Читать книгу Postkarten einer Toten - Thomas Neumeier - Страница 19
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ОглавлениеDuschen half nicht. Wie lang Miriam auch unter fließendem Wasser stand, das, was sie von sich runterwaschen wollte, ließ sich nicht runterwaschen. Auch nicht, wenn sie zwei Stunden später schon wieder unter die Dusche stieg.
Die Zeit schien seit jenem bewussten Dienstagmorgen irgendwie anders zu vergehen. Sie zog dahin, aber sie nahm Miriam nicht mit. Es kam ihr vor, als würde sie ihr ständig ein paar Schritte hinterherhinken. Aus dem Haus zu gehen, fühlte sich nicht gut an. Es fühlte sich sogar falsch an. Leider fühlte sich aber auch ihr Zimmer gerade ziemlich falsch an. Irgendetwas hatte sich da drin verändert. Wenn auch nichts, was man mit bloßem Auge erkennen könnte.
Noch falscher fühlten sich die Schule und jegliche Interaktion mit ihren Klassenkameraden an. Die letzten Prüfungen des Schuljahres sollten sie eigentlich alle dick zusammenschweißen. Miriam aber schien sich weiter und weiter von ihnen zu entfernen. Sogar von der Gundl. Vielleicht weil sie und alle anderen erfolgreich mit der Zeit Schritt hielten, während sie, Miriam, aus Gründen, die sie nicht verstand, zurückzubleiben drohte. Sie brauchte dringend jemanden, der sie zurück auf Spur brachte. Jemanden, der ihr den Weg zeigte. Wenn das mal so einfach wäre.
Dein Alter ist ja irgendwie schon ein cooler Hund, hörte Miriam zuweilen, aber nur von ganz bestimmten Leuten. Dein Alter ist schon ein bisschen schräg, hörte sie schon öfters. Dein Alter ist eine richtige Niete, träfe es am besten, aber anstandshalber sagte das niemand in ihrer Gegenwart. An den Gegebenheiten änderte das aber nichts. Miriam Fiedel brauchte nun einen Vater. Einen verlässlichen Anker und lebensweisen Ratgeber. Harald Fiedel aber war ein inzwischen vierzigjähriger Dauergrinser, der sich für einen großen Freidenker und Rebellen hielt, weil er im Gewächshaus Marihuana anbaute und täglich davon konsumierte. An höchstens drei Tagen die Woche half er als Packer in einer örtlichen Kartonagenfirma aus. An den anderen widmete er sich seiner Selbstverwirklichung und der Erweiterung seines Bewusstseins, wobei ihm fernöstliches Schalmeiengedudel und Räucherstäbchen unter die Arme griffen. Vom THC berauscht und von der Musik geflasht, saß er dann an seinem Laptop und tauschte sich in entsprechenden Foren und Chatrooms mit Gleichgesinnten aus. Ab und zu lud er auch welche zu sich ein. Dann kifften sie gemeinsam im Gartenhäuschen und gaben sich gemeinsam der Illusion hin, sie wären so eine Art subversive Kraft, mit der man rechnen müsse. Miriam hoffte, sie würde eines Tages Mut und Wut aufbringen, ihrem Vater zu sagen, wie peinlich sie ihn fand. Am besten frühmorgens, wenn ihm Vorwürfe mangels THC noch nicht einerlei waren.
Die Mama hatte diese Woche Spätschicht. Nachdem sie vormittags schon den Haushalt gemacht hatte, wollte Miriam sie nur ungern auch noch mit ihren neuerlichen Sorgen belästigen, doch es war kein anderer da. Der Papa, der es sich spätnachmittags bereits im Gartenhäuschen bequem gemacht hatte, würde sie in seinem gegenwärtigen Zustand allenfalls doof angrinsen und salbadern, das sei doch alles bestimmt nicht so ernst.
Doch es war ernst. Oder? Wie schön wäre es doch, wenn es nicht ernst wäre. Dann würde vielleicht auch Duschen wieder helfen.
Du, Mama, auf der Party am Montagabend, da ist vielleicht etwas sehr Schlimmes passiert. Nein. Du, Mama, ich glaube, ich bin vergewaltigt worden. War das der richtige Einstieg? Nein, auch nicht. Vielleicht wäre es besser, mit den Schmerzen im Unterleib anzufangen und die Mama dann selbst auf Weiteres schließen zu lassen. Das Resultat wäre dann allerdings, dass die Mama sie bis zur Volljährigkeit nie wieder ausgehen lassen würde. Miriam hatte zudem keinerlei Beweise, die ihren Verdacht stützten. Womöglich machte sie ja doch gerade unnötig Pferde scheu. Vielleicht hatte sie auf der Party einfach einen zu viel getrunken. Das leichte Ziehen und Brennen in der Scheidenwand könnte vielleicht auch was mit ihrer nahenden Monatsblutung zu tun haben.
Vielleicht aber auch nicht. Die Aylin hatte Miriam angeboten, einen Kontakt herzustellen. In der Aylin ihrer Clique gab es nämlich jemanden, der über ähnliche Symptome klagte: die Meier Anneke aus Pfahldorf. Miriam kannte sie nur flüchtig. Es war jetzt halb sieben abends und eigentlich noch nicht zu spät, um sie zu besuchen. Kurz entschlossen sattelte Miriam auf ihr Fahrrad.
Über den Limes-Radweg, vorbei an der Turmstelle auf dem Pfahlbuckel, radelte Miriam nach Pfahldorf hinauf, einem so verträumten wie idyllischen Ort auf der Jurahochfläche westlich von Kipfenberg, das auch jetzt noch im abendlichen Sonnenschein badete, wo im Tal schon Schatten umherzogen. Ein Vorzeigeexemplar beschaulicher, ländlicher Harmonie und Gemütlichkeit, die allenfalls von der lauten Rap-Musik aus dem Haus gegenüber der Meiers einen kleinen Einbruch erhielt.
„Die Aylin hat mir schon gesagt, dass du wahrscheinlich auftauchen würdest“, eröffnete die Anneke, nachdem ihr Vater sie auf Miriams Wunsch hin an die Haustür geholt hatte.
Die Aylin hatte sie also vorgewarnt. Gut, das erleichterte die Sache. „Können wir irgendwo reden?“, bat Miriam dennoch verlegen. „Ungestört?“
Die Anneke nickte. „Komm, gehen wir ein Stück.“
Die Meier Anneke war zwei Jahrgänge über Miriam und machte gerade ihr Abi. Sie sah außerdem viel attraktiver aus als sie, befand Miriam. Normalerweise hätte sie sie gar nicht angesprochen, weil sie gewissermaßen in einer höheren Liga spielte. Ihr fuchsrotes langes Haar mit den vagen Locken war Natur, da war sich Miriam ziemlich sicher, und dafür beneidete sie sie. Ihr eigener blonder Schopf war furchtbar pflegebedürftig und ließ sich nie in die Form bringen, die sie wollte.
Im letzten Sonnenlicht dieses Tages spazierten die beiden den Limes-Weg entlang.
„Du hast also einen Filmriss, den du dir nicht erklären kannst“, läutete die Anneke ein, und Miriam war dankbar, dass sie es getan hatte.
Sie bestätigte beflissen. „Ich trinke eigentlich nicht viel. Ein bisschen was halt. Schmeckt mir alles nicht, das Zeug. Ich kann mir deshalb nicht vorstellen, dass ich am Montag mehr getrunken habe als sonst. Aber mir fehlen trotzdem etwa drei Stunden. Das ist total … beunruhigend, irgendwie. Na ja, und jetzt habe ich halt die Befürchtung, dass mir da einer was ins Glas gemischt hat. So K.-o.-Tropfen. Darüber habe ich was im Internet gelesen.“
„Wie ist es dir am nächsten Morgen gegangen?“, fragte die Anneke.
„Ich habe mich ziemlich beschissen gefühlt“, antwortete Miriam. „Zittrig, benommen, etwas Kopfweh, Schwindel. So fühlt es sich an, wenn man einen Kater hat, schätze ich. Aber ich kann es mir echt nicht vorstellen, woher ich den haben soll.“ Sie setzte kurz aus, bevor sie nachlegte. „Und was ist bei dir gewesen?“
„So was Ähnliches“, sagte die Anneke. „Es war in den Osterferien im Dirio. Meines Wissens habe ich nur einen einzigen Cocktail getrunken. Aber plötzlich war ich weg. Ich weiß nicht, was passiert ist. Am nächsten Tag bin ich zu Hause in meinem Bett aufgewacht. Mit ähnlichen Beschwerden wie du. Die anderen haben mir erzählt, ein Security hätte mich völlig neben der Spur draußen im Hof aufgelesen. Dann haben sie mich heimgebracht. Ich kann mich an nichts davon erinnern.“
„Und keiner hat dir sagen können, was du gemacht hast?“
„Nein, keiner. Daraus muss ich schließen, dass ich mich nicht in der Disco aufgehalten habe.“
„Warst du verletzt?“
Die Anneke nickte. „Ich hab Schmerzen gehabt. Unten.“
Dieser unheilvollen Offenbarung folgte ein Austausch über die Leute, die an den jeweiligen Abenden anwesend waren. Es fielen die Namen von Schulkameraden, Freunden, Bekannten, Bekannten von Freunden und flüchtigen Gesichtern, die überall dort auftauchten, wo in der Gegend gerade etwas los war. Es gab etliche Überschneidungen.
„Glaubst du“, begann Miriam, brach aber ab. Es war schwer, den sich aufdrängenden Gedanken auszuformulieren. Es auszusprechen bedeutete, es noch näher heranzuholen, es zu konkretisieren, es zu akzeptieren. Sie atmete schwer und ihr Herz schlug schneller. „Anneke, glaubst du, wir sind vergewaltigt worden?“
Die Anneke sagte nichts. Was genug war. Miriam war es mit einem Mal unerträglich, in ihrer eigenen Haut zu stecken. Tränen stiegen ihr hoch und überfielen sie. Unmöglich, sie zurückzuhalten. Sie schlug die offenen Hände vors Gesicht und sackte auf dem fein geschotterten Weg zu einem Häufchen Elend zusammen.
„Nein“, wimmerte sie. „Nein, bitte nicht …“
Die Anneke setzte sich neben sie und nahm sie in die Arme.