Читать книгу Postkarten einer Toten - Thomas Neumeier - Страница 11
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ОглавлениеMiriam erwachte mit staubtrockener Kehle und leichten Kopfschmerzen.
„Aufwachen! Aufwachen, Herrschaft! Du hast Schule!“, bellte die Mama noch einmal durch den Türspalt ins Zimmer. Miriam nahm sie nur verschwommen wahr. Das nicht ganz heruntergelassene Rollo ließ eine Idee Tageslicht herein.
Miriam schlug die Bettdecke zurück und richtete sich auf. Ein erster Versuch, die Nachttischlampe einzuschalten, schlug fehl. Sie langte daneben und stieß versehentlich den Funkwecker um. Warum hatte das Ding sie nicht geweckt, sondern die Mama? Hatte sie vergessen, den Alarm zu stellen? Miriam versuchte, sich zu erinnern, schaffte es aber nicht. Im Moment erinnerte sie sich an gar nichts. Wann war sie denn überhaupt nach Hause gekommen? Sie knetete sich die Schläfen und rang nach Klarheit, was aber genauso missglückte wie ein erneuter, blinder Versuch, die Nachttischlampe einzuschalten. Sie fühlte sich benommen, und ihr Herz schlug ungewohnt schnell. Was war denn bloß los? Hatte sie gestern beim Lucki zu viel getrunken? Doch eigentlich nicht, oder? Gut, da waren die zwei Hüpfer gewesen, die sie mit der Gundl gekippt hatte, und dann noch einen Gespritzten. Aber sonst war doch da nichts mehr. Oder? Miriam dachte fieberhaft nach. Das Letzte, woran sie sich deutlich erinnern konnte, war der blöde Witz, den der kleine Blonde abgelassen hatte. Die Pointe fiel ihr nicht mehr ein, aber der Witz war recht lustig gewesen. Was war danach noch mal geschehen? Ach ja, die Gundl hatte sie zur Terrasse hinaus gerufen. Und dann?
„Steh jetzt endlich auf“, zischte die Mama ungehalten, und Miriam erhob sich wacklig von ihrer Bettkante. Dabei bemerkte sie ein ungewohntes Brennen und Ziehen in ihrem Unterleib. Was war das denn?
Im Badezimmer machte sie erst mal einen Zahnputzbecher voll Wasser und löschte ihren Durst. Das Waschbecken half ihr, das Gleichgewicht zu bewahren. Ihr war ziemlich schwindlig, ihre Kehle immer noch trocken. Den Becher füllte und leerte sie gleich noch einmal. Aus dem Badezimmerspiegel schaute ihr jemand mit zerzausten blonden Haaren, schweren Lidern und rot unterlaufenen Augen desinteressiert dabei zu. Der Glanz der Morgensonne, der durch das Badfenster einfiel, blendete sie unangenehm von der Seite.
„Du spinnst schon ein bisschen, oder?“, raunzte die Mama, als Miriam in die Küche kam. Der Papa nuckelte wie fast jeden Morgen um diese Zeit seinen Pulverkaffee und studierte seine Heimgärtnerzeitschrift.
„Kann schon sein“, entgegnete Miriam und nahm ihren angestammten Platz am Küchentisch ein. Eine Schale Kaba und ein geschmiertes Marmeladenbrot warteten auf sie.
„Und?“, blökte die Mama von ihr abgekehrt die Spüle an. „Hast du Spaß gehabt? Ich will es hoffen.“
„Ging so“, gab Miriam zur Antwort und umklammerte beidhändig die Kabaschale. Das Ding zwischen ihren Fingern zum Mund zu balancieren, gestaltete sich schwierig. Ihre Hände zitterten unaufhörlich.
Nun fuhr die Mama herum. Eine unglaublich schnelle Bewegung, an der sich Miriam regelrecht erschrak. „Was fällt dir ein, dich so wegzurichten? Bist denn du nicht noch blöder? Was habe ich dir denn gestern noch eingetrichtert? Um elf solltest du spätestens zu Hause sein!“
Miriam stierte sie angestrengt an. Mamas Stimme hallte heute anders als sonst im Raum wider. Irgendwie zweifach.
„Hat halt leider nicht so ganz geklappt mit elf“, sagte Miriam und senkte den Blick.
Die Mama lachte gequält auf. „Ja, das haben wir gemerkt.“
„Jetzt sei doch nicht so, Schatzi“, machte sich der Papa erstmals bemerkbar. „Sie hat halt mal außerplanmäßig einen draufgemacht. Das machen sie doch alle mal in dem Alter.“
„Aber nicht wenn Schule ist!“
„Hast du heute wichtige Prüfungen?“, schnurrte der Papa an Miriam adressiert und grinste sie erwartungsvoll an.
„Nein“, antwortete sie und glaubte auch, dass das der Wahrheit entsprach.
„Na also.“ Der Papa nahm sich wieder seiner Lektüre an. Für ihn war der Fall damit erledigt. Für Miriam war er es nicht. Und für die Mama auch nicht.
„Na also?“, fragte sie empört. „Das ist dein Beitrag, wenn sich deine Tochter an einem Wochentag die Birne wegdröhnt?“
Der Papa schaute nicht mal von seinem Magazin auf, als er antwortete. „Junge Leute brauchen ihren Freiraum. Wir waren doch genauso. Sei mal nicht so streng, Schatz.“
„Du bist einfach …“ Die Mama ließ das Schneidebrett aus ihrer Hand lärmend in die Spüle fallen und stampfte kopfschüttelnd aus der Küche.
Was er ihrer Meinung nach war, behielt sie für sich. In der Tat war Miriams Vater nicht so wie die meisten Väter. Er nahm alles ein wenig lockerer. In jungen Jahren musste er ein ziemlicher Herumtreiber gewesen sein. Entsprechende Winke mit dem Zaunpfahl bekam Miriam oft zu hören. Das klang bis heute nach.
Sie nippte von ihrem Kaba. Das Marmeladenbrot rührte sie nicht an. Sie konnte jetzt nichts essen. War das etwa ein Kater, den sie da heute Morgen hatte? Es wäre ihr erster.
Die nachfolgende Frage konnte sie nur dem Papa stellen. Die Mama würde erneut ausrasten.
„Wann bin ich denn heimgekommen?“
Der Papa schaute auf. „Du weißt es nimmer?“
Miriam schüttelte den Kopf.
Der Papa tat es ihr gleich, wobei sich ihm ein diebisches Grinsen auf die Lippenpartie spielte. „Hehehe. Dann scheinst du ja wirklich ordentlich einen draufgemacht zu haben, Kleine“, stellte er mit einem völlig deplatzierten Anflug von Anerkennung fest. Er hatte sich noch nicht rasiert heute Morgen. So fettig, wie ihm die allmählich ergrauenden schwarzen Haare ins hagere Gesicht hingen, hatte er noch überhaupt kein Wasser seit dem Aufstehen gesehen. Offensichtlich musste er heute nicht zur Arbeit.
„Die Gundl und ihr Freund haben dich heimgebracht“, sprach er mehr zu seiner Zeitschrift. „Das war so um zwei. Du warst nur teilweise bei Bewusstsein.“
„Ich war … ohnmächtig?“
Er sah wieder auf. „Hast ganz schön einen sitzen gehabt, was?“, meinte er. „Ja, so geht es uns allen mal. Muss ja wohl eine lustige Party gewesen sein, ha?“
Miriam wünschte sich, darauf eine Antwort geben zu können. Sie hatte keine Ahnung, ob es eine lustige Party gewesen war oder nicht. Bis zwei war sie weg? Damit fehlten ihr mindestens drei Stunden.
„Papa, ich fühle mich echt mies gerade“, sagte sie. „Ich würde heute lieber nicht zur Schule gehen.“
Der Papa zuckte lapidar mit seinen Schultern und widmete sich bereits wieder seinem Gartenheftchen. „Klar, wenn du meinst. Schlaf deinen Rausch ordentlich aus, dann geht es dir besser.“