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Hospital Santa Catarina, São Sebastião, Amazonasgebiet

Lila hatte schlecht geschlafen. In der Nacht war es nur leidlich kühler geworden und die hohe Luftfeuchtigkeit beinahe unerträglich gewesen. Aber als Lila gegen acht Uhr ihren Dienst in der Patientenaufnahme antrat, hatte ein schweres Gewitter die Luft reingewaschen. Bereits zwölf Patienten saßen im Wartezimmer.

Lila behandelte zuerst einen kleinen Indio-Jungen, der von seiner Mutter in die Station gebracht worden war und nun nur unwillig der Ärztin in den Behandlungsraum folgte. Seine Augen waren ganz verquollen, und er heulte Rotz und Wasser, während er sich an seine Mutter klammerte. Der Junge hatte bereits seit einigen Tagen Husten und Halsschmerzen, und auf dem Körper des Achtjährigen breitete sich ein entzündlicher Hautausschlag aus.

Als Lila mit dem Fieberthermometer kam, konnte die Mutter den Kleinen kaum ruhig halten. Beide gehörten dem Stamme der Yanomamis an und kamen aus einer Indianersiedlung, die in einiger Entfernung westlich von São Sebastião lag. Mit ihrem Einbaum ohne Motor hatten sie für ihre Fahrt auf dem Fluss zwei Tage bis zur Krankenstation gebraucht. Der Vater war im Hafen beim Boot zurückgeblieben. Conceição, die Krankenschwester, assistierte Lila und redete beschwichtigend auf den Jungen ein. Conceição, selbst indianischer Abstammung, beherrschte die vielen unterschiedlichen Dialekte der Indianerstämme, und ihre einfühlsamen Worte vermochten den Jungen zu beruhigen. Zögerlich, doch deutlich zutraulicher, ließ er Lila gewähren, die ihm das Fieberthermometer in den Mund steckte. Mit großen, verweinten Kulleraugen sah er die junge Ärztin an. Nach knapp einer Minute gab das Thermometer ein kleines Signal von sich.

»Achtunddreißig fünf«, sagte Lila. »Kein Zweifel, der junge Mann hat Masern. Er darf in der nächsten Woche nicht mit anderen Kindern zusammenkommen, denn sonst muss bald das ganze Dorf hier nach São Sebastião rudern. Absolute Ansteckungsgefahr für alle, die noch keine Immunkräfte aufgebaut haben.«

Die Indianerin blickte Conceição fragend an.

»Was soll ich ihr sagen?«, fragte die Krankenschwester.

Lila ging an den Apothekenschrank und holte ein Antibiotikum und ein fiebersenkendes Schmerzmittel hervor.

»Sag ihr, dass er bald wieder gesund wird«, antwortete Lila. »Und sag ihr, er soll jeden Tag nach dem Essen eine weiße Pille nehmen, bis die Packung leer ist. Die roten Pillen nur, wenn ihm schlecht wird und er hohe Temperatur hat. Und er soll nicht mit anderen Kindern spielen, sonst werden die ebenfalls krank. Und Schwangere sollen auch nicht in seine Nähe.«

Noch bevor die Krankenschwester mit ihrer Übersetzung am Ende war, wurde plötzlich die Tür aufgestoßen. João, der Krankenpfleger, streckte den Kopf herein.

»Schnell, dringend, ein Notfall!«, rief er.

Lila legte das Fieberthermometer zur Seite. »Was ist mit Doktor Alonso, er hat Notfalldienst.«

»Der Doktor ist nicht gekommen«, antwortete João. »Schnell, wir brauchen Hilfe, sonst stirbt der Patient.«

Lila streifte ihre Handschuhe ab, verabschiedete sich hastig von ihrem jungen Patienten und der Mutter und folgte João den Flur entlang in den Quarantäneraum.

»Wo ist Alonso, weshalb ist er nicht gekommen?«, fragte sie den Pfleger.

João zuckte mit der Schulter. »Violante hat mit ihm kurz gesprochen, er fühlt sich krank.«

Außer Atem kam Lila an der kleinen Quarantänestation an. Hastig streifte sie ihre Schutzkleidung über. Durch die Glasscheibe sah sie bereits, wie sich die beiden Krankenschwestern und ein Pfleger über den Patienten auf dem Behandlungstisch beugten und ihn darauf fixierten.

»Was ist los mit ihm«, rief Lila, als sie das Zimmer betrat.

»Er hat einen Krampfanfall«, erwiderte Schwester Violante schwer atmend. »Wir können ihn nicht mehr lange halten.«

Lila warf einen prüfenden Blick auf den dunkelhäutigen Patienten. Ein Mann um die vierzig.

»Ein Kautschuksammler«, sagte die Schwester. »Sein Partner hat ihn gebracht.«

Lila nickte. »Diazepam, zehn Milligramm, schnell!«

Schwester Violante rannte zum Arzneischrank, während João ihre Position einnahm und den Patienten mit aller Kraft auf den Behandlungstisch drückte.

Lila schaute in das schmerzverzerrte Gesicht des Mannes. Blut trat aus seinem Mund hervor, erst war es ein kleines Rinnsal, doch schon vergrößerte sich der Blutstrom. Lila prüfte noch einmal den festen Sitz ihrer Latexhandschuhe. Schwester Violante kam zurück und reichte ihr eine Spritze. Plötzlich erschlaffte der Körper des Mannes. Ein dunkler Blutstrom ergoss sich aus Mund, Nase und Ohren, und bald schon war der Boden unter dem Behandlungstisch rot gefärbt.

»Er atmet nicht mehr«, sagte Nuno, der junge Pfleger, der wie João aus São Sebastião stammte.

»Beatmen und den Defibrillator, schnell!«

Hektisch versuchte Lila den Kautschukpflücker wieder ins Leben zurückzuholen, doch das Herz des Mannes hatte aufgehört zu schlagen, und ihre Bemühungen waren vergeblich. Bevor sie dem Patienten die Decke über den Kopf zog, entnahm sie ihm mit einer Spritze Blut und zog die Kanüle vorsichtig ab. Aus dem Medizinschrank holte sie eine luftdicht verschließbare Medibox, die zum Transport von Blutproben verwendet wurde, und verstaute die Spritze darin. Sie schwitzte unter ihrer Schutzkleidung. »Hier muss alles desinfiziert werden, und dass mir niemand mit dem Blut in Kontakt kommt.«

Lila verließ den hellen und von der Außenwelt durch eine Schleuse abgetrennten Isolierraum. Sie entledigte sich ihrer Schutzkleidung und wusch sich von Kopf bis Fuß. Anschließend rieb sie sich mit einem Desinfektionsmittel ein. Sie dachte an die junge Frau, die von den Militärpolizisten eingeliefert worden war.

Nachdem sie die Schleuse verlassen hatte, wartete sie, bis Schwester Violante folgte.

»Wo ist der Mann, der ihn hierher gebracht hat?«, fragte Lila.

Schwester Violante schaute den Flur entlang. »Er hat hier gewartet, aber jetzt ist er gegangen.«

»Und wer hat den Patienten aufgenommen?«

»Das war ich.«

»Hat er etwas gesagt?«

Violante war schon seit Ewigkeiten in dieser Station. Sie gehörte zu den ersten Schwestern, die hier ihren Dienst versehen hatten, und war zuvor bereits in vielen Krankenhäusern des Landes, unter anderem auch in Belém und in Manaus, tätig gewesen. Lila gegenüber verhielt sie sich reserviert und manchmal sogar ein klein wenig abweisend, dennoch schätzte Lila ihre Fachkenntnisse und ihre Arbeit sehr.

»Was soll er gesagt haben?«, fragte sie.

»Hat er erzählt, was passiert ist?«, präzisierte Lila ihre Frage.

»Sie waren nördlich von Chalana unterwegs und fanden dort zwei Leichen«, berichtete die Schwester. »Einen Tag später fühlte sich der Verstorbene nicht mehr gut und bekam Fieber. Sein Partner kehrte um und brachte den Mann zu uns.«

»Und was ist mit den Leichen?«

Schwester Violante ging an Lila vorüber. »Woher soll ich das wissen«, gab sie zurück.

Brás am Rio Jatapu, Amazonasgebiet

Der Cabo hatte sich des erkrankten Militärpolizisten angenommen, hatte ihm ein fiebersenkendes Medikament verabreicht und ihm mit kaltem Wasser die Stirn gekühlt, doch das Fieber nahm an Intensität zu. Und bald schon fiel Pedro, der Polizist, in einen tiefen Schlaf.

Dröhnend und qualmend schipperte das Boot mit den angeschlagenen Motoren den Rio Jatapu hinauf. Brás war nur noch knapp dreißig Kilometer entfernt, doch das Boot machte nur langsame Fahrt. Das Funkgerät gab lediglich statisches Rauschen von sich. Der Motor brummte dermaßen laut, dass man sich an Bord nur durch Rufen verständigen konnte.

Brás war eine kleine Stadt, ähnlich wie São Sebastião. Beinahe fünftausend Menschen wohnten hier. Sie lebten von Ackerbau, vom Fischen, von der Holzwirtschaft und der Kautschukernte. Auch wenn der Kautschukboom längst vorbei war und mittlerweile billigere Produktionsstätten Brasilien den Rang abgelaufen hatten, so gab es immer noch einen kleinen Markt für das Blut der brasilianischen Bäume. Doch auch in Brás hatten die kargen Böden und der stete Kampf ums Überleben dafür gesorgt, dass immer mehr Menschen abwanderten und in die großen Städte an den Küsten zogen. Wenngleich die meisten dort in den Favelas endeten, so warfen die großen Städte doch immer noch mehr ab als der Urwald freiwillig zu geben bereit war.

»Wie geht es Pedro?«, rief der Kommandant dem Cabo zu.

Der nahm seinen Mundschutz ab. »Ich hoffe, ich bekomme das Fieber in den Griff.«

»Dieser Urwald ist die Hölle«, antwortete der Kommandant. »Ich bete, dass wir möglichst bald die Stadt erreichen und endlich Hilfe holen können. Das Boot wird uns nicht mehr zurückbringen, da bin ich mir sicher. Wir können froh sein, wenn wir damit überhaupt in Brás ankommen.«

Der Cabo senkte seinen Blick. »Ich befürchte, Pedro ist ernsthaft erkrankt. Ich denke sogar, er hat die gleiche Krankheit wie die Frau, die wir fanden. Er hat sie zusammen mit Chicko an Bord geholt.«

Der Kommandant runzelte die Stirn. »Was ist das für eine heimtückische Krankheit?«

»Wenn ich das nur wüsste, nicht einmal die Ärzte in der Krankenstation wussten Bescheid. Wir müssen vorsichtig sein. Niemand sollte zu ihm. Wenn es Bakterien oder Viren sind, dann genügt es schon, wenn man in seiner Nähe ist, um angesteckt zu werden.«

»Wir sind auf einem kleinen Boot«, antwortete der Kommandant. »Wir können uns auf Dauer nicht aus dem Wege gehen. Außerdem müsste doch auch Chicko krank werden, wenn es so ist, wie du denkst.«

Der Cabo streifte sich seine Handschuhe ab. »Jeder Mensch ist anders. Jeder Mensch hat ein eigenes Immunsystem. Wenn jemand durch eine bakterielle Infektion befallen wird, dann ist es noch lange nicht gesagt, dass die Krankheit bei ihm ausbricht. Es kommt darauf an, ob das Abwehrsystem des Körpers stark genug ist, die Infektion abzuwehren.«

»Im kleinen Dorf hat es aber offenbar viele Bewohner erwischt«, gab der Kommandant zu bedenken.

»Genau das macht mir große Sorgen.«

Mutiert

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