Читать книгу Tankred und die Bergsteiger - Ulf Kramer - Страница 16
ОглавлениеCanossa
Im Keller finde ich noch ein gutes Dutzend Umzugskartons hinter einigen Säcken alter Wäsche von Alina. Sie wirft nicht gern weg, sondern sammelt lieber unnütz. Ich trete einige Mal wütend vor einen der Säcke, bis er platzt und ein paar T-Shirts herausfallen. Ein echter cholerischer Anfall sieht anders aus, aber was nicht ist, kann bekanntlich noch werden. Ich schlörre die leeren Kartons nach oben in die Wohnung. Spätestens nächste Woche werde ich zurück in die Bonner Straße ziehen. Der ein oder andere wird mir einen Rückschritt attestieren, aber ein Mann muss tun, was ein Mann tun muss. Zurück zu Mama, selbst wenn die im Knast sitzt. Ich treffe Entscheidungen, zur Not auch unsinnige. In dieser Wohnung kann ich nicht mehr bleiben. Sie ist zu steril, zu zweckmäßig eingerichtet, zu spießig modern dekoriert. Jeder, der hier eintritt, sagt sofort parolenhafte Sätze im Stile von: Das ist ja schnuckelig hier, alles wirkt so hochwertig, das kann ich mir vorstellen, dass ihr euch hier wohl fühlt. Und am Schlimmsten, das untote Schaf unter den schwarzen: Ach ja, bei euch sieht man sofort Alinas Handschrift.
Einen Scheißdreck sieht man! Ich denke es in Großbuchstaben. Einen Scheißdreck! Hier bleibt ab sofort kein Accessoire auf dem anderen, Alinas Handschrift wird ausradiert. Kaum ist der Entschluss gefasst, geht es mir besser. Auf einer Skala von eins bis ungefähr vierzehn, in der eins für unterirdische Scheiße steht und alles darüber bisher unerforscht geblieben ist, wage ich einen Blick ins Unbekannte. To boldly go where no one has gone before, wie Captain Picard so schön sagt. Ich gebe ein erleichtertes Geräusch von mir, das mich entfernt an ein Maultier erinnert, dann beginne ich, Kartons zusammenzustecken. Nach fünf Durchgängen Steckexerzitium fühle ich mich ermattet, falle zurück auf eine Beton-Eins in meiner Skala. Captain Picard kann mich mal. Ich könnte in die Bürgerpflicht gehen. In seiner eigenen Kneipe zu trinken, ist in vielen Situationen ein angemessener Ausweg. Heute ist Musikabend. Unser Pianist Hank Memphis spielt. Er ist talentiert, wenn auch ein wenig verschroben. Leider hat Thai Thekendienst. Ihr herkömmlicher Gemütszustand ist gut gelaunt. Das ist heute nichts für mich.
Ich lege mich aufs Sofa und schaue ein paar Stunden Fernsehen. Ich kann nicht mehr bewegen als meinen rechten Zeigefinger, um die Kanäle umzuschalten. Anna ruft an und labert mich mit irgendeinem Blödsinn voll, der mich nicht interessiert. Ich lege einfach auf und schalte das Telefon aus. Als die Sonne endlich untergegangen ist, öffne ich eine Flasche Wein und entwickele dabei so etwas wie Elan. Alles, was mit Alina zu tun hat, stapele ich im Arbeitszimmer. Meine Sachen, die ich behalten möchte, kommen in die Kisten oder ins Schlafzimmer aufs Bett. Alles, was weg soll, lasse ich an Ort und Stelle stehen oder liegen. Mir fällt ein H&M-Katalog in die Hände. Auf dem Cover ist eine attraktive Frau in einem knappen Bikini abgebildet. Thai hat mir erzählt, sie engagiere sich gegen sexistische und misogyne Werbung. Ich blättere durch den Katalog und überlege, ob ich masturbieren soll, komme mir dann aber schäbig vor und packe den Katalog schnell zu den Sachen im Arbeitszimmer.
Es klingelt. Ich frage unfreundlich durch die Gegensprechanlage, wer da störe. Alina antwortet. Sie hat einen Schlüssel, wolle mich aber nicht auf dem falschen Fuß erwischen, behauptet sie. Ich lasse sie herein und atme eine halbe Minute konzentriert ein und aus, um mich nicht aufzuregen. Solange benötigt sie, um die zwei Stockwerke hinaufzulaufen. Ihre braunen Haare sind zu zwei Zöpfen geflochten. Das macht sie immer, wenn sie wenig Zeit hat und die Haare den ganzen Tag über sitzen sollen. Ich mag die Frisur. Dazu trägt sie ein Oberteil, das ich an ihr noch nie gesehen habe und neue Schuhe. Ich frage mich, wo sie die letzten beiden Tage verbracht hat, ob sie die ganze Zeit bei Linus war.
»Na«, sagt sie.
»Jau«, antworte ich.
»Kann ich rein?«
»Besser nicht. Ich räume gerade um.«
Sie könnte darauf bestehen, immerhin zahlt sie die Hälfte der Miete, obwohl ich im Mietvertrag stehe und sie nicht. Alina stapft unbeholfen von einem Bein aufs andere.
»Komm schon, Tankred. Lass mich rein.«
Sie weint. Damit habe ich nicht gerechnet und ich kämpfe einen Anflug von Mitleid nieder. Wenn hier jemand flennen darf, dann bin ich das. Allerdings werde ich ihr diese Genugtuung nicht geben.
»Das alles ist einfach passiert«, erklärt sie mir mit zitternder Stimme. »Wir sind irgendwann betrunken gewesen, du warst nicht da, mir ging es nicht gut, dann ist alles schief gelaufen. Weder Linus noch ich haben dir schaden wollen, verstehst du?«
Ich verneine, Alina redet weiter, ich lasse es durch mich durchfließen. Sie hat mich an den Hörnern durch die Stadt getrieben. Eine eigenartige Redewendung, die meines Wissen schon in der Antike Verwendung gefunden hat. In irgendeiner Übersetzung für den Verlag ist das vor Jahren einmal vorgekommen. Ich hätte die Provenienz der Redewendung überprüfen können, aber offensichtlich bin ich anders gestrickt. Mir genügt es, an der Oberfläche zu kratzen. Deshalb bin ich wieder allein, während es anderen gelingt, eine Familie zu gründen, in London zu leben, glücklich zu sein. Bin ich verdammt, die nächsten Jahre auf H&M-Kataloge zu onanieren? Ist das auszuhalten oder werde ich darüber verrückt? Oder bin ich es längst, weil ich denke, was ich denke. Was ist, wenn Thai eines Tages Erfolg hat und keine leicht bekleideten Frauen mehr auf Katalogen abgelichtet werden. Bleibt mir dann noch irgendetwas, an dem ich mich festhalten kann?
»Tankred?«
Alina schaut mich mit großen Augen an. Ihr akkurat geschnittener Pony wirkt heute etwas zerzaust.
»Hast du mir überhaupt zugehört?«
»Ich weiß nicht, was du mit dieser Canossa-Nummer erreichen willst«, sage ich schroff. »Und so ein richtiges Büßergewand ist das auch nicht, was du da trägst.«
»Wovon redest du?«, fragt sie mit brüchiger Stimme.
»Canossa. König Heinrich reitet im Winter zum Papst, der in …«
Ich halte inne, als ich Alinas verzweifelten Gesichtsausdruck sehe.
»Es tut mir schrecklich leid«, sagt sie und schluchzt laut auf.
Ich nehme sie in den Arm. Sie drückt sich fest an mich. Ich spüre ihre heißen Tränen an meinem Hals.
»Was kann ich machen, Tankred?«, flüstert sie mir ins Ohr. »Was soll ich noch sagen?«
»Ich betrüge dich mit Linus, er ist ein schlechter Bruder. Und ich bin eine schlechte, promiskuitive Partnerin«, erwidere ich leise.
»Was?«
»Das könntest du sagen. Genauer gesagt hättest du das schon vor einer ganzen Weile sagen sollen.«
»Fuck«, ruft sie und stößt mich weg. »Ich weiß es selbst. Das ist Mist, aber es ist passiert. Dem können wir uns nur stellen, mehr nicht, Tankred.«
Ich nicke, obwohl ich das für totalen Schwachsinn halte. Rhetorik, die impliziert, dass niemand die Zeit zurückdrehen und die Ereignisse ändern kann, ist mir viel zu billig. »Was du nicht sagst.«
»Ich weiß manchmal auch nicht, was in mich fährt. Ich tue Dinge, die falsch sind, aber in dem Moment guttun.«
Ich nicke erneut, obwohl ich ihr diesmal nicht ganz folgen kann. »Du hast etwas Besseres verdient, auch wenn du dich verhalten hast wie ein Arschloch«, sage ich mit fester Stimme.
Sie blickt verwirrt auf. »Tankred, hör auf, bitte.«
»Nein, mein Ernst. Das denke ich. Du hättest etwas Besseres verdient gehabt. Von Anfang an. Ich bin eben nicht der eine, den du willst.«
Wir schauen beide zu Boden. Da ist nichts mehr zwischen uns, das gesagt werden muss. Mehrere Jahre Beziehung zerbröseln zu Staub. Ich verstehe nicht, wieso Alina ausgerechnet mit meinem Bruder ins Bett gestiegen ist, aber so ist das eben. Wir wissen nie, wie der andere tickt, obwohl wir uns das einzureden versuchen. Letztendlich ist es auch besser so. Meine Übergangsjacke liegt in der Reinigung in der Parallelstraße. Ich werde sie einfach dort lassen, selbst wenn der Spermafleck herausgegangen sein sollte. Zum Glück wird es gerade wärmer, der Frühling hat sich endgültig durchgesetzt, die Kälte ist gewichen, eine Übergangsjacke überflüssig. Wir verabschieden uns. Sie will die Tage vorbeikommen, um ihr Zeug abzuholen. Ich habe keine Lust mehr zu packen und suche in einem der dritten Programme nach einer Wiederholung eines Tatorts. Zum Glück habe ich den H&M-Katalog bereits aussortiert, sonst könnte es jetzt unappetitlich werden.