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Brás am Rio Jatapu, Amazonasgebiet
ОглавлениеGegen Mittag steuerte das lädierte Patrouillenboot die kleine Stadt am Oberlauf des Rio Jatapu an. Nachdem das qualmende und lärmende Boot die letzte große Flusswindung durchfahren hatte, tauchten am linken Flussufer die ersten Anzeichen der Zivilisation auf. Die Bäume wichen vom Ufer zurück und machten einer breiten Graslandschaft Platz, die sich entlang des Flusslaufs erstreckte, bis sie durch die ersten Gebäude und gerodete Flächen verdrängt wurde. Ein einzelner Anleger ragte in den Fluss hinaus, an dem kleine Fischerboote vertäut waren. Der Cabo stand an der Reling und schaute über das Wasser. Keine Menschenseele war zu sehen. Der Kommandant steuerte das Boot auf einen der Anleger zu, schließlich nahm er das Gas weg und das Boot glitt langsam dem Ufer entgegen. Chicko stand bereit und wartete geduldig, bis er das Tau um einen der hölzernen Poller legen konnte. Er brauchte einen einzigen Wurf dafür. Dann stemmte er sich zusammen mit Gustavo, dem weiteren Besatzungsmitglied, gegen den Vortrieb und stoppte sanft das Boot.
Pedro, der erkrankte Soldat, lag noch immer mit Fieberkrämpfen auf seiner Liege. Der Cabo hatte für ihn getan, was er tun konnte, doch sein Zustand verschlechterte sich rapide. Der Cabo nahm seine qualmende Pfeife aus dem Mund und fuhr sich über die dunklen Haare.
»Wie ausgestorben«, murmelte er.
»Was sagst du?«, fragte der Kommandant.
»Wo sind die spielenden Kinder, wo die Fischer? Es ist mitten am Tag, und niemand läuft über die Straßen. Noch nicht einmal ein räudiger Straßenköter.«
Der Kommandant verließ das Ruder und gesellte sich an die Seite seines Unteroffiziers. Mit skeptischem Blick musterte er die Umgebung.
Baufällig anmutende Hallen aus verrostetem Wellblech standen am Ufer, im Hintergrund führte eine staubige Straße in das kleine Dorf. Kleine Häuser mit bröckelndem Putz und schmutzig roten Ziegeln, teils mit Pflanzen überwuchert, säumten den Weg. Nirgendwo eine Bewegung. »Es ist Mittag, es liegt wohl an der Hitze«, antwortete der Kommandant.
Nachdem das Boot ordentlich vertäut war, ging er von Bord. »Chicko, Sie bleiben mit Gustavo hier und bewachen das Boot, kümmern Sie sich um Pedro, wenn er aufwacht.«
»Aber Vorsicht!«, rief der Cabo. »Denken Sie daran, bei jedem Hautkontakt kann die Krankheit übertragen werden.«
Der Kommandant griff nach seinem Gewehr. »Komm, wir gehen. Niemand nähert sich dem Boot, ist das klar!«
Chicko salutierte.
Die Straße in den Ort führte über eine kleine Anhöhe. Steinhäuser standen rechts und links des Weges, die Fensterläden und die Türen waren geschlossen. Die Häuser schienen unbewohnt. Bedächtig schritten die beiden Militärpolizisten voran. An einer Wegegabelung wandten sie sich nach Osten. Eine Lagerhalle, gefüllt mit Baumstämmen, lag an der Straße. An einem großen Radlader hingen zwei Stämme und schaukelten im sanften Wind. Ein Zaun versperrte ihnen die Sicht auf das benachbarte Gebäude.
»Wirklich wie ausgestorben«, flüsterte der Kommandant. »Hier stimmt etwas nicht.«
»Keine Arbeiter, keine Kinder, keine Tiere, nichts, das auf Leben hindeutet«, entgegnete der Cabo. »Wo sind bloß all die Menschen hin?«
Der Kommandant wandte sich um. Ein Kirchturm erhob sich hinter den Dächern. Der Kommandant zeigte auf den Turm. »Versuchen wir es in der Mission.«
Der Cabo nickte. Sie gingen weiter, doch noch ehe sie die Kirche erreichten, erblickten sie einen alten Mann, der auf einer Bank im Schatten eines Baumes saß.
Vorsichtig näherten sie sich. »Wir müssen aufpassen«, mahnte der Cabo. »Möglicherweise ist die gleiche Krankheit hier ausgebrochen wie in der kleinen Siedlung flussabwärts. Der Alte könnte ebenfalls infiziert sein.«
In einiger Entfernung blieben die beiden Militärpolizisten stehen. Der alte Mann blickte mit leeren Augen die Straße hinab.
»Senhor«, rief ihm der Kommandant zu, »was ist in diesem Dorf los, wo haben sich die Einwohner versteckt?«
Der Kopf des Alten fuhr herum, doch seine Augen blieben leer.
»Er scheint blind zu sein«, flüsterte der Cabo.
Der Kommandant nickte. »Senhor, wir sind von der Polizei. Was ist in dieser Stadt passiert, wo sind die Menschen?«
Die Miene des Alten verfinsterte sich. »Flieht, der Teufel ist unter uns. Und er hat diesem verfluchten Ort den Tod gebracht. Flieht, solange ihr noch könnt.«
»Er spinnt«, murmelte der Kommandant. »Es hat keinen Sinn, wir müssen weiter. Es können doch nicht alle den Ort verlassen haben.«
»Was ist hier passiert?«, wandte sich der Cabo noch einmal an den Alten.
»Sie kamen vor ein paar Tagen«, stieß er hervor. »Sie kamen mit Booten aus dem Süden. Der Teufel war unter ihnen. Sie sind gestorben und sie haben viele Menschen mit sich in die Hölle genommen.«
»Aber es gibt hier keine Toten«, widersprach der Cabo.
»Die Pater der Mission haben sie mitgenommen«, erklärte der Mann. »Sie haben den Menschen gesagt, sie sollen in ihren Häusern bleiben. Wer sich nicht daran hält, den wird der Teufel mit sich in die Hölle nehmen.«
»Und was ist mit Ihnen?«
»Ich habe keine Angst vor dem Teufel«, erklärte der Alte, lachte krächzend und wandte sich von ihnen ab.
Der Kommandant beobachtete währenddessen die Fenster der umliegenden Häuser. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite gab es eine kleine Bar. Er zeigte darauf. »Wir versuchen es dort drüben! Vielleicht gibt es hier ja doch jemanden.«
Sie überquerten die Straße. Über dem Eingang hing ein blaues Schild mit der Aufschrift Estalagem. Die Tür war verschlossen. Der Kommandant klopfte mit der Faust gegen die Holztür, doch nichts rührte sich.
»Hallo, ist jemand dort drinnen«, rief der Kommandant. »Hier ist die Polizei, machen Sie auf!«
Sekunden verstrichen. Der Kommandant klopfte erneut. Diesmal heftiger als zuvor.
»Verschwindet!«, drang eine Stimme durch die verschlossene Holztür.
»Machen Sie auf, hier ist die Polizei!«
»Verschwindet von hier!«, ertönte erneut eine männliche Stimme.
»Mach auf, sonst brechen wir die Tür auf«, wiederholte der Kommandant streng und richtete sein Gewehr auf die Tür. Der Cabo trat einen Schritt zur Seite und nahm ebenfalls sein Gewehr von der Schulter.
»Aufmachen, sofort … «
Bevor der Kommandant die Worte zu Ende gesprochen hatte, knallte es laut. Der Cabo ließ sich zu Boden fallen. Aus den Augenwinkeln nahm er wahr, wie der Kommandant für einen kurzen Moment erstarrte und sein Gewehr fallen ließ. Ein weiterer Schuss, und der Kommandant wurde zu Boden geschleudert. Mit schreckensweit geöffneten Augen verfolgte der Cabo die Szene wie in Trance. Blut spritzte durch die Luft.
»Verschwindet, ihr Schweine!«, donnerte die Stimme aus dem Lokal. »Habt ihr nicht schon genug angerichtet?«
Ein metallisches Geräusch ließ den Cabo zusammenzucken. Das hatte er schon oft gehört, immer dann, wenn bei den Schießübungen das Schrotgewehr nachgeladen wurde. Eilends erhob er sich und suchte Deckung hinter der nächsten Hausecke.
»Hören Sie auf zu schießen!«, rief er in Richtung der Bar. Erneut brach ein Schuss. Das Mündungsfeuer verriet dem Cabo, dass sich der Schütze unmittelbar neben der Tür befand und durch ein kleines Fenster schoss.
Schrotkugeln schlugen in die Hauswand ein, hinter der der Cabo Schutz gesucht hatte. Bevor der Schütze einen zweiten Schuss abgeben konnte, hob der Cabo sein Gewehr an und zielte in Richtung des Fensters. Er atmete kurz durch, dann hielt er die Luft an und krümmte seinen Finger. Der Schuss aus dem Imbel-MD-97-Sturmgewehr, der Standardausrüstung des brasilianischen Militärs, klang scharf wie ein Peitschenhieb. Das Geschoss durchschlug das Holz des wurmstichigen kleinen Fensterladens und ein gellender Schrei ertönte. Schließlich flog die Tür auf und ein untersetzter, glatzköpfiger Mann wankte nach draußen. Das Schrotgewehr umklammerte er wie einen Rettungsring.
»Waffe weg!«, schrie der Cabo.
Der Glatzköpfige versuchte das Schrotgewehr anzuheben, doch ihm fehlte die Kraft. Schließlich sank er auf die Knie. Kurz verdrehte er seine Augen, dann stürzte er in den Staub und begrub die Flinte unter sich.
Der Cabo wartete einen Moment, bevor er sich aus der Deckung wagte. Mit angelegtem Gewehr ging er auf den am Boden Liegenden zu und drehte ihn mit dem Fuß auf den Rücken. Leblose Augen blickten ihm entgegen. Der Cabo atmete auf, zielte aber weiter in Richtung der Tür, denn noch immer konnten Komplizen des Toten auftauchen. Langsam näherte er sich dem Kommandanten, der auf dem Rücken lag. Auch er war tot, das Schrot hatte seinen Brustkorb regelrecht zerfetzt, das Hemd war blutdurchtränkt.
»Ich sagte doch, alle haben sie Angst vor dem Teufel.«
Der Cabo fuhr herum und riss das Gewehr in die Höhe. Der blinde, alte Mann stand vor ihm.
»Maldita!«, fluchte der Cabo. »Alter Mann, was tust du hier, beinahe hätte ich dich erschossen.«
Die Miene des alten Mannes blieb unbeeindruckt. »Ihr müsst verschwinden, sonst holt euch der Teufel ebenfalls zu sich in die Hölle.«