Читать книгу Tankred und die Bergsteiger - Ulf Kramer - Страница 13

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Revolution

Ich wache auf, schaue mich mit verklebten Augen im Zimmer um und überlege, alles nur geträumt zu haben. Die Marmelade auf dem Schuh, den nervigen Kindergeburtstag, die Polizei in der Bonner Straße, meine Mutter mit der gusseisernen Pfanne und schließlich Alina im Bett von Linus. Ich setze mich auf und starre die leere Flasche Wodka auf dem Tisch an. Mir sollte schlecht sein, aber ich fühle gar nichts. Das ist ein Schutzmechanismus.

Steif quäle ich mich aus dem Bett und schalte das Radio ein. Ein wenig Morgenroutine kann nicht schaden. Es läuft Oasis mit Don’t Look back in anger. Keine Ahnung, warum der Radiosender diesen zynischen Schabernack mit mir treibt. Lustig finde ich das nicht. Please don’t put your life in the hands of a rock’n’roll band näselt der Sänger mit seinem britischen Englisch aus den Boxen meines Radios. Mir geht der Typ auf die Nerven, aber umzuschalten schaffe ich nicht. Außerdem hat er nicht ganz unrecht. Nur Verrückte würden sich Rockmusikern anvertrauen. Ich habe mein Leben in die Hände einer promiskuitiven Frau gelegt. So ist das. Man bindet sich – leider oft falsch.

So I’ll start a revolution from my bed singt der Oasistyp. Jetzt muss ich widerwillig lächeln. Meine Stimmung kippt von niedergeschlagen zu aufmüpfig. Es ist Zeit, etwas zu ändern, mein Leben neu zu ordnen. Ich schnappe mir den Laptop und tippe die Kündigung meiner Wohnung zum nächstmöglichen Zeitpunkt. Hier kann ich nicht länger leben. Dann wähle ich die Nummer meiner Schwester Anna. Sie nimmt sofort ab. Das ist ungewöhnlich, denn für ihre Verhältnisse ist es noch ziemlich früh. Sie erzählt mir, eben mit dem Anwalt unserer Mutter telefoniert zu haben. Jonas Pedersen. Ausgerechnet. Sein Vater war ein guter Freund meiner Mutter, der sich Mitte der Achtziger Jahre aus heiterem Himmel von einer Autobahnbrücke gestützt hat. Seinen Sohn habe ich daraufhin lange nicht gesehen, bis er sich 1999 auf einer Party an Lejla herangemacht hat, dieser heimtückische Halbwaisenknabe. Was habe ich den gehasst, dabei hat er mir damals prinzipiell nichts getan. Von meinen etwas eigentümlichen Besitzansprüchen, die ich gegenüber Lejla einst zu hegen pflegte, konnte er nichts wissen. Und Lejla attraktiv zu finden, ist wirklich kein Verbrechen, eher so eine Art logischer Schluss. Dass ausgerechnet Jonas Pedersen nun meine Mutter aus dem Gefängnis holen soll, passt mir trotzdem nicht in den Kram. Er erinnert mich an ein Kapitel in meinem Leben, das ich vor langer Zeit in London für beendet erklärt habe. Und jetzt höre ich Oasis und stelle alles, was ich zum obligaten Teil meiner Existenz erklärt habe, infrage. Warum bin ich mit Alina zusammen gewesen? Welcher Wahnsinn hat mich geritten, mit meinem Bruder einen Feinkostladen zu eröffnen? Wieso zur Hölle erschlägt meine Mutter ihren besten Freund Laurenz mit einer Pfanne? Ich glaube, Menschen die Oasis hören, haben generell ein Problem mit sich und ihrem Leben. Penetrantes Geseier ist das. Alina mag Oasis. Lejla fand die Band immer zu lahm.

Anna plappert mir die Ohren voll. Ich kann mich nicht konzentrieren. Unsere Mutter verweigere jede Aussage. Sie säße nach wie vor auf einer Polizeiwache in Haft. Ich frage mich, ob das legal ist. Einfach so weggesperrt zu werden. Irgendwann lege ich auf. Anna geht mir auf die Nerven. Ich schiebe eine CD von Kommando Sonne-nmilch in den CD-Player. Meine Freundin Thai hat mir das Album vor Wochen in die Hand gedrückt. Das Cover ist grell bunt, der Name der Band und die seltsame Schreibweise kommen mir Spanisch vor, der Titel des Albums passt aber ganz gut. You pay I fuck. Das könnte Alinas Lebensmotto sein. Ich habe sie demaskiert. Ab sofort benehme ich mich genauso wie sie, dann kann ich nicht mehr verarscht werden. Ich zahle es mit gleicher Münze heim, obwohl das meiner guten Erziehung widerspricht. Oder ist das längst egal? Gibt es überhaupt etwas mit Konsistenz oder ist alles nur eine wabernde Masse, die je nach User frei zu modulieren ist. Das alles ist schrecklich verwirrend. Ich drücke Play. Ein Typ brabbelt mit eigenartiger Stimme los. Er spricht seine Texte mehr als zu singen und schön ist es auch nicht. Ich drücke willkürlich ein paar Titel weiter. Eine E-Gitarre schraddelt ähnlich schräg, wie der Mann sein Singsprech seibert. Das nächste Lied hat einen schnellen Beat und gefällt mir besser. Ich drehe die Lautstärke hoch, so dass ich nichts anderes mehr hören kann und gehe unter die Dusche. Als ich gewaschen und angezogen in der Küche stehe, hämmert jemand gegen die Tür. Draußen steht meine Nachbarin Frau Weber, die sich, seit ihr dreißigjähriger Sohn vor zwei Jahren ausgezogen ist, als Mama der Hausgemeinschaft versteht.

»Machen Sie jetzt mal diese Negermusik aus, sonst hole ich meinen Mann oder sofort die Polizei!«

»Und was soll ihr Mann machen?«, frage ich gereizt. »Mir auf die Fresse hauen und dann die Neger aus meiner Wohnung scheuchen?«

»Also hören sie mal.«

»Mach ich doch.«

»Also wirklich. Da können Sie auch in die Hausordnung …«

»Steck dir die Hausordnung in deinen Schweinchenhintern«, sage ich.

Frau Weber läuft rot an und stellt das Atmen ein. Ich schlage die Tür zu und mache die Musik lauter. Ich befreie mich von allen Zwängen, denke ich. Ab sofort mache ich keine Gefangenen mehr. Zumindest heute nicht. Das ist kindlicher Trotz, aber in diesem Moment scheint er angebracht zu sein.

»Wenn du eines Tages begreifst, dass du ängstlich dir dein Leben hast versaut«, mümmelt der Typ von der Band in infernalischer Lautstärke. Musikalisch ist der Morgen ein voller Erfolg. Ich drücke auf die Repeat-Taste und gehe.

Auf der Polizeiwache fühle ich mich falsch. Obwohl ich mir noch nie etwas habe zu Schulden kommen lassen, zumindest nicht so richtig, beschleicht mich in der Nähe von Polizisten immer ein mulmiges Gefühl. Zwei Beamte drängen sich an mir vorbei. Vielleicht sind sie auf dem Weg zu meiner Wohnung, um gegen eine Ruhestörung vorzugehen. Ich werde bei einer Art Schalter vorstellig und verlange, zu meiner Mutter vorgelassen zu werden. Ich trete betont selbstsicher auf, damit die Polizisten sofort eine Ahnung bekommen, mit wem sie es zu tun haben. Ich erwarte nicht, damit Erfolg zu haben, aber ich will auf den Oasis-Freak hören und eine Revolution starten, nicht aus dem Bett und auch nur eine ganz kleine, aber Revolution klingt einfach zu gut, um zuhause zu bleiben und weiter Wodka zu trinken. Dabei geht es nicht um den Erfolg oder das Scheitern, es geht darum, der Rebellion zu frönen. Der Aufstand des Anständigen, der Kampf ist das Ziel, der Weg wird mit Tränen und Schnaps getränkt. Der beste Krieger ist der, der nicht kämpfen muss, habe ich mal gelesen. Damals hielt ich den Satz für klug, heute weiß ich, dass es bedeutet, seine Existenz ad absurdum zu führen.

»Übermorgen ist die Anhörung im Gericht«, erklärt mir eine junge Beamtin mit einem langen, geflochtenen Zopf.

Ich frage mich, ob es für Polizistinnen Vorschriften für das Tragen von langen Haaren gibt. Außerdem verstehe ich nicht, wer jungen Mädchen solche Flausen in den Kopf setzt, dass sie zur Polizei gehen. Ich stelle mir das schrecklich vor, aber vielleicht habe ich ein verqueres Bild vom Dasein einer Polizistin. Ich bin der Sohn meiner Mutter, da ist etwas hängen geblieben. Wir sind eine Familie von Polizeihassern und Attentätern.

»Was soll denn da gehört werden vor Gericht? Ist das schon die Verhandlung?«

Die Polizistin lächelt milde, als habe ich etwas total Dummes gesagt. »Da wird festgesetzt, ob die U-Haft für Ihre Mutter bestehen bleibt.«

»U-Haft? Das ist doch Unsinn. Meine Mutter ist Mitte sechzig und hat sich noch nichts zu Schulden kommen lassen. Das ist doch Schikane. Polizeiwillkür!«

»Vielleicht kennen Sie Ihre Mutter nicht so gut, wie Sie denken«, sagt die Beamtin und schaut mich an, als hätte sie einem Kind mitgeteilt, sein Hamster sei gestorben.

»So langsam gehen Sie mir ganz schön auf die Nerven.«

Sie macht große Augen. »Wollen Sie mir drohen?«

»Quatsch. Ich kann Ihnen doch sowieso nichts. Sie haben doch bestimmt Karate gelernt in Ihrer Ausbildung und Juikuckuck oder wie das heißt. Dazu sind Sie bewaffnet und ich habe nicht mal gefrühstückt. Da wird ein zumindest halbwegs intelligenzaffiner Mensch also kaum drohen.«

Die Frau wirft mich mit der Bemerkung, es sei das Beste für mich, widerstandslos zu verschwinden, aus der Wache. Vielleicht hat sie recht. In Sachen Revolution muss ich noch üben. Aber es geht weiter, das spüre ich. Die Zeit des Duckens ist vorüber. Ich könnte auf den großen Marktplatz gehen, mich den Zeigefinger in die Höhe reckend auf eine Apfelsinenkiste stellen und laut ausrufen: Schaut her! Nicht mit mir! Stattdessen setze ich mich in eine Bäckerei und bestelle ein Schokocroissant mit einem großen Milchkaffee. Nur weil es mir schlecht geht, kann ich nicht auf Nahrung verzichten. Das Problem ist, dass eine profane Tätigkeit wie Essen Zeit zum Nachdenken bietet und prompt fühle ich mich elend. Nachdenken ist schlechte Medizin. Ich überlege, Lejla anzurufen. Ich habe zwar seit Jahren nicht mit ihr gesprochen, aber mir fällt niemand ein, mit dem ich besser hätte reden können. Wahrscheinlich würde sie nicht rangehen, sähe sie meine Nummer im Display ihres Handys. Wir sind damals in London nicht in Freundschaft auseinandergegangen und ich kann nicht einmal ihr die Schuld an unserer seitdem herrschenden Funkstille in die Schuhe schieben.

Eine Familie setzt sich an den Nachbartisch. Mutter, Vater, zwei Töchter irgendwo zwischen fünf und zehn. Besser kann ich das nicht schätzen. Kinder sind ein Mysterium für einen Junggesellen wie mich. Die Mädchen haben beide ein Stück Kuchen auf ihrem Teller und eine Flasche Cola dazu, die Frau und der Mann haben nichts.

»Wir können nicht das Geld so zum Fenster herauswerfen«, sagt die Frau vorwurfsvoll. Erst jetzt bemerke ich, dass sie Tränen in den Augen hat. Ich schäme mich auf der Stelle, diese Leute zu belauschen.

»Unsere Kinder wünschen sich ein Stück Kuchen. Wenn ich ihnen das nicht mehr bieten kann, was für ein Vater bin ich dann?«, antwortet der Mann, klingt dabei aber nicht besonders überzeugt von dem, was er sagt.

Ich hole mein Handy hervor. Ich darf diese Menschen nicht länger ausspionieren. Dann kann ich mich nicht mehr selbst bemitleiden, weil es anderen viel schlechter geht. Die haben Probleme, die ich nicht einmal kenne. Obwohl wir nicht reich sind, hat meine Familie genug Glück gehabt, um niemals arm zu sein. Ich krame im SMS-Ordner meines Telefons nach der letzten Nachricht von Lejla. August 2008. Ich rechne ein bisschen. Viermal zwölf plus zehn. Seit 58 Monaten habe ich nicht zurückgeschrieben. Ich kann mich erinnern, die Nachricht auf dem kleinen Bildschirm aufplöppen gesehen zu haben. Damals habe ich während des Frühstücks im Radio einen Bericht über einen Anschlag auf ein neu errichtetes Mahnmal für die von den Nazis ermordeten Homosexuellen gehört. Seltsam, wie man die Dinge miteinander verknüpft. Ich vernehme die Stimme des Reporters, höre mich selbst sagen, was für geisteskranke Spacken die Menschheit doch hervorbringe, dann sehe ich die Anzeige auf dem Handy. Damals hatte ich noch kein Smartphone. Ich drückte noch auf echte Tasten, um an den Text zu kommen. Heute wische ich geschwind mit meinem Finger über den Bildschirm, bis ich die Nachricht finde.

Manchmal weiß ich nicht, was ich möchte, Tankred. Aber ich weiß, was ich nicht möchte. Melde dich, solltest du meinen, dass es wieder gut ist.

Ich habe mich fürchterlich aufgeregt, weil ihre Nachricht ungeheuren Spielraum zur Interpretation ließ und das war genau das, was ich damals nicht gebrauchen konnte. Ich war es leid zu hoffen, zu bangen, zu warten, zu lachen und zu weinen. Eigentlich fühlte ich mich ähnlich wie heute. Keine Gefangenen mehr. Dass ich ihre SMS nie beantwortet habe, war meine Reaktion auf alles, was Lejla und mich ausmachte, auf diese Un-Beziehung, obwohl es dieses Wort nicht gibt. Und jetzt sitze ich hier, fühle mich hilfloser denn je und mir fällt nichts Besseres ein, als mich an Lejla zu erinnern. Das ist das Elend meines Lebens, denke ich pathetisch und fühle mich sofort ein bisschen besser.

Tankred und die Bergsteiger

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