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Zuständig für Kipfenberg und Umgebung zeichnete sich die Polizeiinspektion Beilngries. Die routiniert anfallenden Vergehen, mit denen sich die Beamten auseinandersetzen mussten, waren vor allem Sachschadens- und Eigentumsdelikte. Anrufe von aufgeregten Leuten wegen abgetrennter Köpfe, die in Lagerfeuern geröstet wurden, kamen eher selten vor.

Xaver hatte dem diensthabenden Polizisten am Telefon beschrieben, wie sie am einfachsten auf den fraglichen Forstweg gelangten. Nun wartete er ungeduldig auf den versprochenen Einsatzwagen. Entgegen seiner Befürchtungen wartete er nicht lange. Kaum zwölf Minuten waren seit seinem Anruf vergangen, als der Streifenwagen den Pfad entlangkam. Xaver winkte sie überflüssigerweise näher.

„Das ist aber schnell gegangen“, bemerkte er, nachdem rechts und links je ein Uniformierter ausgestiegen war. Dankbar stellte er fest, dass er einen der beiden recht gut kannte. Der Schlupf Benni war sein Jahrgang. In der Grundschule hatten sie sich vier Jahre lang ein Klassenzimmer geteilt. Danach war ihr Kontakt, Zufallsbegegnungen ausgenommen, abgebrochen. Um einen Gruß und das eine oder andere Wort, wenn man sich auf dem Limesfest oder dem Beilngrieser Altstadtfest über den Weg lief, war man sich trotzdem nie verlegen.

„Xavi, alter Schlawuzi! Grüß dich. Was ist denn los?“

„Das tät ich auch gern wissen“, erwiderte Xaver und fand nicht zum ersten Mal Bestätigung, dass man bei der Polizei einen gesünderen Körperbau beibehielt als im Landratsamt. Der Benni war ein richtiger Bilderbuchpolizist. Schlank und sportlich, jung, ein aufgeschlossenes Lächeln im Gesicht, und die Uniform kleidete ihn beispiellos gut. Dazu eine schnittige schwarze Kurzhaarfrisur. Sein Kollege war ein paar Jahre älter, vielleicht um die vierzig, machte einen etwas mürrischen Eindruck und setzte genau wie Xaver ein bisschen Bauch an. Wahrscheinlich war es die Uniform, die ihn trotzdem dynamisch wirken ließ.

„Also, kommt mit, dann zeige ich es euch“, bot Xaver an und schlug die Richtung ein.

„Hat dich der Kollege da wirklich richtig verstanden?“, meinte der Benni hinter ihm. „Du hast einen abgetrennten Kopf und eine Hand gefunden?“

„Allerdings. Liegt beides gleich da unten. Siehst du den Rauch?“

Beim Annähern an die besagte Stelle stellte Xaver noch keine Veränderung fest. Die abgebrannte Feuerstelle kokelte vor sich hin. Kaum eingetroffen, bemerkte er, dass etwas fort war.

„Aber das gibt’s doch nicht“, murmelte er, als er mit dem Stiefel in Glut und Asche scharrte. „Jetzt ist es weg. Das kann nicht sein.“

„Was denn?“, fragte der Benni. „Was ist weg?“

„Jetzt frag doch nicht so. Der Schädel und die Hand halt“, erwiderte Xaver und begann, die rußigen Scheitüberbleibsel systematisch aus dem Steinkreis zu kicken. „Das fasse ich jetzt nicht.“

„Der Schädel und die Hand waren also da drin“, vergewisserte sich der Benni und inspizierte den Aschehaufen. „Tja, jetzt scheint beides weg zu sein“, schloss er und taxierte wieder Xaver.

„Ja, das sehe ich selber auch. Zefix! Ich verstehe das nicht.“

Xaver entging nicht, dass die beiden Polizisten Blicke tauschten. Der Stumme bedachte ihn mit einer Mischung aus Mitleid und Skepsis, so als hielte er ihn für einen hysterischen Spinner.

„Jetzt horcht mir mal zu, alle beide“, kam Xaver ihnen zuvor. „Ich habe mir das nicht eingebildet oder ausgedacht, klar? Da drin sind ein Schädel und eine Hand gelegen. Abgebrannt und rußig, aber ein bisschen Fleisch hat noch drangehangen.“

„Fleisch hat noch drangehangen“, konstatierte der ältere Polizist mit verschränkten Armen und nickte gemessen, als müsste er für das Gesagte sein Einverständnis geben. „War dann wahrscheinlich gut durch, oder?“

„Ha? Was soll denn das jetzt?“

„Okay, Xavi“, erklärte der Benni aufgeräumt und trat neben ihn. „Was glaubst du denn, was hier passiert ist?“

„Na, wird es halt jemand weggenommen haben, während ich nach einem Handynetz gesucht und auf euch gewartet hab“, verkündete Xaver die einzig logische Schlussfolgerung, auf die diese beiden Deppen offenbar von selbst nicht kamen.

„Hast du hier jemanden gesehen?“

„Nein, zefix, das hätte ich euch doch schon längst gesagt!“

„Jetzt beruhigen Sie sich erst einmal“, gebot der andere nüchtern und hob seine Hand zu einem Stoppschild an. Er tat ein paar theatralische Schritte die nahen Büsche entlang und schaute sich flüchtig um. „Wann sind wir denn gestern ins Bett, Herr Schwabeder? Haben wir vielleicht was getrunken, gestern Abend? Oder heute Morgen zum Frühstück?“

In Xaver kochte Wut hoch. „Ja, sag einmal“, presste er durch seine Vorderzähne ins Freie und konnte sich nur mühsam zusammenreißen, „was glaubt ihr denn? Ich sauf doch nicht in aller Frühe vor der Arbeit. Und gestern auch nicht! Da drin hat ein Totenschädel gelegen! Und eine Hand! Ich habe es gesehen! Ich bin doch kein Depp, Herrgott noch mal!“

„Ich sehe keine Spuren von Leuten, die das weggeräumt haben könnten, während Sie weg gewesen sind“, sagte der Polizist.

„Ja freilich nicht, so trocken, wie der Boden gerade ist“, platzte es aus Xaver heraus.

„Die Sabine ist schwanger, oder?“, fragte der Benni völlig aus dem Kontext gerissen.

Xaver fuhr zu ihm herum. „Was? Ja. Und?“

„Na ja, dann Glückwunsch euch zweien.“

„Ah … ja … danke.“

Für einen Augenblick war Xaver zu verwirrt, um wütend zu sein, ein Augenblick, den Obermeister Benjamin Schlupf zu nutzen wusste.

„Jetzt pass mal auf“, sagte er und legte Xaver freundschaftlich den Arm um die Schultern. „In der Schwangerschaft verändert sich doch der Hormonhaushalt der Weiber, oder?“

„Sie werden ein bisschen dammisch“, stimmte Xaver zu.

„Genauso ist es. Aber auch bei uns Männern geht das nicht spurlos vorüber. Vor allem beim ersten Mal nicht. Das wird zwar totgeschwiegen, aber es ist so. Hey, du wirst gerade zum ersten Mal Vater, Kumpel. Das ist schon ein Einschnitt im Leben von einem jungen Burschen. Glaub mir, ich weiß, wovon ich rede. Als unsere kleine Vroni gekommen ist, bin ich wochenlang unter Strom gestanden. Da hat einiges verrücktgespielt, sag ich dir. Ich habe den Straßenverkehr anders wahrgenommen, das Fernsehprogramm, die Fortbildungen, einfach alles. Und beim Schafkopfen habe ich wochenlang einen sakrischen Dusel gehabt. Das war total geil, echt, das glaubst du gar nicht. Ein Sticht ohne sieben habe ich gewonnen. Bei einem Langen, versteht sich. Obwohl die drei Laufenden und der Alte Unter auf einer Hand gestanden sind. Ha! Da haben sie geschaut, die anderen.“

In Xaver fing es schon wieder an zu brodeln. „Ja und? Warum erzählst du mir das jetzt?“

„Ich will damit bloß sagen, Xavi, dass auch du gerade eine andere Zeit durchmachst.“

„Eine andere Zeit?“

„Na ja, du bist bestimmt ein bisschen … belastet von all dem Stress und den Erwartungen.“ Er trug ihm das mit einem gewinnenden Lächeln an. „So wie alle werdenden Väter vor dem ersten Mal“, setzte er schnell noch hinterher.

Xaver durchschaute, worauf der Benni hinauswollte. Dass auch er ihn jetzt als Schwangerschaftsdebilen hinstellen wollte, machte ihn umso zorniger. Andererseits war dieser Vortrag wahrscheinlich die kumpelhafteste Weise, einem so etwas unter die Nase zu reiben.

Bei näherer Überlegung stellte Xaver ohnehin fest, dass es weniger die Polizisten waren, auf die er eine Wut hatte, sondern auf sich selbst. Er hätte die Fundstelle nicht so lange alleine lassen dürfen, dann hätte sich auch niemand an den Sachen vergreifen und sie verstecken können.

Verstecken. Ja, das war das Stichwort. Schädel und Hand mussten noch irgendwo ganz in der Nähe sein.

„Benni, ich weiß, was ich gesehen habe“, versuchte es Xaver nun in beschwörender Weise. „Wir müssen uns umschauen. Das Zeug muss hier noch irgendwo sein.“

„Sie meinen, der Kopf ist aus dem Feuer unter einen Busch gerollt?“, merkte der andere Polizist an. „Und die Hand ist dann gleich hinterhergekrabbelt, oder was?“

„Ich weiß es doch auch nicht, zefix!“, begehrte Xaver erneut auf. „Ich weiß bloß, was ich gesehen habe.“

„Okay, wir schauen uns jetzt gründlich um“, versprach der Benni. „Vielleicht finden wir irgendwelche Anhaltspunkte.“

Der andere Polizist, Hauptmeister Richard Späth, hielt sichtbar tapfer durch, nicht die Augen zu verdrehen.

„Kurz vorher habe ich ein Moped gehört“, fiel Xaver wieder ein.

„Ein Moped?“, fragte der Benni.

„Ja. Einen Eintakter. Dadurch bin ich überhaupt erst auf den Rauch gestoßen. Der muss den Forstweg oben entlanggefahren sein.“

„Hast du auch gehört, wie er angelassen worden ist?“

„Nein“, antwortete Xaver und kombinierte im gleichen Moment, was das zu bedeuten hatte. Der Mopedfahrer war hier nur vorbeigerauscht. Somit konnte er nichts mit dem Lagerfeuer zu tun haben. Zumindest nicht unmittelbar. Dass Xaver den Motor erkannt zu haben glaubte, behielt er für sich.

„Gut, Xavi, wir regeln das schon“, verlautete der Benni punktsicher wie ein Lehrer vor seinen Schülern.

„Was regelt ihr?“

„Wir schauen uns hier gründlich um. Und du fährst jetzt nach Hause, trinkst einen starken Kaffee und gehst deinem Tagwerk nach. Ich ruf dich heute Abend noch an.“

„Ihr schaut euch nur um?“, erwiderte Xaver. „Ihr nehmt keine Ascheproben? Ich meine, da müssen doch noch Fleischüberreste drin sein. Oder irgendwelche anderen Spuren. DNA und so.“

„Wir nehmen einen großen Beutel voll mit, keine Angst.“

Das beruhigte Xaver ein wenig. Zumindest passierte etwas, und sie stempelten ihn nicht pauschal zu einem Irren ab, der nur Schwachsinn verzapfte. Und falls sie es heimlich doch taten, würden spätestens die Laboruntersuchungen die Wahrheit ans Licht bringen. Xaver freute sich schon darauf. Dann würden diesem anderen Sheriff seine blöden Witzchen im Hals stecken bleiben.

Postkarten einer Toten

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