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bb) Fehlen hinreichend konkreter grundgesetzlicher Schutzgüter

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Der Schutz wirtschaftlicher Interessen ist im deutschen Verfassungsrecht wesentlich schwächer als im EU-Recht ausgestaltet. Das Grundgesetz ist wirtschaftspolitisch neutral. Es überlässt es damit dem Gesetzgeber, sich für ein bestimmtes Wirtschaftssystem und eine ihm sachgemäß erscheinende Wirtschaftspolitik zu entscheiden.776 Die wirtschaftliche Betätigungsfreiheit ist zudem nur ein Teilaspekt anderer grundrechtlicher Schutzgüter. Diese Schutzgüter und auch die Eigentumsfreiheit von Anlegern und Sparern sind stark normgeprägt und folglich durch den Gesetzgeber auszugestalten.777 Die Eigentumsfreiheit unterliegt darüber hinaus einer Sozialbindung.778 Dem Gesetzgeber sind bei der Ausgestaltung der Eigentumsfreiheit deshalb Spielräume zur Austarierung von privaten und öffentlichen Interessen zuzugestehen (einschl. des öffentlichen Interesses an einer von staatlichen Eingriffen freien Marktentwicklung).779 Bei derartigen Gestaltungsfreiheiten lässt sich allerdings ein fester verfassungsrechtlicher Regelungsgehalt, in Bezug auf den Schutzgewähransprüche bestehen könnten, kaum feststellen.780 Der Schutz ist vielmehr davon abhängig, dass der Gesetzgeber den Grundrechtsträgern überhaupt ein individuelles Recht zur eigenen Verfügung zuordnet.781 Wenn der Gesetzgeber nicht die Nutzung eines solchen Rechts als solche beschränkt, müssen die Grundrechtsträger auch nachteilige Veränderungen der wirtschaftlichen Verhältnisse hinnehmen, da der grundrechtlichen Schutz den wirtschaftlichen Erfolg und die Sicherung von Erwerbsmöglichkeiten nicht mitumfasst.782 Anders als im Fall der Vorschriften über den Binnenmarkt bezieht sich der Schutz also nicht auf die Marktverhältnisse. Auch das Sozialstaatsprinzip ist durch den Gesetzgeber zu konkretisieren. Der Gesetzgeber muss somit in den ihm vom EU-Recht belassenen Freiräumen dafür sorgen, sich die Kontrolle darüber zu erhalten, wie er den Inhalt der genannten Freiheiten und des Sozialstaatsprinzips bestimmt. Das bedeutet jedoch nicht, dass er in Bezug auf die zu definierenden schutzwürdigen Interessen außerdem zu einer finanzaufsichtsrechtlichen Gefahrenvorsorge verpflichtet wäre.783

Zwar wäre zu erwägen, einen Mindestschutzumfang aus dem Wesens- bzw. Kerngehalt der hier relevanten Grundrechte oder des Sozialstaatsprinzips abzuleiten. Als eine Barriere für den einfachen Gesetzgeber verbietet es Art. 19 Abs. 2 GG, ein Grundrecht in seinem Wesensgehalt anzutasten. Die Vorschrift wird teilweise zur Begründung eines grundrechtlichen Untermaßverbots herangezogen.784 Eine engere Barriere sogar für den Verfassungsgeber stellen der Menschenwürdekern der Grundrechte und der Kerngehalt des Sozialstaatsprinzips dar, die nach Art. 79 Abs. 3 GG jeder Änderung entzogen sind.785 Im vorliegenden Kontext könnte es gerechtfertigt sein, diese Barrieren in den Blick zu nehmen, weil Finanzkrisen nicht nur große Vermögenswerte vernichten, sondern sich auch zu gravierenden Wirtschaftskrisen ausweiten können, in denen eine umfassende Entwertung bestehender Rechtspositionen droht (durch Massenarbeitslosigkeit, Inflation usw.). Angesichts dessen erscheint es vertretbar, den Gesetzgeber als verpflichtet anzusehen, eine wirtschaftliche Ordnung zu gewährleisten, in der verkehrsfähige Güter überhaupt noch bestehen können.786 Allerdings wäre ein solcher auf den Wesens- bzw. Kerngehalt beschränkter Schutz auf extrem schwere Finanz- und Wirtschaftskrisen auszurichten. Dabei wäre dem Gesetzgeber aber immer noch ein weiter Gestaltungsspielraum dahingehend einzuräumen, ob er Maßnahmen zum Schutz des bestehenden Finanz- und Wirtschaftssystems ergreift oder ob er sich – dann freilich auf EU-Ebene – für Veränderungen des Systems einsetzt, um extreme Krisen auf diesem Wege unwahrscheinlicher zu machen.787 Auch dann wäre eine Schutzpflicht – so sie denn überhaupt bestünde – jedenfalls nicht individuell durchsetzbar.

Etwas anderes könnte freilich dann zu gelten haben, wenn die ursprüngliche wirtschaftspolitische Neutralität des Grundgesetzes aufgrund verfassungsimmanenter Schranken heute nicht mehr vorbehaltlos anerkannt werden kann. Hierfür könnte eine Gesamtschau der heute bestehenden wirtschaftsbezogenen Bestimmungen des Grundgesetzes sprechen. So enthalten die Vorschriften über die bundeseigene Verwaltung Einzelbestimmungen, die den Betrieb bestimmter liberalisierter Netzinfrastrukturen (Eisenbahn, Telekommunikation) in privatrechtlicher Form garantieren.788 Daneben kommt Rundfunk- und Presseunternehmen ein besonders umfassender Schutz zugute, der sie etwa im Verhältnis zu Telemedienanbietern heraushebt.789 Allerdings ist zu bedenken, dass die jeweiligen Garantien sich auf bestimmte Wirtschaftsbereiche beziehen, in denen der Staat auch unter den Bedingungen einer privatwirtschaftlichen Leistungserbringung verpflichtet bleibt, eine Grundversorgung sicherzustellen.790 Dagegen enthält das Grundgesetz außer Vorschriften über die Gesetzgebungskompetenzen und über die Geldpolitik keine näheren Bestimmungen zum Finanzbereich.791 Diesbezüglich bleibt es vielmehr – trotz der hohen Bedeutung des Bereichs für das deutsche Wirtschaftssystem – weiterhin gänzlich offen. Selbst dann, wenn die wirtschaftspolitische Neutralität des Grundgesetzes lediglich einen je nach Regelungsbereich durchbrochenen Grundsatz darstellen sollte, würde aus dieser Erkenntnis somit nichts für die Gefahrenvorsorge im Finanzbereich folgen.

Soweit das einschlägige Schrifttum dennoch konkrete Schutzpflichten zur finanzaufsichtsrechtlichen Gefahrenvorsorge bejaht, wird argumentiert, der Gesetzgeber sei verpflichtet, die Grundrechtsträger innerhalb der Marktgegebenheiten vor „spezifischen Risiken“ zu schützen, die ein besonderes Schutzbedürfnis begründeten.792 Im Übrigen wird auf das Untermaßverbot und den Effektivitätsgrundsatz verwiesen.793 Die angesprochenen spezifischen Risiken werden allerdings aus Gegebenheiten abgeleitet, die Märkte im allgemeinen prägen (z.B. ungleich verteilte Macht, Informationsasymmetrien). Dass der grundrechtliche Schutz nicht die Marktverhältnisse umfasst, wird hierbei ausgeblendet. In Hinblick auf Katastrophenereignisse im Allgemeinen wird unter Rückgriff auf vorgrundgesetzliche Ideen sogar erörtert, ob gefahrenbezogene Maßnahmen auch ohne Bindung an das Rechtsstaatsprinzip geboten sein können.794 Dies erscheint von vornherein widersprüchlich, weil der Gesetzgeber an das Schutzgut gebunden bliebe, aber zugleich die Bindung an das Rechtsstaatsprinzip entfiele. Darüber hinaus käme es auch zum Präventionsstaat, der ohne rechtliche Grenzen auf Risikominimierung ausgerichtet ist. Eine derart einseitige Ausrichtung am Ziel der Risikoprävention würde die rechtsstaatliche Ordnung in ihrem Kern infrage stellen.795 Die Versuche, aus dem Grundgesetz konkrete Schutzpflichten zur Gefahrenvorsorge herzuleiten, können nicht überzeugen.

Klarzustellen ist, dass das Fehlen grundgesetzlicher Schutzgüter, aus denen eine konkrete Schutzpflicht abgeleitet werden könnte, nicht bedeutet, dass die Grundrechtsträger verfassungsrechtlich völlig schutzlos wären. Zu recht wird im Schrifttum darauf hingewiesen, dass Finanzkrisen ohne staatliches Eingreifen in Extremfällen zum Zusammenbruch der öffentlichen Ordnung führen können.796 Der deutsche Staat bleibt selbst mit Blick auf solche Fälle zur Sicherung eines menschenwürdigen Existenzminimums verpflichtet.797 Hierbei ist ihm jedoch erneut ein weiter Gestaltungsspielraum zuzubilligen. Da das Grundgesetz den Staat auf kein bestimmtes Wirtschaftssystem festlegt, steht es ihm also auch frei, ob er Vorsorgemaßnahmen zum Schutz des Finanzsystems trifft oder ob dieses in einer Krise verstaatlicht und sich auf direkte Leistungen an etwaige Hilfsbedürftige beschränkt.798

Die Regulierung innovativer Finanzinstrumente

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