Читать книгу Tankred und die Bergsteiger - Ulf Kramer - Страница 19
ОглавлениеGreta
Kein Arzt in Westdeutschland wäre bereit gewesen, einem achtzehnjährigen Mädchen die Antibabypille zu verschreiben. Nicht im Jahre 1964. Das Präparat wurde ausschließlich an verheiratete Frauen ausgegeben. Anscheinend fürchtete man in den Hinterzimmern der alten Eliten, die Menschen würden in wilder Ekstase das gesellschaftliche Miteinander in eine perverse Orgie verwandeln, könnte jede Frau mit einem simplen Medikament eine Schwangerschaft vorbeugen. Die Weiber würden vor Lust stöhnend durch die Gassen ziehen, nur darauf aus, sich den nächsten Schwanz eines unschuldig daherkommenden Mannes zu packen, um ihn sich in die Vagina zu führen. Das war sie, die schmutzige Fantasie der Pfaffen, der reaktionären Politiker und selbst ernannten Hüter von Moral und Anstand. Anders ließ sich diese Farce nicht erklären. Dabei wollte Greta nichts Schlimmes, sondern nur ein bisschen Spaß mit ihrem Freund. Sie verstand nicht, was daran falsch sein sollte. Sie hatte noch keinem Menschen etwas vorgeschrieben, litt aber unter so vielen, die genau das zu ihrem Beruf gemacht hatten. Sie durfte sich nicht effektiv vor einer Schwangerschaft schützen, ihrem Freund war es verboten, sein Land zu verlassen, sie benötigte einen Berechtigungsschein, um ihn zu besuchen. Das alles wurde in der Öffentlichkeit als normal dargestellt. Sie hielt es für gestört.
»Wider unsere menschliche Natur«, murmelte sie und betrachtete seinen nackten Körper.
»Was hast du gesagt?«, fragte er und strich ihr über die Haare.
»Wenn wir miteinander schlafen, ohne Kinder bekommen zu wollen, handeln wir gegen die menschliche Natur. Behaupten zumindest die Idioten, die es uns verbieten wollen.«
Er nickte. »Also eine gewisse Funktion kann man Sex …«
»Ach, halt die Klappe«, rief Greta. »Ich will mit dir schlafen, ohne schlechtes Gewissen haben zu müssen. Ich will es genießen und dabei meine Sorgen vergessen. Außerdem haben wir Menschen unsere Natur doch sowieso längst pervertiert. Kann mir doch keiner erzählen, dass es natürlich ist, in eine Blechbüchse zu steigen, um damit durch die Gegend zu fliegen. Wir sind doch keine Vögel! Oder meinst du, ich sähe einem Vogel ähnlich?« Sie grinste und warf sich neben ihm in Positur. »Ich finde, ich bin eher so eine Art Venus«, rief sie und lachte.
Er verdrehte die Augen. »Kommst du eigentlich nur für den Sex in den Osten?«
Sie ließ ihren Finger über seine nackte Brust fahren. Er hatte noch keinen Haarwuchs am Oberkörper. Das mochte sie. Männer mit starker Körperbehaarung ekelten sie. Greta wollte nicht mit halben Schimpansen ins Bett gehen.
»Gibt es denn bei euch etwas außer Sex?«
Er stieg aus dem Bett und strich sich die Haare glatt. »Wir gehen zu einem nicht lizenzierten Konzert. Dann wirst du sehen, wie viel Spaß man in der DDR haben kann.«
Sie betrachtete ihre Zehen. Sie hatte zum ersten Mal Nagellack benutzt, einen schwarzen, der sie älter machte, fand sie. »Was ist denn ein nicht lizenziertes Konzert? Klingt ja ungemein spannend.«
»Eine Beatband. Die nennen sich The Corrosion. Spielen so ein Zeug wie die Beatles.«
Sie zog den BH an und suchte neben dem Bett nach ihrer Unterhose. »Und das nennt ihr nicht lizenziert?«
Er lachte. »Das ist unseren Staatsführern nicht geheuer, weil sie Musik aus nicht sozialistischer Produktion ablehnen. Dazu gehören englische Bandnamen, ein ungepflegtes Erscheinungsbild, mangelnde Musikalität, falsche Texte. So was wird verboten. Lustig, oder? Als würden wir Jugendlichen Musik spielen wollen, die die Alten gut finden.«
»Das hat eigentlich gar nichts mit Sozialismus zu tun, sondern mit der neuen Generation.«
Laurenz grinste. »Schlaues Mädchen.«
Sie warf ihm ihre Unterhose ins Gesicht. »Sei nicht so von oben herab.«
Er ließ sich aufs Bett fallen und küsste sie. Sie spielte, als würde sie sich wehren, dabei genoss sie es, wenn er so stürmisch war. Sie zog ihm das T-Shirt über den Kopf und knöpfte ihm die Hose wieder auf. Sein Penis war bereits erigiert. Auf dem Nachttisch lagen noch zwei Mondos. Sie nestelte eines aus der Verpackung und stülpte es aus Versehen falsch herum auf Laurenz’ Eichel.
»Ihr Westtussis lernt auch gar nichts in eurer imperialistischen Schule, was?«
»Wie man Sex hat ganz sicher nicht«, sagte sie und zog ihm das Kondom richtig herum über.
Er drang eilig in sie ein. Sie spürte ihn in sich und begann zu stöhnen. Sie hatte davon gehört, vielen Mädchen fiele es schwer, einen Orgasmus zu haben. Ihr ging es anders. Mit Laurenz kam sie fast jedes Mal. Er drehte sie auf den Bauch und drückte sich von hinten an sie heran. Dass er so die Initiative ergriff, war ungewohnt. Kurz wusste sie nicht, ob er ihr zu weit ging, dann spürte sie seinen heißen Atem in ihrem Nacken und alles geschah so, wie sie es sich wünschte.
Später tranken sie in einer Gaststätte in der Innenstadt drei Biere, bevor sie sich in einem großen Kellerraum in der Nähe des Bahnhofs mit ungefähr fünfzig anderen Jugendlichen trafen, um The Corrosion zu sehen. Die Band bestand aus vier jungen Männern mit Jeanskleidung und Beatlesfrisuren. Die ganze Inszenierung wirkte auf Greta lächerlich unbeholfen. Die Musik war kantig, unausgegoren. Die Musiker kopierten ihre Stars aus Großbritannien so gut es ging, aber ihre Ostattitüde wurden sie nicht los. Auch das Publikum wirkte gedämpft. Obwohl fast alle tanzten, schien die Angst, erwischt zu werden, greifbar. Greta fühlte sich dennoch beschwipst, beschwingt und glücklich. Der Nachmittag mit Sex und Alkohol sowie das Gefühl, etwas Verbotenes zu tun, euphorisierten sie. So sollten Achtzehnjährige leben. Wild, unabhängig und neugierig.
Außerdem hatte die Band ihren Vorbildern aus dem Westen eindeutig etwa voraus. The Corrosion waren richtige Rebellen, die nicht nur Parolen von sich gaben, sondern tatsächlich etwas riskierten. Die Beatles saßen in ihrem Studio in London und dudelten Liebeslieder ein. Dylan schrieb Songs über Rassismus und Gewalt. The Corrosion spielte in einem Club ein geheimes Konzert und wagten es, die Stasi herauszufordern – ohne Aussicht auf Ruhm oder Unmengen von Geld, wie es die Beatles inzwischen verdienten.
Als die vier Musiker ihr viertes oder fünftes Lied anstimmten, rempelte ein Junge von hinten Greta an und sie fiel zu Boden. Laurenz half ihr auf, als erneut zwei Konzertbesucher an ihnen vorbeidrängten. Jemand schrie etwas, einige Gäste stürmten vorwärts durch die Menge Richtung Bühne. Jemand rief Polizei, ein anderer Vopos. Laurenz packte Greta am Arm und zog sie hinter sich her Richtung Toiletten.
»Wir werden hochgenommen«, schrie er ihr durch den Tumult zu. »Bleib immer hinter mir. Es gibt einen Hinterausgang.«
Greta spürte Panik. Ihr Herz schlug wie wahnsinnig. Aus dem Augenwinkel konnte sie hinter sich Polizisten mit Schlagstöcken erkennen. Der Schlagzeuger der Band sprang von der Bühne direkt vor ihre Füße. Sie sah, wie ihm der Knöchel umknickte und hörte Knochen knacken. Der Mann kreischte auf und wandte sich vor ihr am Boden. In der einen Hand hielt er nach wie vor einen Trommelstock. Laurenz wurde von anderen Gästen Richtung Hinterausgang geschoben. Er schaute sich nicht um. Greta bückte sich und legte dem Schlagzeuger eine Hand auf die Schulter.
»Komm, ich stütze dich«, sagte sie.
»Vergiss es, Kleine!«, krächzte der Mann und deutete vor Schmerz stöhnend auf seinen Knöchel.
Der Fuß stand im rechten Winkel vom Bein ab. Greta wurde übel.
»Komm schon.«
»Verpiss dich. Mich kriegen die eh. Vielleicht kommst du noch raus.«
Sie zuckte mit den Schultern und lief. Draußen gelangte sie auf einen breiten Innenhof. Mehrere Wagen standen in der Einfahrt. Die Polizei war nicht so dumm gewesen, den Hintereingang unbewacht zu lassen. Vopos hieben willkürlich auf die Jugendlichen ein. Mehrere von ihnen lagen schreiend am Boden, einige sogar reglos. Andere wurden von den Polizisten auf zwei offene Lastwagen geworfen, als seien sie Mehlsäcke oder Strohballen. Greta schaute sich nach Laurenz um, als ein großer Mann sie packte, ihr eine Ohrfeige versetzte, die ihr kurz die Sinne raubte, sie mit seinen Pranken um die Taille fasste und zu einem LKW schleifte. Als wöge sie nichts, schleuderte er sie auf die Ladefläche, wo sie auf einem anderen Mädchen landete, das kurz aufschrie, um anschließend in ein monotones Wimmern zu verfallen.
Sie wurden in einen großen, grauen Gebäudekomplex gebracht, der architektonisch ausgezeichnet zu seiner Funktion passte. Die Gefangenen, gut ein Dutzend Jugendliche, wurden unsanft vom LKW gescheucht und voneinander getrennt. Greta fand sich kurz darauf in einem kleinen, kalten Raum ohne Fenster wieder, der von einem grellen Neonlicht beleuchtet wurde. Die Einrichtung bestand aus zwei Stühlen und einem Tisch mit einem Telefon darauf. Ihr Gesicht brannte von der Ohrfeige, sie hatte sich beim Sturz auf den Laster die Knie aufgeschürft und die Jacke zerrissen. Eine Frau in Uniform betrat den Raum und forderte sie mit einer Handbewegung auf, die Taschen zu entleeren. Greta hatte außer einer alten Fahrkarte, einem Taschentuch, ihrem Portemonnaie sowie einem Kondom, das sie in Laurenz’ Zimmer eingesteckt hatte, nichts dabei. Das Gefühl, es in der Tasche mit sich zu tragen und vielleicht in der Nacht irgendwo mit ihm zu benutzen, hatte sie aufgeregt. Die Polizistin untersuchte wortlos das Portemonnaie und nahm das Geld heraus. Das Kondom hielt sie einmal ins Licht, als wollte sie die Haltbarkeit überprüfen. Anschließend verließ sie den Raum. Greta setzte sich auf einen der Stühle. Die Frau erschien erneut und deutete ihr an, sich zu erheben. Obwohl sie nicht wusste, was geschehen würde, wenn sie sich weigerte, leistete Greta der Anweisung Folge. Sie lehnte sich an die kühle Wand. Die Frau schüttelte mit dem Kopf. Erneut gehorchte Greta. Sie spürte, wie Angst in ihr hochkam. Bisher hatte sie kaum Gelegenheit gehabt, sich über ihre Situation Gedanken zu machen. Allmählich wurde ihr bewusst, sich in den Händen Wahnsinniger zu befinden. Wer eine Mauer durch ganz Berlin baute, würde auch keine Hemmungen haben, renitenten Westbürgerinnen Schlimmes anzutun – erst recht nicht solange niemand von ihrer Verhaftung wusste.
Die Frau verließ den Raum. Greta stand auf beiden Füßen, ohne sich anzulehnen. Das Gewicht ihres Körpers manifestierte sich in ihren Fußsohlen und drückte sie fester und fester auf den Boden. Ihr Zeitgefühl hatte sie verlassen. Eine Armbanduhr trug sie nur in der Schule. Sie mochte es nicht, sich von der Zeit verfolgen zu lassen. Ihr Füße begannen zu schmerzen. Sie dachte an den Schlagzeuger mit dem gebrochenen Knöchel. Ob er auch irgendwo in diesem Gebäude in einem der Räume war, auf einem Bein stehend und vor Schmerz heulend? Und was war mit Laurenz? In dem Gewirr im Hinterhof hatte sie ihn nicht mehr gesehen, aber das bedeutete nichts. Sie war höchstens einige Sekunde draußen gewesen, als sie von dem Vopo aufgegriffen worden war. Nach einer endlosen Wartezeit hörte sie draußen vor der Tür Schritte. Inzwischen hatte sich ihr ganzer Oberkörper verkrampft. Sie wagte es kaum zu atmen und musste auf die Toilette. Das grelle Licht schmerzte ihr in den Augen und ihre Knie waren weich wie Pudding.
Die Tür öffnete sich und herein schob sich die breite, mächtige Gestalt von Josef. Greta benötigte einen Augenblick, um zu begreifen, wer da vor ihr stand. Sie spürte Erleichterung über das bekannte Gesicht, zugleich erschrak sie. Woher wusste er, dass sie hier war? Hatte man ihn verständigt? Oder gehörte er dazu?
Sie setzten sich an den Tisch. Das Gefühl, nicht mehr stehen zu müssen, war unbeschreiblich, obwohl Gretas ganzer Körper schmerzte.
»Wie lange habe ich gewartet?«, fragte sie.
Er musterte sie. »Zwei Stunden.«
»Ist mir doppelt so lang vorgekommen.«
»Weißt du, was du hier riskierst, Mädel?«
Sie schüttelte den Kopf und schaute zu Boden. Am rechten Knie entdeckte sie einen runden Blutfleck im Jeansstoff.
»Die Deutsche Demokratische Republik ist ein wehrhafter Staat, junge Dame. Auch wenn ihr im Westen das nicht versteht.« Er sprach ganz ruhig, als würde er ihr Matheaufgaben erklären. »Die Stärkung der DDR ist ein elementarer Beitrag zur nationalen Einheit. Der Triumph des Sozialismus ist keine Utopie, sondern eine historische Gesetzmäßigkeit. Erst wenn der Westen das akzeptiert, ist die Einheit unseres Landes möglich.«
»Hast du dir den Quatsch ausgedacht oder müsst ihr das auswendig lernen?«, murmelte Greta ohne aufzuschauen. Ihre dreiste Antwort erstaunte sie. Vor drei Jahren hatte sie Josef kennengelernt. Damals hatte ihre Mutter Maria sie zum ersten Mal mit nach Leipzig genommen. Greta hatte nie verstanden, was ihre Mutter an dem großen Mann aus der DDR mochte. Ihr war Josef von Anfang an unheimlich vorgekommen, so freundlich er auch stets getan hatte. Sogar als Laurenz und sie ihm gestanden hatten, miteinander zu gehen, war er ruhig und gelassen geblieben. Greta hatte damals instinktiv mit einer anderen Reaktion gerechnet, denn in Josef schien etwas Unberechenbares, vielleicht sogar Animalisches zu wohnen. Zumindest kam es ihr so vor, wenn sie ihn beobachtete, wie er sprach, sich bewegte. Da war etwas, was sie nicht beschreiben konnte und bisher noch bei keinem anderen Menschen gesehen hatte. Das machte ihr Angst.
»Nicht ganz. Aber so in etwa hat das der Ulbricht mal gesagt.«
»Wusste ich’s doch«, sagte sie.
»Tut es weh?« Er deutete auf ihr Gesicht.
»Nicht mehr«, log sie.
Er nickte. »Ich kann verstehen, was Laurenz an dir findet. Ein prima Mädel bist du.«
Es kostete sie Mühe, nicht aufzuspringen und ihn anzuschreien, er solle sie nicht immer Mädel nennen. »Was passiert jetzt mit Laurenz?«, fragte sie stattdessen.
Josef atmete laut aus. Er schien sich tatsächlich Sorgen zu machen. »Er ist schon mit den meisten anderen auf dem Weg in die Lausitz.«
Greta wusste mit der Antwort nichts anzufangen. Lausitz klang in ihren Ohren harmlos, beinahe idyllisch.
»Zwei Wochen Zwangsarbeit in einer Braunkohlegrube«, erklärte Josef, der Gretas Gedanken zu lesen schien. »Das wird dem Jungen guttun.«
»Du schickst deinen eigenen Sohn in ein KZ?«, entfuhr es ihr.
»Wir in der DDR errichten keine KZs. Wir erziehen unsere Kinder. Mein Sohn wird ein Mann werden. Jetzt gerade ist er das, was die Amerikaner Teenager nennen. Eine Marionette und kein Individuum.«
So ein Unsinn, dachte Greta, schwieg aber. Josef erhob sich.
»Du kannst gehen. Morgen wirst du mit deiner Mutter die DDR verlassen. Und du wirst vorerst nicht wiederkommen.«
Sie spürte das Stechen im Magen, ihre Augen füllten sich mit Tränen. Das sollte ihre Strafe sein, Josef wollte ihr Laurenz wegnehmen. Er trat an den Tisch und schaute von oben auf sie herab.
»Deine dekadente Lebensweise tut Laurenz nicht gut. Er hat genug von dem imperialistischen Gift getrunken, das du mit in den Osten bringst.«
»Ich habe …«
Sie konnte nicht weitersprechen, denn Josef schlug ihr mit Wucht seine flache Hand ins Gesicht. Sie wurde vom Stuhl geworfen und landete auf dem Boden. Heiße Tränen strömten ihr über das Gesicht. Schwindel erfasste sie. Nur mühsam rappelte sie sich auf. Josef war aus dem Raum verschwunden. Die Tür stand offen.