Читать книгу Tankred und die Bergsteiger - Ulf Kramer - Страница 10
Оглавление1986
Meine Mutter wünschte sich zu ihrem vierzigsten Geburtstag eine Wanderung mit der Familie im Teutoburger Wald. Ich war gerade auf der einzigen Gesamtschule der Stadt eingeschult worden und steckte in einer schweren Sinnkrise. Alle meine Freunde waren auf andere Schulen geschickt worden und ich fühlte mich schrecklich allein. Mit Tankred Deutsch wollte niemand etwas zu tun haben. Schuld gab ich meiner Mutter. Sie hatte alles versaut, indem sie sich im Abschlussjahr meiner Grundschulzeit mit allen Eltern angelegt hatte. Erst hatte sie sich für irgendwelche Türkenkinder eingesetzt, dann einen Streit über einen Lehrer begonnen, der in einer Partei war, die meine Mutter nicht gut fand, anschließend den Schulleiter als Rassisten bezeichnet und sich zu guter Letzt für die doofe Jessica eingesetzt. Damit hatte sie das Fass zum Überlaufen gebracht, denn Jessica war so etwas wie die Klassenschlampe, mit der niemand etwas zu tun haben wollte. Ihr Vater war arbeitslos und trank sehr viel Alkohol. Ihre Mutter hatte sich angeblich während eines Elternabends eine Zigarette im Klassenzimmer angesteckt und kleidete sich laut übereinstimmender Aussagen meiner Klassenkameraden wie eine Bordsteinschwalbe – ich wusste zwar nicht genau, was das war, aber es klang schlimm. Als wäre das alles nicht genug gewesen, hatte Jessica ausgerechnet das Milchgeld vom braven Sven gestohlen. Dessen Vater war Professor und dementsprechend wichtig. Das wussten alle. Also gab es mächtig Theater. Jessica stritt jede Schuld ab, dafür behauptete sie, Sven habe sie Nutte genannt, woraufhin sie ihm an seinem Pimmel gezogen habe. Als Konsequenz wurde Jessica von unserer Abschlussfahrt nach Norderney suspendiert. In diesem Moment trat meine Mutter auf den Plan. Sie vertrat die Meinung, das dürfe man nicht tun, da Jessica nur ein kleines Kind sei, dem man die Erfahrung, aufgrund seiner Herkunft und sozialen Disposition – erneut so ein Wort, das ich nicht verstand – ausgeschlossen zu werden, so lange wie möglich ersparen müsse. Die anderen Eltern sahen das natürlich anders, so wie sie es schon bei den Türkenkindern getan hatten, die letztendlich auf eine andere Schule hatten gehen müssen. Jessica blieb nach langen Streitigkeiten zuhause, statt mit uns nach Norderney zu fahren und dort zur Weißen Düne zu latschen. Ein Beispiel dafür, dass dem Schlechten ab und zu auch etwas Gutes innewohnt. Dafür gehörte ich ab sofort zu den Geächteten in der Schule, da ich laut einhelliger Meinung von Lehrern, Schülern und Eltern erstens von einer Verrückten und zweitens ohne Vater erzogen wurde.
So taumelte ich mehr durch mein Leben als Zehnjähriger als zu schreiten und meine Mutter machte es mir mit ihrem Hang zur Kämpferin für die Armen und Unterdrückten nicht besonders leicht. Zu allem Überfluss zeigte mir Linus auf, wie unterschiedlich unsere Stellungen innerhalb der Familie inzwischen waren, denn er verkündete selbstsicher, nicht einmal im Traum daran zu denken, mit uns durch einen bescheuerten Wald zu wandern, das wäre etwas für Hippies und Grüne.
Er stünde mehr auf Beton statt auf Holz, behauptete er und fing dann mit seiner schrägen, ungelenken Stimme an zu singen: »Ich glaub’, ich träume, ich seh’ nur Bäume, Wälder überall. Ich merk’ auf einmal, ich bin ein Tier hier, ein scheiß Tier hier. Da bleibt mir nur eins: Zurück zum Beton, zurück zum Beton!«
Ich hatte das Lied einmal in seinem Zimmer gehört und es dort schon nicht gemocht. Ich dachte an Karl den Käfer, wie traurig der Arme war, als er fortgejagt wurde. Das war Grund genug, die eigene Abscheu vor einer Wanderung zu überwinden, um Linus zu beweisen, dass ein Käfer auch etwas zählte, trotz der lächerlichen Tiraden auf den Beton. Abgesehen davon verbot mir meine Mutter, zusammen mit meinem Bruder zuhause zu bleiben, was ich zwar als himmelschreiende Ungerechtigkeit verurteilte, meine Mutter aber kalt ließ.
Seltsamerweise machte mir das Wandern nach der ersten halben Stunde, während der wir Kinder uns mit dem Nörgeln abwechselten und in der Intensität unseres Protests zu überbieten gesucht hatten, sogar Spaß. Die Landschaft war annehmbar, nichts war von Beton zu sehen, meine Mutter stimmte Karl der Käfer an, wir schmetterten das Lied zu dritt, als gäbe es nichts Schöneres. Danach suchten Anna und ich uns Stöcke und taten so, als wären wir die ritterliche Leibgarde meiner Mutter, einer einsamen Prinzessin, die sich in einen gefährlichen Wald mit einem Ungeheuer wagte, das wir Linus nannten. Ich kämpfte gegen unsichtbare Riesen und lebende Bäume, während Anna vorzeitig ihren Dienst quittierte und beschloss, lieber die Hofdame der Prinzessin als Leibwache sein zu wollen, um fünf Minuten später zu behaupten, sie sei sogar selbst eine Prinzessin. Meine Mutter und sie stritten sich eine Weile, da anscheinend in diesem Wald kein Platz für zwei Prinzessinnen war, bis meine Mutter klein beigab, weil Annas Laune zu kippen drohte und auf nölige Kinder hatte in unserer Wandergemeinschaft niemand Lust.
Wir machten Rast vor einer alten Hütte. Meine Mutter schlug vor, wir könnten hineingehen, um uns dort auf die Bänke zu setzen, aber Anna fürchtete sich vor den Spinnen, die tatsächlich in allen Ecken des Raums zu entdecken waren. Ich hatte zwar keine Angst, schließlich war ich schon zehn, aber ich fand Annas Vorschlag, sich vor der Hütte auf eine Decke zu hocken, trotzdem besser. Meine Mutter hatte ihren Kirschkuchen gebacken, den ich über alles liebte. Außerdem gab es Käsebrote, Äpfel und Eistee. Ich verschlang drei Stücke Kuchen und pickte anschließend die Krümel zwischen mir und Anna von der Decke. Ich konnte mir nicht vorstellen, jemals einen besseren Kuchen als den von meiner Mutter zu probieren. Die Kombination aus leichter Säure, saftigen Früchten und süßem Teig ließ mir schon beim bloßen Gedanken daran das Wasser im Mund zusammenlaufen. Meine Mutter ermahnte mich, auch einen Apfel zu essen, aber das ignorierte ich. Es gehörte zu ihren Aufgaben, die Kinder anzuhalten, genügend Vitamine aufzunehmen. Das sah ich ihr nach, obwohl sie mir damit manchmal ganz schön auf die Nerven ging.
Wir waren kurz davor, den schönen Tag mit einem handfesten Streit über einen Apfel zu vermiesen, als plötzlich ein Mann auf uns zukam, der mir eigenartig erschien, weil er einen dunklen Anzug trug, was selbst ein Zehnjähriger als unpassende Wanderkleidung enttarnte. Meine Mutter hatte ihn ebenfalls entdeckt und begann wie automatisch, unsere Sachen in den Rucksack zu räumen. Ihr Verhalten beruhigte mich nicht sonderlich, nur Anna schien andere Sorgen zu haben, denn sie beschwerte sich lautstark, als Mama ihr den Becher mit dem Eistee aus der Hand nahm und auf der Wiese entleerte.
»Ihr geht in die Hütte«, sagte meine Mutter zu uns in einem Tonfall, den ich noch nie bei ihr gehört hatte. Eine Mischung aus Angst, Wut und Bestimmtheit. Ich nahm Anna an die Hand und zog sie hinter mir her in die Spinnenhölle. Sie begann auf der Stelle laut zu kreischen, kniff die Augen zusammen und stolperte über die flache Stufe vor der Hütte. Ich hievte sie wieder auf die Beine und drückte sie grob vorwärts.
»Stell dich nicht so an, du hast Mama gehört«, schimpfte ich und schloss hinter uns die Tür. Über uns krochen drei Spinnen mit Körpern in der Größe eines Fünf-Mark-Stücks. Mir wurde schlecht, ich bekam eine Gänsehaut und Schweiß lief mir über die Stirn. Das ist eine Panikattacke, dachte ich. Ich ekelte mich schrecklich vor diesen widerlichen Viechern, die Zentimeter für Zentimeter auf uns zu kamen – zwei krabbelnd, eine ließ sich an einem Faden von der Decke herab. Anna war in eine Art Schockstarre gefallen. Sie stand neben mir in der Mitte des Raums und wagte kaum zu atmen, während sie die Wand gegenüber anstarrte. Erst jetzt entdeckte ich das Exemplar, das meine Schwester in seinen Bann gezogen hatte. Mir wurde übel und ich wusste sofort, es hier nicht mit einer herkömmlichen europäischen Spinne zu tun zu haben, denn dieses Ungetüm war fast so große wie meine Handfläche. Ich glaubte zu erkennen, dass sie behaart war, und zählte sieben Beine. Folglich musste eines der Teile, die da aus dem mächtigen Leib ragten, der tödliche Giftstachel sein. Oder war es eine neue Art? So etwas sollte es geben. Eine Kreuzung aus südamerikanischer Killerspinne, die womöglich mit einem Containerschiff nach Europa gekommen war, und einheimischer Spinne. Zusätzlich war das Tier mutiert, wahrscheinlich wegen des unterschiedlichen Klimas. Wie viele kleine Karl Käfer hatte dieses Monster schon gefressen? So eine Größe erreichte man nicht einfach so. Dazu gehörte schon einiges. Ich schwankte und konnte mich kaum auf den Beinen halten. Anna griff nach meiner Hand und drückte sie so fest, dass ich um ein Haar geschrien hätte. Der Schmerz holte mich zurück aus meiner Trance. Es sind nur Spinnen, dachte ich, obwohl ich mir da noch immer nicht ganz sicher war.
»Was bilden Sie sich ein?«, hörte ich meine Mutter rufen.
»Ich weiß nicht, was Sie meinen?«, sagte eine Männerstimme.
»Wie ist Ihr Name?«
»Wie? Mein Name?«
»Sie werden doch einen Namen haben?«
»Lutz«, sagte der Mann. »Aus …«, er zögerte, »… Bremen.«
Meine Mutter lachte, aber ich konnte an ihrer Stimme erkennen, dass sie nicht amüsiert war. »Seien Sie nicht albern, Lutz aus Bremen. Geht ihrem Drecksverein das Personal aus oder warum stellen die inzwischen solche Trottel wie Sie ein?«
»Ich mache eine …«
»Wanderung!«, unterbrach meine Mutter den Mann höhnisch. »In Anzug und mit polierten Schuhen? Das ist ja lächerlich. Sie sind ihrem Observationsziel in die Arme gelaufen. So sieht es aus. Richten Sie Josef Tillinger schöne Grüße aus und er soll nächstes Mal nicht so einen Idioten schicken.«
Ich wunderte mich über den Namen Tillinger. Ich kannte Laurenz und Dieter, aber keinen Josef. Zum Glück hatte ich keine Zeit, weiter darüber nachzudenken, denn meine Mutter holte uns aus dem Spinnenhaus. Bei ihrem Anblick brach Anna zusammen und begann zu weinen. Sie war eben noch ein kleines Mädchen. Wir rannten zurück zum Auto. Aus der Wandertour war eine wilde Hatz geworden. Im Auto fragte ich meine Mutter, wer der Mann gewesen sei. Sie behauptete, er habe sich verlaufen und den richtigen Weg gesucht. Manchmal war es demütigend, wie Erwachsene uns Kinder für dumm verkauften.
Zuhause erwarteten uns Laurenz, Gideon Goldmann und der fette Rollstuhlzwerg Jochen Maus bereits im Innenhof der Bonner Straße 42. Dieter war zu meinem Leidwesen auch dabei, denn ich konnte ihn nicht ausstehen. Zu allem Überfluss litt er an einer Magen-Darm-Grippe und war leichenblass. Wir Kinder wurden in mein Zimmer verbannt. Ich hatte keine Ahnung, was ich mit meiner dummen Schwester und dem kranken Ostkind hätte spielen sollen. Wir passten vom Wesen, Geschlecht, Alter sowie von der Herkunft nicht zusammen. Außerdem hatte ich Angst, Dieter könnte auf meine Spielsachen brechen.
»Ich glaube, die Erwachsenen sind so aufgeregt, weil da einer gestorben ist«, sagte er schließlich, während wir uns auf dem Boden gegenüber saßen und unschlüssig auf einen Haufen Playmobil und Modellautos guckten.
»Ist mir doch egal«, sagte ich so gelassen wie möglich.
»Der heißt Pedersen«, fuhr Dieter fort. »Ich kenne den, weil der uns geholfen hat, aus der DDR zu fliehen.«
»Ist ja spannend«, murmelte ich und griff nach einem Ford Mustang, den ich besonders mochte und deshalb vor Dieter schützen wollte.
»Kennst du den auch?«, fragte er.
Stephan Pedersen war, seit ich denken konnte, ein Freund unserer Familie. Er kam zu allen Geburtstagen und anderen Feiern und hatte ab und zu seinen Sohn Jonas mitgebracht, den ich aber nicht leiden konnte. Der war ein hässlicher Angeber.
»Wie stirbt man denn?«, fragte Anna mit großen Augen.
»Die haben seine Leiche unter einem LKW abgekratzt«, sagte Dieter und spielte dabei gelangweilt mit einem Modellauto herum, einem Jeep mit Ladefläche, den ich ebenfalls nicht gern hergab. »Der hat sich umgebracht, sagt mein Vater. Wahrscheinlich aus Liebeskummer, weil sich seine Frau von ihm getrennt hat.«
»Das werde ich bestimmt nicht machen, mich wegen einer Frau umbringen«, verkündete ich selbstsicher. »Oder einer hinterherlaufen. Es haben ja viele Mütter heiße Töchter.«
Dieter schaute mich an, als habe ich etwas sehr Dummes gesagt, dabei handelte es sich um einen Spruch von Linus, den ich gern nachplapperte, um cool rüberzukommen. Irgendetwas stimmte mit diesem Ostkind nicht.