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Brownsville in Miami, Florida

Gene hatte noch eine ganze Weile im Wagen gesessen und das Haus beobachtet, bevor die Temperaturen unerträglich geworden waren. Doch niemand hatte sich blicken lassen. Das ganze Viertel wirkte wie ausgestorben. Selbst auf dem Hialeah Drive war nur spärlicher Verkehr. Der Laden an der Ecke war geöffnet, zumindest stand die Tür weit auf, und eine Gemüsetheke war neben dem Eingang aufgebaut.

Gene hatte Durst. Sein Gaumen war wie ausgetrocknet. Zielstrebig ging er auf das Geschäft zu. Drinnen war es angenehm kühl. Das Klimagerät in der Ecke lief auf vollen Touren. Gene ging zum Getränkekühlschrank und entnahm zwei eisgekühlte Sodawasser. Eine der Flaschen öffnete er sofort und nahm einen kräftigen Schluck.

Hinter dem Verkaufstresen saß eine alte Frau, die ihrem Aussehen nach wohl aus der Karibik stammte. Gene tippte auf Haiti; von dort waren vor ein paar Jahren viele Wirtschaftsflüchtlinge gekommen und hatten sich in Miami und Umgebung niedergelassen. Über dem Tresen hing allerlei Voodoo-Krimskrams: Hühnerkrallen, kleine Püppchen, Ketten und Traumfänger aus Hühnerfedern. Die alte Frau beobachtete Gene argwöhnisch, als er langsam auf die Ladentheke zuschlenderte.

»Ein heißer Tag heute«, begann er das Gespräch.

»Nicht heißer als gestern und auch nicht heißer als morgen«, erwiderte die Frau mit tiefer Stimme.

Gene warf einen Dollar auf den Tisch. »Trotzdem, bei dieser Hitze kann man ja nur trinken, bevor der Hals austrocknet wie die Wüste.«

Die Frau griff nach dem Dollar und verstaute ihn in ihrer Tasche. Der Platz erschien ihr wohl sicherer als die riesige, altertümliche Ladenkasse.

Gene wies auf den seltsamen Schmuck, der über dem Tresen baumelte. »Hilft das denn?«, fragte er und wies auf die Traumfänger.

»Wenn man daran glaubt«, antwortete die Frau abweisend. Gene gewann nicht den Eindruck, dass sie sich gerne unterhielt. Dennoch fragte er sie nach Jean Tarston.

»Ich kenne keinen Jean Tarston«, kam die Antwort. Für Genes Begriffe eine Spur zu schnell.

»Ungefähr meine Größe, weiß, rote Haare«, entgegnete Gene. »Wohnt gegenüber in dem gelben Haus. So viele rothaarige Iren gibt es hier in Brownsville nicht.«

Die Frau zögerte. Gene griff nach einem Zwanziger in seiner Hosentasche. »Heute schon mit Jackson Bekanntschaft gemacht?«

Die Frau schaute auf den Geldschein. »Grant oder Franklin waren bessere Präsidenten«, antwortete sie.

»Ich denke, Jackson und Hamilton tun es auch.« Gene kramte einen Zehner aus der Tasche. »Ich hoffe nur, dass dreißig Dollar mehr Wert sind als dieser Tand.«

Er blickte auf die Traumfänger.

»Such dir einen schönen aus.«

»Also, was ist mit Tarston?«

Die Frau griff nach den Geldscheinen und schob sie in die Tasche ihrer Schürze. »Kein guter Junge«, sagte sie. »Seine Aura ist von schwarzer Magie umgeben.«

»War er in der letzten Zeit hier?«

Die Frau zuckte mit der Schulter. »Habe ihn schon seit ein paar Wochen nicht mehr gesehen.«

»Hat er Freunde hier im Viertel, eine Freundin?«

»War mal ein Junge bei ihm. Schwarze Haare, groß und kräftig. Hat überhaupt nicht zu ihm gepasst. Sah aus wie einer der Collegeboys aus den feineren Gegenden. Aber fragen Sie Jake, der war manchmal mit ihm zusammen.«

»Jake?«

»Wohnt auch drüben im Keller, nebenan. Aber ich habe nichts gesagt. Sie sind nicht der Erste, der nach ihm fragt.«

Gene schaute die Frau verwundert an. »Wer hat nach ihm gefragt?«

»War kein Bulle wie Sie, hatte einen Anzug an, der so viel kostet, dass wir mit dem Geld unser Dach reparieren könnten.«

»Ich bin kein Bulle«, antwortete Gene. »Wann war der Kerl hier?«

»Vor einer Woche etwa. Und ich erkenne einen Bullen, wenn er vor mir steht.«

Gene grinste. Er überlegte, was noch für ihn von Interesse sein konnte.

»Hat Tarston einen Wagen?«

»Er fährt eine alte Karre, einen ohne Dach. Er ist rot. Die Marke kenne ich nicht. Für Autos habe ich mich noch nie interessiert.«

Die Frau erhob sich und kam hinter dem Tresen vor. Sie griff nach einem Traumfänger, der aus roten Federn bestand. »Er wird dir Glück bringen«, sagte sie und reichte ihn Gene.

Offenbar hielt die Frau das Gespräch für beendet. Alles in allem ein wenig spärlich für dreißig Dollar, dachte sich Gene, als er zur Tür ging.

»Seien Sie vorsichtig, Mister«, rief ihm die Frau nach. »Der Kerl, der nach dem Rotschopf fragte, trug zwar einen Fünfhundert-Dollar-Anzug, aber er roch nach Schweiß wie ein Stinktier in einem Veilchenstrauß. Und außerdem trug er eine Kanone unter der Jacke.«

São Sebastião do Uatumã, Amazonasgebiet

São Sebastião do Uatumá war eine kleine Stadt. Knapp achttausend Einwohner zählte die Gemeinde, zumeist Caboclos – Mischlinge, die aus Ehen von Europäern mit Indios hervorgegangen waren und ihr Geld mit Landwirtschaft, Fischfang und Kautschukgewinnung verdienten. Ein paar kleinere Hotels waren auf Touristen aus, die Bootstouren auf dem Amazonas unternahmen. Ansonsten gab es hier nur einfache Häuser und Hütten. Eine kleine Krankenstation in der Nähe des Hafens wurde von Geldern der Entwicklungsprogramme des Internationalen Roten Kreuzes finanziert. Zwei Ärzte, eine Ärztin, ein paar Krankenschwestern aus der nahen Mission und drei Krankenpfleger arbeiteten dort und hatten sich auf zwei Jahre verpflichtet. Schlangenbisse und Tropenkrankheiten kamen hier häufig vor, außerdem gab es immer wieder Unfälle bei der Kautschukernte und beim Fischen.

Der Kleinbus brachte die Frau vom Patrouillenboot umgehend in die Krankenstation, auf der die Fahne des Roten Kreuzes wehte und wo es einen ausreichend ausgestatteten Operationssaal und eine kleine Quarantänestation mit eigener Stromversorgung gab. Der Regen war kurz und heftig, deshalb fuhren sie in die kleine Halle, in der sich der Zugang zur Notaufnahme befand. Die Pfleger legten die Bewusstlose auf eine fahrbare Krankenliege und brachten sie in das kleine, verwinkelte Gebäude, wo sie von einem der Ärzte in Empfang genommen wurde. Inzwischen trat Blut aus Nase und Mund.

»Was ist mit ihr passiert?«, fragte der junge, dunkelhaarige Arzt, an dessen Brust ein Namensschild mit der Aufschrift Alonso prangte. Während die Pfleger mit den Schultern zuckten, trat der Cabo aus ihrem Schatten.

»Das weiß ich nicht. Wir fanden sie vor zwei Stunden an der Mündung zum Rio Jatapu in einem Boot. Zwei Männer lagen ebenfalls dort, aber die waren schon tot. Wir konnten ihnen nicht mehr helfen. Vielleicht ist sie von einer Schlange gebissen worden.«

»Bringt sie in den Behandlungsraum!«, befahl Alonso. »Und bereitet vorsichtshalber das Serum vor.«

»Wissen Sie, wie sie heißt?«, wandte sich der Arzt wieder an den Cabo.

»Wir haben keine Papiere gefunden, und in der Nähe gibt es keine Siedlung. Wir glauben, dass sie von der Küste stammt, aus Recife vielleicht oder aus Salvador. Sie muss hier in einem Camp untergekommen sein.«

»Ein Camp, hier in der Gegend?«

»Am Rio Jatapu wahrscheinlich. Illegal, nehmen wir an.«

»Na gut, dann nennen wir sie einfach Maria«, sagte Alonso und griff zu seinem Stift. Am Empfangspult griff er nach einem Aufnahmebogen.

»Wenn man nicht alles selbst macht«, stöhnte der Arzt. »Wollen Sie warten?«

Der Cabo nickte.

*

»Ich habe euch das schon tausend Mal gesagt«, schrie Lila die Pfleger an, »solange wir nicht wissen, was die Patienten haben, kommen sie auf die Isolierstation. Und jetzt bringt sie rüber und hinterher duscht ihr euch und nehmt reichlich Desinfektionsmittel!«

»Aber Doktor Alonso sagte uns …«

»Es ist mir scheißegal, was er euch gesagt hat«, fuhr Lila die beiden Männer an. »Es gibt ganz klare Vorschriften, und wenn wir hier auch mitten im Urwald sind, dann gelten diese Vorschriften dennoch, oder wollt ihr euch einen anderen Job suchen?«

»Na … na … na«, tönte es über den Flur. »Was ist denn hier los?«

Der Chefarzt der Station, Doktor Williamson, kam aus seinem Büro. Er sah verschlafen aus.

»Diese hirnverbrannten Idioten haben eine fiebrige Patientin in den Behandlungsraum gelegt, ohne dass vorher eine Diagnose erstellt wurde«, berichtete Lila barsch.

»Doktor Alonso hat uns gesagt, dass wir sie ins Behandlungszimmer bringen sollen«, rechtfertigte sich einer der Pfleger noch einmal. »Sie hat wahrscheinlich einen Schlangenbiss. Wir sollen das Serum vorbereiten.«

»Na, da haben wir es doch, werte Kollegin«, sagte Williamson zynisch. »Oder wollen Sie die Fähigkeiten von Doktor Alonso in Zweifel ziehen? Er ist schon über ein Jahr hier und Sie erst zwei Monate. Sie müssen noch tüchtig dazulernen, Mädchen.«

Lila hasste den grauhaarigen, alten Mann. Seit über zehn Jahren war er schon hier in Brasilien als Arzt im Auftrag des Roten Kreuzes tätig, doch Lila hatte schon nach einem Monat erkannt, dass er unfähig war. Doktor Williamson stammte aus Schweden und galt in der Gegend als eine Art Wunderheiler bei den einfachen Menschen. Aber Lila, die eigentlich in São Paulo geboren und aufgewachsen war und in New York ihr Medizinstudium mit Auszeichnung bestanden hatte, wusste schnell, was sie von seinen Fähigkeiten zu halten hatte. Eine Flasche Cachaça zu öffnen, fiel ihm deutlich leichter, als einen Verband anzulegen. Und Alonso war ein Geck, ein pomadiger Affe, der hinter jedem einigermaßen ansehnlichen Rock in der Gegend her war und mit seinen Anzüglichkeiten auch bei Lila nicht hinter dem Berg hielt.

Lila Faro war eine attraktive und engagierte junge Frau, die Ärztin aus Überzeugung geworden war. Sie hatte sich freiwillig nach São Sebastião gemeldet, da sie nicht vorhatte, als Assistenzärztin in irgendeinem Krankenhaus in São Paulo zu versauern, sondern einen aktiven Beitrag zum Ausbau des Gesundheitswesens in Brasilien leisten wollte. Nun saß sie seit zwei Monaten im Hospital Santa Catarina fest und der einzige Mensch, mit dem sie reden konnte, war Pater Innocento, der unweit der Stadt eine kleine Mission leitete, in der er sich zusammen mit zwei Schwestern um behinderte Menschen kümmerte. Von Zeit zu Zeit besuchte er das Krankenhaus, doch das war nur ein schwacher Trost für Lila.

Sie wandte sich um und ging ohne ein weiteres Wort den Flur hinab. Auf dem Stuhl neben dem Empfangspult saß ein Offizier der Militärpolizei in Uniform. Als Lila in ihrem weißen Arztkittel an ihm vorüberging, erhob sich der Mann. »Wie geht es ihr?«, fragte er leise.

Lila blieb stehen und wandte sich um. »Sie meinen die Frau mit dem angeblichen Schlangenbiss?«

Der Polizeioffizier nickte.

»Doktor Alonso kümmert sich um sie.«

»Ich befürchte, dass sie nicht überleben wird«, fuhr der Offizier fort. »Sie ist sehr schwach. Das Fieber lässt sich nicht senken. Ich habe alles versucht.«

»Sind Sie Arzt?«

»Ich bin Korporal und Sanitäter auf einem Patrouillenboot der Militärpolizei. Wir fanden die Frau in einem Langboot an der Mündung zum Rio Jatapu. Ihre Begleiter waren bereits tot.«

»Haben Sie den Schlangenbiss diagnostiziert?«

Der Cabo zuckte die Schultern. »Ich nehme an, dass es ein Schlangenbiss ist, aber ich bin mir nicht sicher. Einige der Symptome sprechen dafür, andererseits habe ich für ihre Krämpfe keine Erklärung. Meistens werden die Menschen schwach, fiebrig und matt. Sie hatte aber krampfartige Schmerzen, die ich noch nie erlebt habe. Außerdem hatte ihr Blut eine eigenartige Farbe.«

»Sie hat geblutet?«

»Aus dem Mund«, bestätigte der Cabo. »Ich dachte mir, sie hat sich selbst gebissen.«

»Wie ist Ihr Name, Senhor?«

»Nennen Sie mich Cabo, das tun alle. Meinen richtigen Namen habe ich fast schon vergessen.«

»Also gut, Cabo, gehen Sie sofort zur Schwester«, sagte Lila besorgt. »Sie müssen duschen und sich desinfizieren.«

Der Cabo schaute überrascht.

»Wir sind hier im Dschungel«, erklärte Lila. »Wir müssen hier mit allem rechnen. Sobald Sie sich geduscht haben, möchte ich Sie untersuchen.«

Eine Schwester kam den Gang entlang.

»Schwester Marita!«, rief Lila die Frau zu sich. »Kommen Sie mit, Sie müssen mir helfen!«

Mutiert

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