Hirnmasse sein.
Unsinn. Unmöglich. Ausgeschlossen, versuchte er sich einzureden, was aber nicht recht gelingen wollte. Das kalte Grauen hielt ihn weiter gepackt. Erst recht, als ihm auffiel, dass auf der anderen Seite noch mehr Knochenartiges aus der Glut ragte. In einem Zustand wie von der Wirklichkeit entrückt, wechselte Xaver hinüber und scharrte erneut mit dem Stock und seinem Stiefel Asche beiseite. Damit legte er eine feingliedrige, knochige Menschenhand frei, ebenso rußgeschwärzt wie der Schädel. Klumpen und Fäden von nicht vollständig verbranntem Fleisch und Sehnen hafteten noch daran. Xaver stolperte beinahe, als ihm sein Frühstück hochzukommen drohte, und gab schließlich dem dringenden Verlangen nach, sich hinzusetzen. Hitze stieg in ihm auf und kalter Schweiß perlte ihm von der Stirn. Schwindel. Der Wald fuhr um ihn herum Karussell.
Dem stillen Wächter hinter den nahen Büschen kam sein Auftauchen höchst ungelegen. Zum Tagesanbruch sollte die Brandwacht längst beendet sein. Er hatte das Risiko für vertretbar bewertet, das Material noch ein bisschen länger vom Feuer reinigen zu lassen. Das hatte sich nun als Fehler erwiesen. Nun ja, weder sein erster noch sein letzter. Jetzt galt es zu improvisieren und die weiteren Schritte des jungen Schwabeders abzuwarten, der jetzt kaum drei Meter von ihm entfernt im Moos kauerte.
Kompliziert würde es, sollte dem Kerl einfallen, das Zeug mitzunehmen. Dann bliebe nichts anderes übrig, als ihn zu überwältigen. Das Zeug musste verschwinden. Für immer und ewig.