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Anna

Als Tochter einer alleinerziehenden Mutter sowie Schwester zweier älterer Brüder galt es, sich zu behaupten. Das lernte Anna schon früh. Nicht nur, dass sie jahrelang in blauen Klamotten für Jungs herumgelaufen war, mit Baggern, Cowboys und Indianern sowie lächerlichen Actionfiguren hatte spielen müssen, die anderen stellten sie in der Familienhierarchie wie selbstverständlich nach ganz unten. Weder ihre Mutter noch Linus oder Tankred nahmen sie für voll und das schmerzte in jedem Alter, ob als Fünfjährige mit Brüdern von sieben und elf, oder als Vierzehnjährige mit einem sechzehnjährigen Waschlappen sowie einem zwanzigjährigen Vollidioten als gefühlte Vorgesetzte. Natürlich gab es auch erträgliche Phasen und mit Tankred verstand Anna sich allgemein recht gut, aber ihre Rolle als die Kleine nagte an ihr, auch wenn sie das nicht offen zugegeben hätte. Immerhin gelang es ihr mit etwas Glück, Beharrlichkeit, finanzieller Unterstützung der Großeltern aus Schweden und dem Wohlwollen ihrer Mutter das Auslandsjahr in den USA zu ergattern.

Die ersten Wochen in Louisiana erschienen ihr wie ein infernaler Fiebertraum. Sie wohnte bei einer Cajun-Familie, Nachfahren von französischen Siedlern in Kanada, die es in den Wirren der Geschichte in den Süden der USA getrieben hatte. Es waren gute Leute, robust, aber freundlich. Sie sprachen einen eigenwilligen englischen Akzent, den Anna erst kennenlernen musste, um ihn einigermaßen zu verstehen. Der Vater der Familie war Musiker und spielte Akkordeon in einer Cajun-Band. Zweimal nahm er Anna mit zu Konzerten. Die Musik klang altmodisch, nach einer Anomalie in der Zeit. Das passte zu diesem seltsamen Landstrich, diesem Schlupfloch in die Vergangenheit. Stets schien es darum zu gehen, wer man war – Amerikaner, Kreole, Franzose, Hispanic, Weißer, Schwarzer, alles ein bisschen oder nichts von alldem? Anna konnte damit nichts anfangen. Ihr war die Frage nach der eigenen Identität fremd. Ihre Oma Ingrid war Schwedin. Aber damit verband sie nichts. Oma Maria stammte aus Schlesien. Dieses Land existierte nicht einmal mehr. Heute gehörte es zu Polen und die Menschen, die einst Schlesien zu Schlesien gemacht hatten, waren vertrieben oder tot. So lief es in dieser Welt. Kein Grund, Schlesien nachzutrauern, fand Anna. Es war fort. Sie selbst war weder schwedisch noch schlesisch. Ihre Gastfamilie legte großen Wert drauf, Cajun zu sein.

Nach zwei Monaten hatte sie Freunde gefunden. Sie ging mit einem älteren Footballspieler aus und kam sich vor wie in einem Hollywoodfilm. Der Junge war riesig und durchaus sympathisch, obwohl sie manchmal nicht verstand, was er sagte, weil er einen extremen Akzent sprach, den sie nicht zuordnen konnte. Sie rauchten zusammen Marihuana, er steckte seine Pranken unter ihr T-Shirt. Beim dritten Date knöpfte Anna ihm die Hose auf. Sein Penis war ekelhaft groß und biegsam gewesen, gar nicht wie sie es sich vorgestellt hatte. Sie holte ihm einen runter und ließ sich dabei Sperma auf den Bauch spritzen. Ob das Absicht oder ein Versehen war, versuchte sie nicht herauszubekommen. Sie warf ihre Klamotten später in der Nacht weg und beschloss, den Footballspieler zu vergessen. Sie wollte sich nicht noch einmal bekleckern lassen. Sperma war nicht ihr Ding, das hatte sie gelernt. Zwar hatte der Penis sie neugierig gemacht und sogar ein bisschen erregt, aber der Schleim, den er gespieen hatte, war einfach nur ekelhaft. Einige Mädchen erzählten auf der Schultoilette, dieses Zeug schon einmal geschluckt zu haben, doch bei dieser Vorstellung bekam Anna einen Kotzreiz. Vielleicht änderte sich das mit dem Älterwerden, aber sie war gerade erst fünfzehn und nicht scharf auf weitere Erfahrungen dieser Art.

Worauf Anna nicht verzichtete, waren die Drogen. An Marihuana zu kommen, war nicht besonders schwierig, und Freunde zu finden, die mit ihr kifften, erst recht nicht. Später traf sie sich mit einem Afro-Amerikaner namens Mathew, der total auf Hip Hop stand und permanent MC Hammer hörte. Das fand Anna irgendwie lustig, weil Linus das auch mochte, die beiden aber sonst absolut keine Gemeinsamkeiten hatten. MC Hammer passte allerdings besser zu Linus als zu Mathew, denn irgendwie wirkte der Rapper ziemlich bieder und viel weniger gefährlich als beispielsweise Public Enemy, Cypress Hill oder Ice-T. Trotzdem stand Mathew ausschließlich auf MC Hammer, obwohl er sich sonst gern benahm wie ein kleiner Gangster, mit Drogen handelte oder auch mal das ein oder andere Portemonnaie klaute. Anna machte da zwar nicht mit, aber aufregend fand sie es trotzdem. Sie war the hot Nazigirl, so nannten Mathews Kumpels sie liebevoll. Weil es gut lief und sie den Status der mysteriösen Deutschen mit den Gangsterfreunden genoss, ließ sie sich weiter auf Mathew ein als geplant. Zweimal schlief sie mit ihm, ohne dabei großen Spaß zu entwickeln. Er kam beide Male nach wenigen Sekunden, so dass sie am Ende ziemlich enttäuscht war, denn weder hatte sie Sex als erniedrigend, schmerzhaft oder widerlich noch als geil oder explosiv empfunden.

Die Sache mit Mathew erledigte sich dann von allein, als ihre Gastfamilie von ihm erfuhr. Nun erst wurde Anna bewusst, bei Rassisten zu leben, denn sie verbaten ihr unter Androhung, sie aus dem Haus zu werfen, jeden weiteren Umgang mit einem Nigger. Anscheinend wünschten sich diese Leute zurück in eine Zeit, als Schwarze noch so bezeichnet wurden und Weiße im Bus die besseren Plätze bekamen oder in Restaurants alleine saßen. Vielleicht träumten sie sogar von der ein oder anderen Negersklavin, die ihnen den Rasen mähte, die Wäsche machte und sich vom Hausherren vergewaltigen ließ. Anna wurde sich zum ersten Mal der ganzen Schwere und Grausamkeit der Geschichte der Südstaaten bewusst. Das Land der Freien und die Heimat der Mutigen, die zusammen Millionen Menschen versklavt und wahrscheinlich ebenso viele Indianer ausgerottet hatten. Anscheinend war der Stolz und die Glorie der einen stets gleichbedeutend mit dem Leiden der anderen. Das war eine Lektion, die sie in den USA gelernt hatte.

Wieder zuhause musste sie feststellen, dass sich die Bonner Straße während ihrer Abwesenheit stark verändert hatte. Linus war ausgezogen – ein zu verschmerzender Umstand –, dafür lebte das Flüchtlingsmädchen Lejla bei ihnen und Tankred hatte sich überflüssigerweise Hals über Kopf in sie verliebt. Anna spürte bereits am Tag ihrer Rückkehr, dass das nicht gut gehen konnte. Alles drehte sich um Lejla. Ihre Mutter sorgte sich um sie, als handelte es sich bei ihr um einen zarten Hundewelpen, der gerade aus den Fängen grausamer Tierquäler gerettet worden war. Hat Lejla Heimweh? Wie lange kann Lejla bleiben? Wie geht es Lejlas Familie? Fühlt sich Lejla auch wohl? Was möchte Lejla zum Frühstück? Hat Lejla gut gekackt? Anscheinend bemerkte außer ihr niemand, wie das doofe Mädchen alle um den Finger gewickelt hatte.

Dann wurde sie von Lejla mit einer Tüte Marihuana am See erwischt. Sie stand von der einen Sekunde auf die andere vor ihr und grinste sie von oben herab an. Anna wäre am liebsten aufgesprungen und hätte Lejla eine gelangt. Stattdessen zog sie an ihrem Joint und hielt ihn anschließend Lejla hin.

»Ich kiffe nicht«, sagte sie.

»Solltest du aber. Vielleicht macht dich das lockerer.«

Lejla schüttelte den Kopf.

»Wirst du es meiner Mutter erzählen?«, fragte Anna.

»Möchtest du das?«

»Blöde Frage.«

»Es würde dir nicht gefallen, mir einen Gefallen zu schulden, oder?«

Anna schaute Lejla in die Augen. Auf dem See tuckerte ein Ausflugsdampfer vorbei. »Wundert dich das?«

»Was hast du eigentlich gegen mich?«, fragte Lejla und setzte sich eine Sonnenbrille auf.

»Du saugst dich in meine Familie.«

Lejla lachte arrogant. Anna presste ihre Hände zu Fäusten.

»Du brauchst keine Angst haben, ich sage nichts.«

»Auch nicht Tankred?«

»Deine Entscheidung.«

Anna betrachtete das langsam vorbeiziehende Schiff. Auf den Bänken hockten ein paar Touristen. »Was willst du von mir, wenn du nichts sagst?«

»Du schuldest mir nichts, Anna«, entgegnete Lejla und drehte sich zum Gehen. »Ihr habt mir geholfen, also helfe ich dir.«

Anna drückte den Joint in die Wiese, auf der sie saß. In der Luft hingen die Abgase des Dieselmotors des Schiffes.

Zum Glück erwiesen sich kurz darauf die Kroaten im Massakrieren der Gegner als die Besseren, vertrieben ihre Feinde aus Dubrovnik und Umgebung und ebneten so Lejlas Rückkehr nach Hause. Zur Mitte der Sommerferien 1992 verschwand sie endlich aus der Bonner Straße. Anna war erleichtert, Tankred fiel in ein Loch ohne Boden. Ihr war das egal, Liebeskummer musste man aushalten.

Tankred und die Bergsteiger

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