Читать книгу Tankred und die Bergsteiger - Ulf Kramer - Страница 14

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Lejla

Niemand, der das Heulen der Sirenen und das dumpfe Grollen der einschlagenden Granaten gehört hat, wird diese Kulisse, den beißenden Geruch der brennenden Häuser, das Knirschen der einstürzenden Dächer oder die plötzliche Stille nach dem Angriff jemals vergessen. Sie hockte neben ihrer Mutter in dem feuchten, von einigen Kerzen spärlich beleuchteten Kellergewölbe ihres Nachbarn, des freundlichen Bäckers. Der enge Raum war mit drei alten Bänken und einem Regal mit Wasserflaschen und einigen Konserven ausgestattet. Eine schwere Metalltür versperrte den Weg ins Treppenhaus. An der Decke hing eine Glühbirne in einer Fassung, Strom gab es schon seit einigen Tagen nicht mehr. Die Serben hatten Dubrovnik vom Rest Kroatiens abgeschnitten. Dafür beschossen sie seit einer Woche die Stadt mit Granaten. Sie hockten mit ihren Kanonen oberhalb von Dubrovnik auf dem Berg Srđ und machten sich einen Spaß daraus, die Menschen zu ihren Füßen zu töten. Lejla vermutete, sie würden sich erst zufrieden geben, sollten sie jeden einzelnen Bewohner der Stadt ermordet haben.

Sie saß zwischen ihrer Mutter und einer ihrer Lehrerinnen aus dem Gymnasium, einer jungen Frau, die alle gern mochten. Auf den anderen Bänken hatten sich der Bäcker mit Frau und Tochter, das Buchhändler-Ehepaar, der alte Metzger sowie der Fischer von der Klippe niedergelassen. Alle hier kannten sich seit Jahren.

»Heute wird es nicht so schlimm«, sagte der Metzger. »Die haben in den letzten Tagen ihr Pulver verschossen.«

»Die akzeptieren allmählich, dass wir nicht klein beigeben«, stimmte die Frau des Buchhändlers zu.

Lejla erinnerte sich an ihren Onkel. Vor einigen Wochen, als noch niemand auf ihre Stadt geschossen hatte, war er mit durchgedrückten Schultern in ihre Küche getreten und hatte große Reden geschwungen. Dabei hatte er die Uniform der neu gegründeten kroatischen Nationalgarde getragen. In diesem Augenblick hatte Lejla zum ersten Mal Furcht verspürt. Wurde ihr Onkel plötzlich Soldat, dann war es nicht nur Gerede, was in ihrem Land vor sich ging, sondern der Anfang von etwas Furchtbarem.

»Wir werden schon bald ein eigenes Kroatien haben!«, hatte ihr Onkel gerufen. »Stolz, unabhängig und ohne Serben auf unserem Territorium. Wir werden unserem Volk ein Land schenken und wir werden jeden Fußbreit unserer Erde mit Tapferkeit verteidigen.«

»Ich mag es nicht, wenn du dich so verkleidest«, hatte Lejlas Vater zu seinem Bruder gesagt. »Du siehst aus wie unser Vater.«

Lejla wusste, dass ihr Großvater mit den Deutschen gegen die Partisanen gekämpft hatte. Das war eine Geschichte, die in der Familie oft für Streit sorgte, denn ihr Vater hasste die Nazis und die Ustaša, ihr Onkel jedoch verachtete vor allem die Serben. Deshalb war er mit Begeisterung in den Krieg gezogen, um kurz darauf in Vukovar von einem serbischen Panzer überrollt zu werden. Seitdem galt er in der Familie als Held. Lejla hegte allerdings Zweifel daran, ob sein Tod den Krieg wesentlich beeinflusste. Sein Handeln kam ihr vorrangig sinnlos vor, aber sie war ein vierzehnjähriges Mädchen und verstand nicht viel vom Krieg.

Über ihnen knallte es. Putz rieselte von der Decke. Die Lehrerin klammerte sich an Lejlas Arm. Jemand anderes schrie entsetzt auf. Lejla konnte die Hände ihrer Mutter zittern sehen. Etwas weiter entfernt detonierten weitere Geschosse. Die Mauern schienen zu vibrieren. Konnten die Serben in wenigen Tagen kaputt machen, was seit Jahrhunderten jeden Angriff überstanden hatte? Der Keller war im Mittelalter in den harten Stein geschlagen worden. Das hatte der Bäcker Mantra ähnlich wiederholt, als sie vor einigen Tagen zum ersten Mal hier unten gesessen hatten, um sich vor den Bomben und Granaten in Sicherheit zu bringen.

Erneut erschütterte eine Detonation den Keller. Lejla bildete sich ein, etwas Metallisches zu riechen. Ihr wurde schlecht und sie ballte die Hände zu Fäusten. Das machte sie immer, wenn sie sich fürchtete. Als sie kleiner gewesen war, hatte sie sich bei einem Gewitter manchmal in die Hose gemacht. Aber das war lange her.

»Jesus, Maria und Josef«, murmelte die Frau des Bäckers. »Gott möge uns schützen.«

»Du bist gebenedeit unter den Frauen und gebenedeit ist die Frucht deines Leibes, Jesus«, murmelte Lejlas Lehrerin leise.

Alle lauschten den Einschlägen, die unrhythmisch um sie herum niedergingen. Nur das Gemurmel der Lehrerin erfüllte den Raum. Die Tochter des Bäckers knetete ihre Hände, der alte Fischer zupfte an seinem grauen Bart herum. Der Buchhändler zählte immer und immer wieder seine Finger, als könnte er einen verloren haben.

»Was ist mit dir, Milos?«, fragte der Metzger in einem Moment der Stille und zeigte auf den Buchhändler. »Du bist doch Serbe. Wenn deine Landsleute alles niedergebrannt haben, stehst du dann bereit, um dir das dickste Stück des Kuchens zu sichern?«

»Von Kuchen verstehe ich nichts«, sagte der Buchhändler und nickte in Richtung des Bäckers. »Da musst du Josip fragen. Das ist sein Metier.«

»Jetzt ist es genug mit dem dummen Geschwätz«, flüsterte Lejlas Mutter. »Milos lebt genauso lange in Dubrovnik wie wir alle.«

»Der für uns Blut geschwitzt hat. Der für uns gegeißelt worden ist«, betete die Lehrerin.

»Im Süden haben sie schrecklich gewütet«, sagte der Metzger. »Meine Tante ist in ihrem Haus abgeschlachtet worden.«

»Meine Tennislehrerin wohnt auch im Süden«, sagte die Tochter des Bäckers, die zwei oder drei Jahre älter war als Lejla.

»Die kleine Blonde aus Zagreb?«, fragte der Metzger.

Eine weitere Granate ließ den Keller erschüttern. Die Tochter des Bäckers verfiel in ein langgezogenes Schluchzen, das Lejla an das ferne Heulen eines Wolfs erinnerte.

»Der erste, den sie getötet haben, war Zoran«, sagte ihre Mutter zu den anderen. »Den kennt ihr doch. Der aus der Dura Pulića.«

»Der für uns mit Dornen gekrönt worden ist. Der für uns das schwere Kreuz getragen hat. Der für uns gekreuzigt worden ist«, flüsterte die Lehrerin eindringlich.

Lejla hatte sie nicht für besonders religiös gehalten, aber vielleicht kam das mit der Verzweiflung. Flogen die Bomben, erinnerte man sich plötzlich an den einen, der helfen konnte. Wahrscheinlich beteten die Serben da oben auf ihrem Berg auch, damit Gott ihre Granaten am richtigen Ort detonieren ließ. Leider hielt Gott bisher zu ihnen.

»Zoran? Der Zoran mit den Spanferkeln?«, fragte der Buchhändler.

Lejlas Mutter nickte. »Er starb, als die Armee mit einer Granate sein Boot vor dem Hafen versenkte.«

»Die Tschetniks machen sich einen Spaß daraus, vom Berg auf die Schiffe zu schießen«, behauptete die Frau des Bäckers. »Ich stelle mir immer vor, dass sie Wetten abschließen, wer die meisten Treffer landet. Immer wenn ein Boot in Flammen aufgeht, steht dort oben auf dem Srđ ein jubelnder und ein fluchender Serbe. Und bei uns stirbt einer aus unseren Reihen.«

Wieder detonierten Sprengsätze so nah, dass Lejlas Körper erzitterte. Erst jetzt bemerkte sie, dass ihr Tränen über die Wangen in den Mund liefen. Sie schmeckten salzig. Auch die Frau des Buchhändlers begann zu weinen.

»Warum heult die jetzt?«, fragte der Metzger in Richtung der anderen. »Die ist doch eine von denen, die uns beschießen.«

»Sie hat Angst«, sagte Lejlas Mutter zum Metzger. »Hast du etwa keine?«

Lejla bewunderte sie für ihren Mut. In letzter Zeit hatten sie sich oft gestritten. Lejla hatte sich nicht mehr wie ein Kind behandeln lassen wollen. Aber mit dem Krieg war alles anders geworden. Jetzt ging es nicht mehr um sie.

»Ich habe jetzt genug«, schrie der Bäcker aufgebracht. »Das ist mein Keller!«

»Und das bedeutet?«, fragte der Fischer. »Willst du zu den Serben auf den Berg stapfen und sie bitten, mit dem Schießen aufzuhören, weil sie deinen Keller treffen könnten?«

Der Bäcker schnaufte wütend. »Quatsch! Mir genügt es, den Feind in unseren Reihen zu wissen. Ich habe euch hier aufgenommen, weil ihr meine Freunde und Nachbarn seid. Aber ein Serbe ist heutzutage keiner mehr von uns!«

Alle schauten den Buchhändler an, der unruhig auf der Bank hin und her rutschte.

»So weit ist es gekommen«, sagte der Metzger. »Dem eigenen Nachbarn kann man nicht mehr trauen.«

»Das ist doch Unsinn!«, entgegnete der Fischer. »Milos und seine Frau können doch nichts für den Krieg.«

»Der Buchhändler und seine Frau müssen raus. Ende der Diskussion!«, rief der Bäcker.

»Das ist vielleicht dein Keller, aber wir alle sind dran, wenn uns eine Granate erwischt«, widersprach Lejlas Mutter. »Deshalb kannst du nicht allein entscheiden, was geschieht.«

Die Lehrerin murmelte fromme Verse. Der Metzger fluchte unanständig. Der Fischer nickte, als wolle er Lejlas Mutter zustimmen.

»In Ordnung. Wir machen es anständig«, lenkte der Bäcker ein. »Wir stimmen ab. Alle über achtzehn sind stimmberechtigt.«

»Das klingt gerecht«, sagte der Metzger.

»Gerecht?«, krächzte der Buchhändler, dem der Schreck sämtliche Farbe aus dem Gesicht getrieben hatte. »Ihr überlegt, wie ihr meine Frau und mich in den Tod schicken könnt und sprecht davon, es sei gerecht?«

»So ist das im Krieg«, erklärte der Metzger.

»Dann ist es beschlossen«, sagte der Bäcker. »Milos und seine Frau haben natürlich keine Stimme.«

»Wir machen einfach reihum«, flüsterte die Lehrerin mit finsterer Miene. »Ich beginne und stimme dafür, Serben aus dem Keller zu verweisen.«

»Du hast als junges Mädchen schon auf unsere Tochter aufgepasst«, sagte die Frau des Buchhändlers verzweifelt. »Und jetzt willst du uns aus dem Keller werfen?«

Lejla erinnerte sich an das Kind der Buchhändlerfamilie. Es war vor einigen Jahren bei einem Autounfall gestorben.

»Wir wollen abstimmen, nicht diskutieren!«, bestimmte der Bäcker schroff.

Lejlas Mutter seufzte. »Dagegen.«

Der Fischer: »Dagegen.«

Die Bäckerin: »Dafür.«

Der Metzger: »Dafür«

Der Bäcker: »Dafür.«

Die Frau des Buchhändlers schrie verzweifelt auf, er brach in Tränen aus.

»Tut uns leid, Milos«, erklärte der Bäcker in einem selbstgefälligen Tonfall. »Aber du musst das akzeptieren. Die Mehrheit hat entschieden.«

Zu Lejlas Überraschung rappelten sich die beiden Ausgeschlossenen widerstandslos auf. Der Bäcker öffnete die Metalltür und der Buchhändler trotteten gefolgt von seiner zitternden Frau aus dem Keller die Treppe aufwärts. Lejla schaute ihnen erstaunt nach. Sie spürte Schuld, die sich auf alle legte, die zurückblieben. Sie waren nicht länger nur die Opfer des Krieges. Wieder krachten Geschosse in die Häuser. Die Bäckerin und ihre Tochter schrien parallel auf und umklammerten sich. Lejla fühlte warme Feuchtigkeit in ihrer Hose. Aber sie schämte sich nicht. Das alles spielte keine Rolle mehr. Wer fragte schon nach einem sauberen Höschen, wenn um einen herum alles explodierte?

»Der in uns den Glauben vermehre«, murmelte Lejlas Lehrerin. »Der in uns die Hoffnung stärke. Der in uns die Liebe entzünde.«

Lejla erfuhr nie, ob der Buchhändler und seine Frau den Angriff auf Dubrovnik überlebten. Niemand sah sie wieder, niemand fand ihre Leichen, niemand hörte etwas von ihnen und keiner fragte nach. Sie verschwanden einfach, als wäre all das im Keller des Bäckers nie geschehen, als wären sie niemals Bürger Dubrovniks gewesen. Und auch Lejla sollte gehen, denn die Serben wurden nicht müde, Granaten auf die Stadt zu schießen.

Tankred und die Bergsteiger

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