Читать книгу Tankred und die Bergsteiger - Ulf Kramer - Страница 22

Оглавление

Mission

Kaum ist KOK Termoltke verschwunden, da geht erneut die Klingel. Ich komme mir vor wie auf dem Jahrmarkt. Ein lästiger Kunde nach dem anderen. Wer könnte es diesmal sein? Hat die Polizistin etwas vergessen, möchte mich Linus um Entschuldigung bitten, hat sich Lejla nach fünf Jahren endlich entschlossen, meinen Trotz zu ignorieren und zu mir zu kommen? Draußen stehen zwei Männer, einer älter als ich, einer wesentlich jünger. Beide tragen Anzüge und akkurate Kurzhaarfrisuren. Ich frohlocke. Die kommen mir gerade recht, denn diese unglückseligen Kreaturen tappen in die Fänge meiner Frustration.

»Wir sind …«, beginnt der Jüngere zu reden.

Zeugen Jehovas, beende ich den Satz in Gedanken, ohne weiter zuzuhören, weil es mir vollkommen egal ist, was er zu sagen hat. Er könnte mir leidtun, weil es eine Menge Leute gibt, die nicht klarkommen und sich am Rand einnisten, um dort in ihrer eigenen Burg aus Gott, Nation, Fußball oder anderen Fantasien Zuflucht zu nehmen. Oder sie wenden sich emotional vereinsamt dem Alkohol als Mittel des kollektiven Eskapismus zu, um zumindest in saufender Gesellschaft allein zu sein. Das ist mir sympathischer als ein metaphysischer Mythos. Ein feste Burg ist unser Gott, ein gute Wehr und Waffen. Einer der Tophits von Luther, kennen sogar katholisch sozialisierte und inzwischen entkirchlichte Antichristen wie ich. Ich kann Burgen nicht leiden. Wie schnell verschanzt man sich in einem prächtigen Bollwerk, linst über die Zinnen und stellt fest, ein Hinterwäldler zu sein. Dann wird es ungemütlich, weil Hinterwäldler nicht gern Hinterwäldler sind, oft spucken sie Gift und Galle und wer mag schon Dinge wie Gift – und was Galle ist, weiß wahrscheinlich ohnehin kaum jemand. Diese verlorenen Seelen vor meiner Tür begehen den Fehler, sich ausgerechnet vor der Pforte meiner metaphorischen Burg zu tummeln.

»… und morgens ist es eine Offenbarung unseren Energydrink zu trinken, weil er nicht nur den Körper, sondern auch den Geist supported. Es gibt einem Power für den ganzen Tag«, sagt der Mann und hält mir eine violette Dose vor die Nase, auf der ein Fantasiename prangt, der wahrscheinlich gut klingen möchte.

»Verkauft ihr Jehovaleute jetzt schon Limo?«, frage ich verdutzt. Anscheinend habe ich während des Vortrags des Mannes den Faden verloren. Gottesbrause als Türöffner zum Himmel. Vielleicht braucht die Sekte auch einfach nur Geld. Wäre nicht auszuschließen. Der Kapitalismus kriegt sie alle. Selbst die guten, alten Bibelforscher.

Der jüngere Mann – ich taufe ihn Limofreak – behauptet, kein Zeuge Jehovas zu sein, sondern zu einem Verein zu gehören, von dem ich noch nie etwas gehört habe. Dieser sei gerade dabei, die Welt, die wir kennen, zu revolutionieren. Das überrascht mich, denn eigentlich bin ich es, der revoluzzt. Dass mir andere klammheimlich zuvorkommen wollen, passt mir überhaupt nicht in den Kram.

»Wir ermöglichen es allen Menschen, eine ganz neue Lebensqualität für sich zu finden. Sie sind nicht länger nur Konsument, sie sind Shareholder. Alle profitieren. Wir schaffen ein Movement, in dem jeder sein Developmentpotential voll ausschöpfen kann.«

Limofreak erinnert mich an Linus, der sich auch gern lächerlich macht, indem er englische Begriffe in seine Sprache einbaut. Der ältere Brauseonkel stapft angespannt von einem Bein aufs andere. Vielleicht fällt es ihm schwer, so lange zu stehen. Oder er muss aufs Klo. Hat selbst zu viel von seinem geschmacksverstärkten Sprudelwasser gesüppelt. Limofreak will eine neue Tiradensalve starten, aber ich hebe die Hand, schüttele energisch den Kopf.

»Stellen wir uns vor, zwei Jungen spielen zusammen im Garten, nennen wir sie einmal Paulus und Lothar Matthäus«, sage ich. »Zwischen ihnen liegt ein rundes Ding aus Leder.«

»Ein Fußball«, murmelt Brauseonkel und handelt sich damit einen bösen Blick seines Kompagnons ein.

»Genau!«, rufe ich vergnügt. »Also, da liegt ein Fußball zwischen den beiden und Lothar Matthäus sagt, guck mal, da ist ein Fußball.«

Limofreak schaut mich an, als habe ich den Verstand verloren.

»Paulus schüttelt mit dem Kopf«, fahre ich unbeirrt fort. »Nein, sagt er, das ist doch kein Fußball. Das ist eine Katze. Und dann Lothar Matthäus: Spinnst du? Das ist ein Fußball. Das war schon damals 1954 im Berner Wankdorfstadion ein Fußball und erst recht, als ich, also Lothar Matthäus, ihn 1990 Andi Brehme überlassen habe, damit der den entscheidenden Elfer tritt.«

»Weil Matthäus die falschen Schuhe an hatte«, stimmt mir der Brauseonkel zu.

Limofreak straft seinen Kompagnon erneut mit einem Blick, der nichts Gutes für den Rest des Tages verspricht. »Also, erstens sind mir Lothar Matthäus’ Schuhe total egal«, echauffiert er sich, »und zweitens sind wir nicht hier, um uns Ihre Story über Fußball …«

»Na, na«, unterbreche ich Limofreak mit erhobenem Zeigefinger. »Sie klingeln bei mir und wollen mir dann vorschreiben, worüber ich sprechen darf und worüber nicht?« Ich atme tief ein und wieder aus, als müsste ich die Enttäuschung über dieses Benehmen erst einmal verdauen. »Also: Paulus lässt sich nicht beirren. Er erklärt Lothar Matthäus, einem Irrglauben aufzusitzen. Der Fußball sei in Wirklichkeit eine Katze. Um seine Sicht grundlegend darzulegen, schreibt Paulus ein Buch und sammelt Gleichgesinnte um sich. Die Katzengläubigen singen Lieder über die einzig wahre Katze, später werden Filme gedreht, Geschichten erzählt und Katzenfeste gefeiert.«

Der Limofreak räuspert sich übertrieben laut. »Wir sind hier, um Ihnen eine neue Art des Marketings …«

»Ein Gleichnis, Mann«, rufe ich mit einem Hauch religiöser Ekstase. »Ein Gleichnis, verdammt! Paulus behauptet, alle, die in der Katze einen Fußball sähen, verfolgten heimtückische Pläne oder plapperten die Mehrheitsmeinung nach, um nicht negativ aufzufallen. Nur er kenne die Wahrheit, die eine einzige Wahrheit!«

»Sie sind ja tatsächlich verrückt«, stellt Brauseonkel besorgt fest.

Ich winke ab und fahre fort. »Jetzt kommt die Pointe, die wir natürlich bereits kennen. Egal, was alle sagen, singen, tanzen und zelebrieren, die Katze ist keine Katze, sondern ein ordinärer Fußball. Das wird spätestens dann offensichtlich, wenn jemand versucht, davorzutreten. Deshalb muss das verboten werden. Ein göttliches Gebot! Tritt nicht vor die Katze, sonst rollt sie ins Tor. Der Ball der Verdammnis oder so ähnlich. Das ist brillant.«

»Noch einmal, wir sind nicht von einer religiösen Sekte«, ruft Limofreak genervt. »Wir sind ein Movement, das eine neue Idee, einen new way of Persönlichkeitsentwicklung …«

»Eine Katze. Eine fette Katze mit Adidasaufdruck!«, unterbreche ich ihn hysterisch kichernd. »Never kick the cat.«

Brauseonkel tippt sich mit dem Finger gegen die Schläfe. »Der ist total plemplem.«

Sein Kumpel packt die Limodose zurück in seinen Rucksack, auf dem ebenfalls der Fantasiename des Getränks prangt.

»Was müsste ich in so eine Dose investieren?«, rufe ich den beiden nach, als sie die Treppe nach unten rennen. »Katzensaft. Katzensaft. Das gibt jeder Katze Kraft«, singe ich mit einer Melodie von Helge Schneider.

Wieder in der Küche fühle ich mich schlecht. Andere Leute runterzumachen verschafft mir keine Befriedigung. Die Typen von eben tun mir leid. Das sind haltlose Menschen – ein bisschen so wie ich. Nur lassen sie sich blenden und treten einer Limosekte bei. Ich bleibe lieber allein und leide still vor mich hin. Aber selbst Revoluzzer und Träger des Weltschmerzes müssen frühstücken. Deshalb quäle ich mich die Treppe hinunter auf die Straße. Mein kleines Zwischenhoch ist verpufft. Missmutig nehme ich das Auto, statt zur Bäckerei zu laufen. Das Radio dudelt einen Song von einer Boygroup, wahrscheinlich Backstreet Boys, mehr Bands aus diesem Genre weigere ich mich zu kennen. Ich wähle den CD-Kanal. Eine Frau mit faszinierend transparenter Stimme singt auf Englisch etwas über Satelliten. Schon wieder. Die Teile verfolgen mich. Allerdings scheint die Sängerin im Vergleich zu dem Typen von dieser Sonnenkommandoband ein apodiktisch reines Wesen zu sein. Noch bevor der Song zu Ende ist, erreiche ich mein Ziel. Für diese kurze Strecke das Auto zu bewegen, ist schändlich, aber es nieselt und mein Leidensdruck ist so immens, dass mir mein ökologischer Fußabdruck – grob gesagt – am Arsch vorbeigeht. In der Parklücke neben mir steht eines dieser gigantischen Buschfahrzeuge, die zwar komplett an der Verkehrsrealität deutscher Innenstädte vorbei konzipiert worden, in den letzten Jahren dennoch schwer in Mode gekommen sind. Aber gut, einige Menschen trauen sich ohne Allrad, zweihundert Pferdestärken und panzerähnlicher Karosserie nicht vor die Tür. Das Leben ist feindlich, da muss man sich und sein Ego schützen. Diese Leute scheren sich einen Dreck um den Dreck, den sie fabrizieren, sind Rebellen der Straße, weil sie Parklücken besetzen, die für herkömmliche Autos und nicht für breite Geländehaubitzen erfunden worden sind. Regeln gelten für solche Automobilisten nicht, Konventionen sind da, um auf dem inneren Altar des Aufbegehrens geopfert zu werden. Diese Typen und ich, wir sind von einem Schlag, beide aus Holz geschnitzt, ich Ahorn, die importierter Regenwald.

Ich quetsche mich mühsam aus dem Auto. Die Tür kann ich nur einige Zentimeter öffnen, bevor sie gegen das Nachbarfahrzeug stößt. Zum Glück bin ich trotz meines Alters von Mitte dreißig immer noch nicht fett geworden. In der Bäckerei muss ich warten. Vor mir steht ein Mann in einem grellgelben Poloshirt und einer dieser künstlich blau wirkenden Jeans und unterhält sich seelenruhig mit der Verkäuferin.

»Nee, ich bin nicht mehr in dem alten Fitnessstudio«, erklärt ihm die Frau hinter der Theke. »Ich gehe jetzt zu dem in dem Gewerbegebiet in der Nähe des Stadions.«

Der Mann beugt sich vor. »Das darf man ja nicht laut sagen, aber sind da nicht nur Schwatte? Da habe ich ja keine Lust drauf, da bleibe ich lieber unter meinesgleichen.«

Unter Arschlöchern, denke ich, schweige aber. Wahrscheinlich hatte der Typ eine schwere Kindheit oder er hat zu wenig Fantasie, um auf die Idee zu kommen, dass er selbst für sein jämmerliches Leben verantwortlich ist und keine Politiker, keine Ausländer oder Leute, die anders aussehen als er. Ich sollte ihn als Rassisten beschimpfen, aber ich warte einfach, bis er weg ist, und bestelle zwei Körnerbrötchen. Die Frau kassiert ab. Die beiden Brötchen kosten beinahe zwei Euro. Ich schleppe mich zurück zum Auto. Mühsam laviere ich den Wagen aus der engen Parklücke. Plötzlich springt ein Mann zur Seite und weicht so meiner hinteren Stoßstange aus. Ich hätte ihn um ein Haar überfahren. Ich hebe entschuldigend die Hand, während ich an ihm vorbeirolle, und rufe Verzeihung durch die Scheibe. Er antwortet mir mit einer obszönen Geste und schlägt wütend aufs Autodach. Was ist bloß mit den Leuten? Ich habe einen Fehler gemacht, aber mehr als mich zu entschuldigen und meine Unachtsamkeit aufrichtig zu bereuen, kann ich nicht. Ich gebe Gas und lasse den nach wie vor wild gestikulierenden Mann hinter mir. Wahrscheinlich hat er auch eine schlechte Zeit. Er steckt in der Krise, deshalb reagiert er so unverhältnismäßig. Oder er ist sauer, weil ich im letzten Moment ausgewichen bin. Vielleicht wollte er, dass ich ihn überfahre, weil er die Nase von dem ganzen Mist hier voll hat, weil er eingesehen hat, dass die Sex Pistols recht hatten, und es keine Zukunft gibt. Deshalb ist er mir vors Auto gelaufen und was tue ich? Bremse und verschone ihn. Da kann man durchaus die Contenance verlieren. Der Mann tut mir leid.

Kurz vor meiner Wohnungstür treffe ich auf dem Flur meine Nachbarin Frau Weber. Seit ich die Musik laut auf Dauerschleife habe laufen lassen, hasst sie mich noch mehr als zuvor. Ich rechne mit dem Schlimmsten, aber sie grüßt mich freundlich und geht weiter. Das macht sie aus Boshaftigkeit, sie versucht mich so zu provozieren, die alte Schlange.

»Halt die Fresse!«, raune ich ihr zu.

»Aber Herr Deutsch«, ruft Frau Weber entsetzt.

Ich ignoriere ihr Gezeter und verschwinde in meiner Wohnung. Ich bin es leid, Verständnis aufzubringen. Das alte Muster, gnädig mit meinen Mitmenschen zu sein, muss ich abschütteln. Diese Attitüde führt nach meinen jüngsten Erfahrungen in die Katastrophe.

Tankred und die Bergsteiger

Подняться наверх