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7. Kapitel Das Leistungsrecht der gesetzlichen Krankenversicherung › A. Einleitung

A. Einleitung

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Der Schwerpunkt der folgenden Darstellung des Leistungsrechts liegt nicht in der Vermittlung materieller Anspruchsnormen. Vielmehr widmet es sich den Grundstrukturen der Leistungsrechte gesetzlich Krankenversicherter und ihrer Integration in ein System der Normkonkretisierung von Leistungsansprüchen und der Anspruchskonkretisierung durch die Leistungserbringung.[1]

7. Kapitel Das Leistungsrecht der gesetzlichen KrankenversicherungA. Einleitung › I. Definition Leistungsrecht

I. Definition Leistungsrecht

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Eine sozialversicherungsrechtlich Legaldefinition des Leistungsrechts sucht man vergebens. Aus § 11 SGB I ist zu entnehmen, dass die sozialen Rechte der Bürger durch Sozialleistungen, d.h. durch Gewährung von Geld-, Sach- oder Dienstleistungen verwirklicht werden. Dabei sind Sozialleistungen die Vorteile, die nach den Vorschriften des SGB dem einzelnen Berechtigten zugute kommen.[2]

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Das Leistungsrecht der gesetzlichen Krankenversicherung definiert die Teilhabe des gesetzlich Krankenversicherten an den Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung als ein Element des gesetzlichen Sozialversicherungssystems.

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§ 4 Abs. 2 SGB I hält fest, dass der Krankenversicherte ein Recht auf die notwendigen Maßnahmen zum Schutz, zur Erhaltung, zur Verbesserung und zur Wiederherstellung der Gesundheit und der Leistungsfähigkeit und zur wirtschaftlichen Sicherung bei Krankheit und Mutterschaft hat. § 21 Abs. 1 SGB I und § 11 Abs. 1 und 2 SGB V thematisieren die Leistungsarten der gesetzlichen Krankenversicherung. Danach können in Anspruch genommen werden:

Leistungen zur Förderung der Gesundheit, zur Verhütung und zur Früherkennung von Krankheiten,
bei Krankheit, Krankenbehandlung, insbesondere
ärztliche und zahnärztliche Behandlung,
Versorgung mit Arznei-, Verband-, Heil- und Hilfsmitteln,
häusliche Krankenpflege und Haushaltshilfe,
Krankenhausbehandlung,
medizinische Rehabilitation und ergänzende Leistungen zur Rehabilitation,
Betriebshilfe für Landwirte,
Krankengeld,
bei Schwangerschaft und Mutterschaft ärztliche Betreuung, Hebammenhilfe, stationäre Entbindung, häusliche Pflege, Haushaltshilfe, Betriebshilfe für Landwirte, Mutterschaftsgeld,
Hilfe zur Familienplanung und Leistungen bei durch Krankheit erforderlicher Sterilisation und bei nicht rechtswidrigem Schwangerschaftsabbruch.

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Das Recht der gesetzlichen Krankenversicherung übernimmt diese Elemente und gliedert sie im sog. Leistungskatalog nach § 11 Abs. 1 und 2 SGB V in die Anspruchsblöcke auf Verhütung und Behandlung von Krankheiten sowie auf Rehabilitation und ergänzende Leistungen. Die §§ 20–68 SGB V regeln dann die materiellen Leistungen der sozialen Krankenversicherung im Einzelnen.

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Als eine Art Einweisungsnorm gibt § 2 SGB V den gemeinsamen Vorschriften des Leistungsrechts der §§ 11–19 SGB V sowie den speziellen Leistungsnormen der §§ 20–68 SGB V den rechtlichen Grundrahmen zu Umfang, Wirtschaftlichkeit und Eigenverantwortung vor. Diese Normen stellen das materielle Grundgerüst von Teilhabeansprüchen dar. Sie sind zusammen mit den übrigen Sozialleistungen des Rechts der Arbeitsförderung, der Unfallversicherung, der Rentenversicherung, der Sozialhilfe sowie der Leistungen zur Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen zu sehen und im Einzelfall im Hinblick auf unterschiedliche Leistungs- und Kostenträgerschaften abzugrenzen.

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Grundsätzlich bestimmt sich der Anspruch des Versicherten aus seinem (Gesundheits-)Zustand und dem (Maßnahme-/Behandlungs-)Ziel. Das Leistungsrecht der gesetzlichen Krankenversicherung stellt sich nicht als Element klassisch öffentlich-rechtlicher Leistungsgewährung dar, sondern als das Zurverfügungstellen von Versicherten abrufbaren Sach- und Dienstleistungen sowie subsidiär Kostenerstattung und Geldleistung.

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Im Mittelpunkt der Ansprüche stehen die ärztliche Behandlung und die Krankenhausbehandlung. Der ärztlichen Behandlung kommt eine Art Schlüsselstellung zu, da Ärzte im weitestgehenden Umfang neben der eigentlichen Behandlung an der Verordnung von Krankenhausbehandlung, Arzneimitteln, Heil- und Hilfsmitteln sowie der Rehabilitation beteiligt sind. Die Krankenbehandlung umfasst gem. § 27 SGB V die vertragsärztliche Behandlung einschließlich der Psychotherapie, die zahnärztliche Behandlung einschließlich Zahnersatz, die Versorgung mit Arznei-, Verband-, Heil- und Hilfsmitteln sowie mit digitalen Gesundheitsanwendungen (DiGA), Leistungen der häuslichen Krankenpflege und Haushaltshilfe, Krankenhausbehandlung, Leistungen der ambulanten und stationären medizinischen Rehabilitation sowie ergänzende Leistungen. Die Voraussetzungen der Inanspruchnahme dieser Leistungen werden im 3. Kapitel, den §§ 11–68 SGB V, dem Leistungsrecht der gesetzlichen Krankenversicherung, konkretisiert.

7. Kapitel Das Leistungsrecht der gesetzlichen KrankenversicherungA. Einleitung › II. Leistungsrecht und Leistungserbringungsrecht

II. Leistungsrecht und Leistungserbringungsrecht

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Das Leistungsrecht des 3. Kapitels des SGB V verwirklicht sich in den korrespondierenden und konkretisierenden Normen des Leistungserbringungsrechts des 4. Kapitels, den §§ 69–140h SGB V, d.h. in den Regelungen der Pflichten und Befugnisse von Leistungserbringern gegenüber der Krankenkasse und dem Versicherten. Auch das Leistungserbringungsrecht kann dabei mit Drittwirkung auf den Versicherten Leistungsrechte verschaffen oder begrenzen. Leistungsrecht und Leistungserbringungsrecht sind als untrennbare Einheit zu betrachten.[3]

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Das Leistungserbringungsrecht definiert die formellen und materiellen Anforderungen an die Leistungserbringung. Zwar scheint dies unmittelbar nur auf das Binnenverhältnis zwischen Leistungserbringer und Krankenkasse bezogen zu sein, es konkretisiert aber unmittelbar wirksam auch den Teilhabeanspruch des gesetzlich Krankenversicherten. Es dient somit funktionell der Erfüllung von Naturalleistungsansprüchen.[4] Ein Leistungsanspruch des Versicherten besteht nur im Rahmen des Leistungserbringungsrechts. Dieses wird grundsätzlich als Sachleistung normativ durch das Leistungserbringungsrecht und im Einzelfall im Rahmen der Inanspruchnahme von Leistungen durch Leistungserbringer konkretisiert.[5] Der Vertragsarzt beispielsweise bestimmt nach erfolgter Diagnose die konkret zur Anwendung kommende und vom System geschuldete Therapie. Die Leistungskonkretisierung durch den Leistungserbringer wird jedoch immer mehr ausgeweitet, was sich beispielsweise im Heilmittelbereich an der sog. Blankoverordnung zeigt.

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Das Verhältnis von Leistungsrecht und Leistungserbringungsrecht ist von erheblicher Bedeutung. Ginge man davon aus, dass das materielle Leistungsrecht die Verfahren der Leistungserbringung dominiert, so müssten die Voraussetzungen der Inanspruchnahme nach Art, Zeitpunkt und Umfang im Leistungsrecht abstrakt normiert sein. Dies ist aber durchgehend nicht der Fall. Das Leistungsrecht des 3. Kapitels des SGB V ist vielmehr in funktioneller Verknüpfung mit dem Recht der Leistungserbringung zu betrachten. Das Leistungsrecht enthält offene Wertungsnormen und Leistungsziele und bewegt sich zwischen subjektiven Rechten der Versicherten und normierten Zweckprogrammen. Das Leistungsrecht kann sich nur vermittels und im Rahmen des Leistungserbringungsrechts realisieren.[6] Nach der Rechtsprechung des BSG[7] ist dem Leistungserbringungsrecht Vorrang vor dem Leistungsrecht eingeräumt.[8] Vom ursprünglichen Vorrang des Leistungsrechts, dem das Leistungserbringungsrecht nicht widersprechen dürfe, ging das BSG in der sog. Metadon-Entscheidung[9] ab und postulierte einen Gleichrang der Bereiche in unauflösbarer Verquickung. Das Leistungsrecht sei Rahmenrecht. Die Entwicklung der Rechtsprechung führte dann zur Feststellung, dass das Leistungserbringungsrecht den Leistungsanspruch materiell und formell absteckt.[10] Zu Recht wird seither von einem Vorrang des Leistungserbringungsrechtes gegenüber dem rahmenrechtlichen Leistungsrecht gesprochen.[11] Die Grenzen dieser Entwicklung wiederum hat das BVerfG[12] unter Hinweis auf die durch das Sozialversicherungssystem den Mitgliedern gegenüber gegebenen verfassungsrechtlichen Gewährleistungen der allgemeinen Handlungsfreiheit des Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG und das Grundrecht des Art. 2 Abs. 1 GG auf körperliche Unversehrtheit in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip eingegrenzt und in besonderen Fällen lebensbedrohender oder regelmäßig tödlicher Erkrankung Anspruch des Versicherten über den Rahmen des Leistungserbringungsrechts hinaus gewährt.

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Das BVerfG hatte im Falle einer Behandlung einer „duchenneschen Muskeldystrophie“ bei lebensbedrohlichen Erkrankungen für die anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Behandlungsmethoden nicht zur Verfügung standen Kostenerstattung nach § 13 Abs. 3 SGB V zugestanden, wenn die Behandlung eine nicht ganz fern liegende Aussicht auf Heilung oder spürbar positive Einwirkung auf den Behandlungsverlauf verspricht.[13]

Diese aus den Grundrechten abgeleitete Kontrolle der Einhaltung von Behandlungs- und Medikamentierungsansprüchen in Grenzfällen wurde später zwar etwas modifiziert,[14] dann aber auch wieder ausdrücklich unter Bezug auf den Nikolaus-Beschluss bestätigt.[15]

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Der Bundesgesetzgeber hat im GKV-Versorgungsstrukturgesetz mit § 2 Abs. 1a SGB V eine Öffnungsklausel aufgenommen:

Versicherte mit einer lebensbedrohlichen oder regelmäßig tödlichen Erkrankung oder mit einer zumindest wertungsmäßig vergleichbaren Erkrankung, für die eine allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Leistung nicht zur Verfügung steht, können auch eine von Abs. 1 S. 3 abweichende Leistung beanspruchen, wenn eine nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf Heilung oder auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf besteht.

Nach einem ebenfalls neu aufgenommenen § 2a und 2b SGB V sind den besonderen Belangen Behinderter und chronisch kranker Menschen sowie geschlechtsspezifischen Besonderheiten Rechnung zu tragen.

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Da das Leistungserbringungsrecht im Wesentlichen unter der Normebene von Parlamentsgesetzen durch Richtlinien des G-BA oder Normen der Selbstverwaltung geregelt ist, stellt sich eine Vielzahl von Fragen, die insbesondere die untergesetzlichen Normsetzungsbefugnisse betreffen, mittels derer materielle Ansprüche der Versicherten geregelt werden, die Befugnisse von Kostenträgern verkürzt oder extendiert werden, oder in die Berufsausübung von Leistungserbringern regelnd eingegriffen wird. Dies ist Anlass, die Probleme der Normkonkretisierung im Leistungserbringungsrecht gesondert (siehe unten Rn. 96 ff.) zu behandeln.

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Tipp

Die aktuellste Rechtsprechung der Sozialgerichtsbarkeit kann im RID, dem Rechtsprechungsinformationsdienst der Deutschen Gesellschaft für Kassenarztrecht recherchiert werden: www.dg-kassenarztrecht.de jeweils mit Überblick über das Thema und Verweisen auf vorangegangene Rechtsprechung; umfassend für die Recherche auch die Rechtsprechung in „Sozialgerichtsbarkeit“ siehe www.sozialgerichtsbarkeit.de und natürlich juris und beck-online. Anhängige Rechtsfragen beim BSG sind ebenfalls im RID aufgeführt und vom BSG in das Internet gestellt – www.bsg-bund.de.

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