Читать книгу Tankred und die Bergsteiger - Ulf Kramer - Страница 20

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1992

In den Wochen nach unserer Versöhnung dank KIT und Dillinger tauchte Lejla immer öfter ungefragt in meinem Zimmer auf, um sich mit einem Buch in meinem Bett einzunisten, während ich Musik hörte oder dilettantisch auf der alten Gitarre meiner Mutter herumhackte. Manchmal saßen wir mehrere Stunden nebeneinander, ohne uns zu unterhalten oder weiter zu beachten. Schnell wurden diese Nachmittage zu den schönsten der Woche. Sie verschlang die Bücher aus unserer Familiensammlung, als seien sie lebensnotwendige Nahrung für sie, und manchmal, glaube ich, waren sie es wirklich. Ab und zu erzählte sie von Kroatien, von der Farbe des Meeres und dem Duft, der im Frühling überall in der Luft lag. Sie sprach dann ganz leise, als könnte jemand lauschen, für den ihre Worte nicht bestimmt waren. Ich hörte stumm zu und betrachtete sie dabei, ihr zierliches, aber markantes Gesicht, die langen schwarzen Haare, die runden Augen und den sich sanft bewegenden Mund. Manchmal trafen wir uns abends im Kreis der Familie, schauten Filme zusammen, erzählten uns Geschichten, die wir alle ohnehin kannten, oder spielten Risiko, um uns gegenseitig als Kriegstreiber, Imperialisten oder Hitler zu beschimpfen. Ich genoss Lejlas Nähe, egal was wir machten, zugleich konnte ich die Vertrautheit zwischen uns kaum ertragen, weil ich unbedingt mehr wollte, aber nicht wusste, wie ich ihr das zeigen konnte. Sagen durfte ich ihr das selbstverständlich nicht, denn unsere Zweisamkeit war ein brüchiges Konstrukt, das ich nicht gefährden wollte. Also bevorzugte ich die Dinge unausgesprochen zu lassen und akzeptierte, ein grobschlächtiger Teenager zu sein, der bei einer sublimen Lebensform wie Lejla aus Dubrovnik kein Glück haben konnte. Das war so etwas wie Physik. Mädchen wie sie und Jungs wie ich konnten zusammen im Bett kuscheln, aber sie konnten kein Paar werden. Gegen Naturgesetze ließ sich nicht ankommen. Der Mensch konnte nicht schneller reisen als das Licht. Die Sonne würde erlöschen. Alles folgte den Gesetzen der Gravitation. Manchmal sah ich meine Mutter, wie sie uns beobachtete. Geduld, mein Sohn, stand dann in ihren Augen geschrieben, du brauchst Geduld. Sie verstand nichts von Physik.

Eine erstaunliche Wendung nahm Lejlas und meine fragile Beziehung als mein sonst so spießiger Bruder Linus eines abends in meinem Zimmer auftauchte und mit einem Schlüssel herumfuchtelte. »Den hat der Volltrottel von Andi heute Nachmittag in der Küche vergessen«, rief er fröhlich und zog eine Flasche Wodka hinter dem Rücken hervor. »Und die hat der gute große Bruder eben im Coop gekauft.«

Linus war nicht unser Freund, aber die Flasche Wodka sehr verlockend. Wir luden Dillinger ein, uns Gesellschaft zu leisten und machten uns auf, um in Andis Plattenladen einzubrechen – beziehungsweise betraten wir ihn ungebeten mithilfe des Schlüssels durch den Hintereingang, der sich gegenüber des Künstlerateliers im Innenhof der Bonner Straße 42 befand. Wir hätten prinzipiell auch zuhause bleiben und dort Musik hören und Wodka trinken können, aber heimlich in Andis Laden einzudringen, brachte den Nervenkitzel des Verbotenen mit sich. Unsere nahezu subversive Aktion blieb allerdings recht risikoarm, denn meine Mutter war mit Andi zu einem Konzert nach Essen gefahren und würde nicht vor Mitternacht zurück sein. Dillinger gesellte sich zu uns und brachte ein Mädchen namens Nina mit, das er aus dem Selbstverteidigungskurs kannte. Lejla legte die nagelneue Platte von Iron Maiden auf, wir hockten uns im Kreis auf den Boden und tranken zuerst ein paar Bier. Die Gespräche dümpelten im Seriösen. Nina fragte Lejla, woher sie käme, dann ging es um den Krieg. Ich hielt mich weitestgehend aus allem heraus. Das Durcheinander zwischen Volksgruppen, Religionen, Ideologien und historischen Fehden im alten Jugoslawien überforderte mich. Die Kroaten kämpften inzwischen nicht mehr gegen die jugoslawische Armee, sondern gegen die serbische Minderheit auf kroatischem Territorium, die dort ihren eigenen Staat ausgerufen hatte, die Republik Serbisch Krajina. An diesem Punkt bekam ich erste Verständnisprobleme. Ein anständiger symmetrischer Krieg zwischen zwei Staaten bewegte sich innerhalb meines intellektuellen Horizonts. So ein Ding wie der Irak gegen den Iran in den Achtzigern. Zwei Staaten mit einer gemeinsamen Grenze, an der sich das Fußvolk traf, um sich über Jahre gegenseitig abzuschlachten, während die Anführer in ihren Palästen hockten und große Reden schwangen. Ein bisschen Asymmetrie vertrug ich auch noch. Die deutsche Wehrmacht gegen die jugoslawischen Partisanen während des Zweiten Weltkriegs war okay. So etwas war auch für Laien wie mich verständlich. Aber die aktuelle Situation auf dem Balkan war eindeutig zu viel des Guten. Ich hielt Konflikte um schwachsinnige Ideen wie Land und Volk und so einen Kram sowieso für absolut hirnrissig.

Nachdem Dillinger Fear of the Dark durch Angel Dust von Faith no more ausgetauscht hatte und wir von Bier auf Wodka umgestiegen waren, kam Nina auf die bescheuerte Idee, Strip-Poker zu spielen. Ohne Lejla wäre es vielleicht etwas anderes gewesen, aber ich wollte nicht, dass sie sich ausziehen und womöglich schlecht fühlen musste – vor allem nicht vor Linus. Da die anderen aber Feuer und Flamme waren, behielt ich meine Bedenken für mich und trank stattdessen schneller, um Mut zu schöpfen. Zu Beginn schlug sich Lejla zu meiner Erleichterung ganz gut, aber je mehr Schnaps sie in sich füllte, desto häufiger verlor sie. Es dauert nicht lange und alle saßen nur noch rudimentär bekleidet inmitten von Andis Schallplattenauslage, krampfhaft bemüht, die richtigen Kartenkombinationen zusammenzubasteln, um nicht weitere Hüllen fallen lassen zu müssen. Lejla trug nur noch Schlüpfer und BH, was mich peinlich berührte, weil ich aus Anstand nicht hinschauen wollte, andererseits alleine die Andeutung ihrer kleinen Brüste und ihres schmalen, nackten Bauchs meinen Atem schneller gehen ließ. Ich war sechzehn und litt unter meinem jugendlichen Alter mehr als jemals zuvor. Ich hatte erst einmal ein fremdes Mädchen nackt gesehen, letzten Sommer am Kanal, als eine Bekannte meines Bruders sich schamlos die Klamotten vom Leib gerissen, in die Sonne gelegt und mich damit vollständig überfordert hatte. Aber jetzt ging es um Lejla und meine Hormone frohlockten, während meine Vernunft von Alkohol gelähmt wurde. Seltsamerweise schien es ihr ganz anders zu gehen. Sie lachte mit den anderen und schaute immer wieder vergnügt zu mir herüber. Dann verlor sie das nächste Mal und zog mit einem Ruck ihren BH aus. Ich wurde beinahe ohnmächtig, sah verschwommen, schwankte wie ein Grashalm im Wind und versuchte mich auf das Plattencover von Countdown to Extinction von Megadeath zu konzentrieren. Zum Glück griff in diesem Moment Nina in das Geschehen ein und meinte, es wäre wohl genug, die Show sei gut gewesen, aber wenn es am besten sei, solle man nach Hause gehen und alle zogen sich brav wieder an, auch Lejla. Da wir zusätzlichen sämtlichen Alkohol getrunken hatten, löste sich unsere konspirative Zusammenkunft in Andis Laden komplett auf. Linus begleitete Nina nach Hause, Dillinger verließ torkelnd den Innenhof und sang dabei Easy von Lionel Richie – wie auch immer er ausgerechnet darauf kam.

Lejla und ich setzen uns auf einen Stapel Holzpaletten, die vor dem Künstleratelier lagen, um uns eine Zigarette zu teilen.

»Kann ich dir was sagen?«, fragte sie und fuhr fort, ohne eine Antwort abzuwarten. »Ich habe schrecklich Angst, wieder nach Hause zu müssen.«

»Mama ist noch nicht wieder da. Die geht sicher mit Andi noch was trinken nach dem Konzert.«

»Nein«, rief Lejla und schubste mich sanft. »Nach Hause. Nach Jugoslawien. Oder Kroatien wie das jetzt heißt. Ich kenne da ja keinen mehr, da ist jetzt alles anders.«

»Vermisst du deine Eltern denn gar nicht?«

»Doch. Sehr. Aber die kommen vielleicht auch nach Deutschland. Das wünsche ich mir.«

»Dann wünsche ich mir das auch«, sagte ich.

»Du bist lieb.«

Darauf wusste ich keine Antwort.

»Weißt du, was ich dem Axtbrecher gesagt habe, was der albern fand?«

Natürlich wusste ich es nicht. »Ich mag den nicht, diesen Lackaffen.«

»Der ist ja nicht mehr wichtig. Dir sage ich es auch, wenn du willst. Du musst aber versprechen, nicht zu lachen.«

»Aber ich weiß ja nicht, was du mir sagst.«

Sie stieß ihren Ellenbogen in meine Rippen. »Jetzt sag schon versprochen, du doofer Deutscher.«

»Versprochen.«

»Eigentlich ist es gar nicht so besonders«, sagte sie. »Ich habe nur manchmal Albträume, und in denen bin ich ganz allein, weil ich alle anderen Menschen vergrault habe, weil mich niemand mehr erträgt. Und am Ende bin ich in Dubrovnik und alle Häuser sind kaputt und ich bin der letzte Mensch auf der Welt.«

»Das ist traurig«, sagte ich. »Aber es ist ja nur ein Albtraum. Und aus denen wacht man immer wieder auf.«

»Immer?«

»Klar.«

Wir rauchten schweigend die Zigarette, bevor wir nach oben in die Wohnung gingen.

»Das war mir eben ganz schön peinlich«, sagte Lejla, als wir uns vor unseren Zimmern voneinander verabschiedeten.

»War doch nur ein blödes Spiel. Und ich hab auch gar nicht hingeguckt.«

Sie lachte. »Hast du wohl. Hab ich gesehen. Ist aber nicht schlimm. Du darfst das. Die anderen, die sollten das nicht sehen. Bei dir ist mir das egal.«

Ich wusste nicht, wie ich mit dieser Aussage umgehen sollte. Auf meinem Zimmer zog ich meine Hose aus und ließ mich auf die Matratze fallen. Um mich herum drehte sich alles, vielleicht weil ich betrunken war, vielleicht auch aus einem anderen Grund. Ich überlegte, wie ich morgen damit umgehen sollte, Lejla halb nackt gesehen zu haben, als ich hörte, wie sich die Tür öffnete.

»Kann ich zu dir?«, flüsterte Lejla.

Mein Mund war staubtrocken und ich bekam keine Antwort heraus.

»Bitte. Ich will nicht alleine sein heute.«

»Ich bin nicht so gut in so was«, sagte ich wahrheitsgetreu.

»Musst du nicht.«

Sie schloss die Tür hinter sich und ich spürte, wie sie sich neben mich legte, ihren Arm um mich schlang und sich an mich presste. Ich vergaß meine Zurückhaltung und drückte meine Lippen auf die ihren. Meine Hände fuhren über ihren Rücken. Erst jetzt bemerkte ich, dass sie nur noch ihren Schlüpfer trug. Sie erwiderte meinen Kuss und lachte.

»Was machst du da?«, flüsterte sie.

»Ich streichele dich«, sagte ich und mein Herz begann so stark zu pochen, dass ich kaum noch Luft bekam.

»Nein. Das mit deinen Lippen.«

»Äh? Küssen?«

Ich hatte noch nie richtig geküsst, aber das konnte ich ihr gegenüber unmöglich zugeben. Immerhin war ich sechzehn, wurde dieses Jahr sogar noch siebzehn. Einige meiner Klassenkameraden brüsteten sich damit, bereits mit einem Mädchen geschlafen zu haben, ich konnte noch nicht einmal einen Zungenkuss aufweisen. Einen wie mich nannte man Spätstarter oder Volltrottel.

»Ich hoffe nicht, dass es das ist«, kicherte sie. Dann half sie mir. Ich spürte ihre Zunge, die sich zwischen meine Lippen schob, ganz zart und ich bekam eine Erektion, die mir sofort unendlich peinlich war. Ich drehte mich so, dass sie es nicht direkt bemerkte. Meine Hände glitten weiter an ihrem Rücken entlang, umrundeten ihren Brustkorb und erreichten die Brustwarzen, die klein und warm waren und sich ganz eigenartig anfühlten. Sie stöhnte leise. Dann kam ich. Sie lachte und ließ mich los.

»Ist nicht schlimm«, sagte sie.

Ich fragte mich, wie sie es hinbekam, so entspannt zu sein. Sie legte den Arm um mich und kuschelte sich zu mir. Kurz darauf war sie eingeschlafen. Morgens weckte uns meine Mutter. Sie stand im Zimmer, machte das Licht an, sah uns gemeinsam in meinem Bett, schaute mir in die Augen und seufzte leise. »Das habe ich mir anders vorgestellt«, hörte ich sie zu sich selbst sagen, bevor sie uns alleine ließ.

Lejla räkelte sich und grinste. Sie konnte sich das erlauben, ihre Mutter war 1.300 Kilometer entfernt und saß nicht wütend nebenan. Mir war das alles ungeheuer peinlich. Ich hüpfte aus dem Bett, schnappte mir eine neue Hose, zog mich im Bad um, bevor ich mich in die Küche wagte. Meine Mutter hockte am Tisch und sortierte Socken. Auf der Anrichte neben dem Kühlschrank saß ein Mädchen mit einem Marmeladenbrot in der Hand. Es hatte ungefähr mein Alter, war braun gebrannt, trug die Haare schwarz gefärbt und dazu dunkle Skaterklamotten. Schockiert erkannte ich meine Schwester. Letztes Jahr war sie noch ein dümmliches, kleines Ding gewesen. Jetzt wirkte sie fast wie eine junge Frau. Dass ihre Zeit in Louisiana in diesem Monat endete, wusste ich zwar, aber ich hatte mich nie gefragt, wann sie wiederkommen würde.

»Hallo«, sagte ich stupide.

»Ich dachte immer, du wärst viel zu brav, um Schule zu schwänzen«, entgegnete sie grinsend und stopfte sich das letzte Stück Brot in den Mund.

»Ich …« Mein Blick fiel auf meine Mutter, die mich mit undurchdringlicher Miene beobachtete.

Anna griff nach der Milchtüte neben ihr und trank lautstark. Ein schmales Rinnsal rann ihr am Kinn hinab.

»Habt ihr ein Kondom benutzt?«, fragte meine Mutter in die Stille hinein.

Anna begann prustend zu lachen. Milch spritzte auf den Boden. Meine Mutter amüsierte sich allerdings nicht besonders. In ihrem Gesicht stand ein Ausdruck, den ich noch nie bei ihr gesehen hatte, als ginge es nicht um mich, nicht um Lejla oder um mein Sperma, das ich harmlos in meine Unterhose vergossen hatte, sondern um etwas Wirkliches und Echtes, das weit über Teenagerprobleme hinausging.

»Mama«, sagte ich hilflos.

»Sohn?«

»Ich will nicht mit dir über solche Sachen sprechen. Also nicht jetzt, ich muss ja in die Schule und so.«

»Ist das nicht sogar strafbar, sich an hilflosen Kriegsflüchtlingen zu vergehen?«, fragte Anna.

»Halt die …«

Ich hielt inne, denn meine Mutter schüttelte mit dem Kopf. »Du hast meine Frage nicht beantwortet«, sagte sie streng.

Ich blickte zu Anna, die mich angrinste. Ich kam mir doof vor, weil ich vor ihr nicht zugeben wollte, kein Kondom benutzt zu haben, weil ich es gar nicht benötigt hatte.

»Wir haben ja gar nicht …«, stammelte ich.

Meine Schwester lachte mich erneut aus und selbst meine Mutter konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen, was ich ihr wirklich übel nahm. Immerhin war das Thema damit vorerst erledigt. Lejla und ich taten in den Tagen danach so, als sei zwischen uns nichts Außergewöhnliches geschehen, unterhielten uns über Nebensächlichkeiten, schauten zusammen Fernsehen und schliefen in den für uns vorgesehenen Betten. Vielleicht waren wir an einem Punkt angelangt, der uns beide überforderte. Dann kam der Brief von Lejlas Eltern. Sie sollte zurück nach Dubrovnik, denn als Ausländer in Deutschland war man inzwischen auch nicht mehr sicher. Die feinen, deutschen Wohlstandskinder gingen auf hilflose Schutzsuchende los. Die BILD-Zeitung schrieb dummes Zeug wie Das Boot ist voll oder Fast jede Minute ein neuer Flüchtling, Die Flut steigt. Lejla war ein Teil dieser Flut. Sie war schuld, dass wir Deutschen absoffen. Zumindest schenkte man den Idioten von der BILD und den Arschgeigen am rechten Rand glauben. Mich hatte die Flut ohnehin längst weggespült. Egal, was geschehen würde, sie hatte mein Leben verändert.

Tankred und die Bergsteiger

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