Читать книгу Tankred und die Bergsteiger - Ulf Kramer - Страница 9
ОглавлениеDieter
Seine Mutter verließ sie, als er sieben war. In diesem Alter versteht ein Kind schon viel, aber nicht genug, um sich erklären zu können, was der Vater meint, nennt er seine eigene Frau Hure des verdammten Staates und Spitzelsau. Dementsprechend verbrachte Dieter große Teile seines achten Lebensjahres heulend in seinem Zimmer – alles gut abgehört von der Stasi, aber davon wusste er nichts. Ob seine Mutter ebenfalls weinte, während sie über das winzige Mikrofon im Flur sein Schluchzen vernahm, ist zumindest nicht ausgeschlossen. Sie blieb seine Mutter, obwohl sie sich gegen die Familie und für ihr Vaterland entschieden hatte.
Zwei Jahre später brachte sein Vater ihn nach Berlin. Er parkte den Trabant in einem engen Innenhof irgendwo in der Stadt und führte ihn in eine feuchte Halle einer Autowerkstatt. Zwischen Ersatzteilen und alten Autos warteten drei Männer und Greta. Sie war vor einigen Monaten mit ihren blöden Westkindern Tankred, Linus und Anna bei ihnen in Eisenach zu Besuch gewesen. Verzogene Gören, die sich etwas auf ihre Klamotten von angesagten Marken und ihr tolles Westspielzeug eingebildet hatten. Greta lächelte ihn an. Er schaute demonstrativ an ihr vorbei. Dabei fiel sein Blick auf die drei Männer. Zwei von ihnen steckten in ölverschmierten Blaumänner, der dritte schien ebenfalls aus dem Westen zu stammen. Er trug einen weiten Anzug und eine Frisur, die Dieter aus amerikanischen Vorabendserien in der ARD kannte. Die anderen nannten ihn Gideon. Ein seltsamer Name, den Dieter noch nie gehört hatte. Vermutlich gehörte ihm der riesige, silberne BMW in der Mitte der Werkhalle.
Die Erwachsenen begannen aufgeregt miteinander zu reden. Er starrte betreten auf seine grauen Zeha-Sportschuhe, die ihm seine Mutter vor einigen Wochen gekauft hatte. Jedesmal wenn sie sich trafen, bekam er ein Geschenk von ihr. Meistens wusste er damit nichts anzufangen. Er wollte keine Dinge, er wollte eine Mama, die von seinem Papa nicht verachtet wurde. Aber das würde ein unerfüllter Traum bleiben.
Sein Vater trat zu ihm, nahm ihn in den Arm und begann, auf ihn einzureden. Dieter nahm kaum etwas von dem Wortschwall wahr. Tapferkeit, Mut, Disziplin. Das war es, was er aufschnappte. Er spürte, wie ihm die Tränen in die Augen schossen, bevor er von einem der Männer mit Blaumann unter das Auto geschoben und dort in einen schmalen Hohlraum zwischen Innen- und Motorraum des BMWs buxiert wurde. Es roch nach Benzin, war dunkel und eng. »Wenn sie dich finden, muss ich ins Gefängnis, mein Junge«, rief sein Vater, bevor von unten der Eingang in das Versteck durch die Blechplatte verschlossen wurde.
Dieter versuchte sich zu beruhigen. Sein Herz raste, er spürte seine volle Blase und dachte an die letzten Worte seines Vaters. Stumm ließ er alles über sich ergehen und wischte sich die Tränen aus den Augen. Der Motor brummte laut in seinem Rücken, als sie anfuhren und auf die Straße bogen. Er spürte die Vibration des groben Straßenpflasters und versuchte sich mit den Armen abzustützen, um die Schläge abzufedern. Dieter verstand mit seinen elf Jahren nicht viel von Politik. Er konnte nicht beurteilen, warum es diese Mauer gab, ob sie die Menschen in der DDR schützte oder einsperrte, man sie besser eingerissen oder doch vielleicht höher gebaut hätte. Die Erwachsenen sprachen nicht viel über solche Sachen, weil sie Angst zu haben schienen. Aber in Dieter wuchs mit jeder Minute, die er in dieser elenden Blechbüchse klemmte, die Überzeugung, dass hier etwas ganz gewaltig falsch lief, denn wenn man wirklich kleine Kinder wie ihn unter solchen Bedingungen von einem Teil Deutschlands in einen anderen transportierte, obwohl man eigentlich nur ein paar Meter über die Straße hätte laufen müssen, dann war die Welt aus den Fugen geraten. Von Normalität konnte da keine Rede mehr sein. Und einen Sinn vermutete Dieter hinter dem Zirkus, den die Erwachsenen hier veranstalteten, erst recht nicht.
Nach einer halben Ewigkeit hielt der Wagen an. Dieter hörte Stimmen und zweimal ein Klopfen, bevor sie weiterrollten. Bei der nächsten Bodenwelle entleerte sich seine Blase. Er spürte die warme Flüssigkeit zwischen seinen Beinen und die kalten Tränen auf den Wangen. Der BMW stoppte ein weiteres Mal. Draußen unterhielten sich Männer, Türen wurden geöffnet und wieder zugeschlagen.
»Sie verlieren Flüssigkeit«, sagte ein Mann.
»Wahrscheinlich Kühlwasser«, hörte Dieter jemand anderes rufen. »Danke für den Hinweis.«
»Keine Ursache«, antwortete der erste und lachte. »Nicht, dass ihr toller Westwagen ausgerechnet bei uns an der Grenze seinen Geist aufgibt.«
Erneut schlug eine Tür. Sie fuhren nun schneller und es ruckelte weniger. In seinem Versteck wurde es wärmer und er spürte einen Schweißfilm auf seiner Stirn. Das Atmen bereitete ihm Mühe. Um ein Haar wäre er eingeschlafen, als der Wagen scharf bremste. Jemand machte sich an der Klappe zu seinem Versteck zu schaffen. Die Worte seines Vaters kamen ihm in den Sinn. Dieter spürte, wie sich seine Augen zum dritten Mal mit Tränen füllten. Nach seiner Einschätzung konnten sie unmöglich schon im Westen sein, denn den Weg dorthin stellte er sich weiter vor. Sollten sie ihn jetzt finden, blühte ihm das Heim und seinem Vater das Gefängnis, alles weil er sein Pipi nicht hatte halten können. Ein schmaler Lichtstrahl fiel durch einen Spalt unter ihm, dann schepperte die Blechplatte zu Boden.
»Komm raus, Kleiner«, hörte er eine Männerstimme.
»Nein«, rief er.
»Mach du mal«, sagte der Mann. »Der Rotzlöffel nervt. Kinder liegen mir nicht so, weißt du doch.«
»Du bist manchmal echt ein Idiot«, sagte eine Frau und Dieter erkannte die Stimme von Greta. Er konnte sich nicht erinnern, jemals so erleichtert gewesen zu sein. Er wollte nicht in den Westen und niemand hatte ihn gefragt, bevor man ihn in dieses Auto gesteckt hatte, aber alles war besser, als den Vopos in die Hände zu fallen. Ohne zu zögern, kletterte er aus seinem Versteck und krabbelte unter dem Auto hervor. Vom Licht geblendet kniff er die Augen zusammen. Um ihn herum standen außer Greta der Mann, der Gideon hieß, ein kleiner Fettsack in einem Rollstuhl und ein großer hagerer Typ mit einer Zigarette in der Hand.
»Scheiße. Der hat sich in die Hose gepinkelt«, sagte Gideon.
»So können wir den nicht mitnehmen. Der stinkt ja Meilen gegen den Wind«, murrte der Rollstuhlfahrer.
»Halt den Mund, Jochen«, sagte Greta, kam auf ihn zu und nahm ihn in den Arm. »Hör nicht auf die. Du bleibst bei mir, bis Laurenz kommt.«
Sie hielt Wort und brachte Dieter in eine Stadt in Westdeutschland. Eine Woche später kam sein Vater nach. Er war auch in dem BMW gereist, aber ohne sich in die Hose zu machen. Sie zogen in eine kleine Wohnung und wurden zu Bürgern der Bundesrepublik. Er ging in die Schule, lernte andere Kinder kennen, die ganz anders waren als er, obwohl sie dieselbe Sprache sprachen und in seinem Alter waren. Sie dachten genauso wie Gretas Kinder vor allem an ihre Klamotten, an ihre neuen Turnschuhe, an neue Spielsachen und Fernsehsendungen. Die Menschen im Westen waren genauso, wie sie sein Großvater Josef beschrieben hatte. Marionetten eines unmenschlichen Systems, mehr Konsument als Mensch, der Fähigkeit beraubt, eigene Entscheidungen zu treffen. Doch was sein Opa unterschätzt hatte, war die Kraft, die dieses System in sich trug. Natürlich wusste Dieter, derselbe kleine Junge zu sein wie vorher, als er eines morgens zum ersten Mal mit neuen Schuhen der Marke Puma zur Schule ging, während die alten Zeha-Treter unter der Treppe standen, um die Rolle der Staubfänger zu übernehmen, aber trotzdem fühlte er sich anders, etwas mehr angekommen, ein bisschen mehr west, einen Hauch mehr Kapitalismus in sich tragend – und viel mehr korrumpiert. Nicht, dass er ein solches Wort gekannt hätte. Aber ohne es korrumpiert zu nennen, fühlte er Stolz und Scham zugleich, Stolz auf die Pumas, und Scham wegen der ausgemusterten Zehas, die ihm seine Mutter geschenkt hatte.