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Die Siedlung Corrupira am Rio Jatapu, Amazonasgebiet
Das Boot machte gute Fahrt und erreichte die beschriebene Stelle schon nach zwei Stunden. Unterwegs mussten sie allerlei Schwemmgut ausweichen, das durch den Sturm in den Fluss geraten war. Sie mussten sich beeilen, denn bald würde es Nacht werden. Hier in der Nähe des Äquators war es zwölf Stunden hell und zwölf Stunden dunkel. Um 18.00 Uhr würde die Sonne untergehen und kaum zehn Minuten später undurchdringliche Dunkelheit über den Regenwald hereinbrechen. Dann erwachten die Geschöpfe der Nacht aus ihrem langen Schlaf und bevölkerten den Boden, das Wasser und die Wipfel der hohen Bäume. Man konnte seine Uhr danach stellen.
»Dort, wir sind da!«, rief der Cabo, der mit einem Fernglas das Ufer absuchte.
Der Kommandant folgte dem Fingerzeig. Tatsächlich trieben in der Nähe des Ufers Leichen im Wasser. Sieben Tote zählte der Kommandant. Er blickte auf seine Uhr.
»Wir haben noch eine Stunde, bis es dunkel wird.«
Der Cabo kramte seine Medizinbox unter dem hinteren Waffenleitstand hervor. »Wir werden Handschuhe und sichere Kleidung brauchen.«
»Du bist der Medizinmann«, antwortete der Kommandant. »Zwei Männer begleiten dich, während wir vom Boot aus das Gebiet sichern. Aber seid vorsichtig, ihr wisst nicht, was euch dort im Busch erwartet.«
»Wenn meine Befürchtungen stimmen, dann treffen wir auf Leichen«, antwortete der Cabo und überprüfte das Magazin seiner Taurus-PT-92-Pistole.
»Trotzdem, wenn wir hier mitten in eine Auseinandersetzung der Holzmafia geraten, dann müssen wir auf der Hut sein. Sobald wir wieder Kontakt zur Basis haben, werde ich um Unterstützung bitten, aber solange sind wir auf uns gestellt. Und die Banditen sind rücksichtslos. Denk nur an Atauba, da haben die Kerle nicht lange gefackelt. Und sie hatten sogar Handgranaten.«
»Wir werden vorsichtig sein«, versprach der Cabo, bevor er zu den beiden Soldaten ins kleine Ruderboot stieg und ihnen Latexhandschuhe und je einen Mundschutz gab. »Niemand fasst etwas an, nicht einmal die Toten«, mahnte er. »Ist das klar?«
Die Soldaten nickten und näherten sich dem Ufer. Schweigend passierten sie die aufgedunsenen Körper, die im Brackwasser schwammen.
»Moment!«, sagte der Cabo, als ein männlicher Leichnam unmittelbar neben dem Boot in Bauchlage vorbeitrieb. Er musterte den aufgedunsenen Körper. Es stank entsetzlich und der Cabo würgte. Auf dem Rücken des Toten waren dem Augenschein nach keine Verletzungen festzustellen.
»Gib mir das Ruder!«, befahl er einem der Soldaten.
Der reichte ihm das Ruder, und der Cabo versuchte damit, den im Wasser treibenden Mann umzudrehen. Es war nicht leicht, der zweite Soldat unterstützte ihn. Nach mehren Versuchen gelang es endlich. Angewidert wandte er den Blick ab, denn der Tote hatte kein Gesicht mehr. Die Tiere im Wasser hatten sich wohl schon daran gütlich getan. Der aufgeschwemmte Bauch wies ebenfalls keine offensichtlichen Verletzungen auf. Der Cabo gab das Ruder zurück, und sie setzten ihren Weg ans Ufer fort.
Vorsichtig legten sie an. Einer der Soldaten sprang an Land und machte die Leine an einem Baumstumpf fest. Der zweite Soldat reichte ihm seine Maschinenpistole und begab sich ebenfalls an Land. Der Cabo folgte. Er nahm seine Pistole aus dem Holster, und sie schlichen langsam in Richtung der einfachen Hütten, die vom Ufer aus zu sehen waren. Ein kleiner Trampelpfad führte mitten hinein in die kleine Ansiedlung, die auf einer Lichtung errichtet worden war. In der Mitte eines freien Platzes stand das einzige größere, zweistöckige Gebäude, gefertigt aus einfachen Holzbalken, die von dieser gerodeten Lichtung stammen mochten. Eine alte Kaffeekanne hing über der Tür. Dies musste wohl so etwas wie der Treffpunkt der Bewohner gewesen sein.
Vorsichtig näherten sich die Soldaten der Siedlung, begleitet vom Schreien der Vögel aus dem Urwald. Kein Mensch war weit und breit zu sehen.
»Vorsichtig!«, flüsterte der Cabo, als sie die erste Hütte erreichten. Eine Tür gab es nicht. Nur ein Vorhang verdeckte den Zugang, an dem sich die Soldaten links und rechts mit schussbereiten Waffen postierten. Auch der Cabo hielt seine Pistole fest umklammert. Auf sein Zeichen stürmten sie gemeinsam in die Hütte.
Dade Police Department in Miami, Florida
Gene hatte mit Ryan telefoniert, der auf dem Revier Nachtdienst hatte. Kurz entschlossen fuhr er von Brownsville hinauf an den Doral Boulevard. Als er sich an der Wache meldete, ließ ihn der Officer nach einem kurzen Telefonat mit Ryan ein. Als er den neondurchfluteten Flur zu Ryans Büro entlangging, stand plötzlich Detective Cavallino vor ihm. Eine junge Frau begleitete ihn. Der braungebrannte Italoamerikaner grinste Gene hämisch an. »Wenn das nicht unser alter Kollege ist, ach Ex-Kollege müsste ich ja sagen. Das ist ja eine tolle Überraschung. Was treibt dich nach der langen Zeit zu uns aufs Revier?«
»Cavallino, ich dachte schon, dich hätten sie irgendwo zwischen hier und den Keys verscharrt und anschließend auf dein Grab gepinkelt.«
»Immer charmant, der Gute, so wie früher«, sagte Cavallino zu seiner Begleiterin gewandt. »Das ist Gene Mcfaddin, ein ehemaliger Kollege aus dem Department. Er hat einen Verdächtigen krankenhausreif geprügelt, und die Flasche war sein bester Freund. Da hat man ihn rausgeworfen. Ich dachte, seine Leber hätte sich längst schon zersetzt.«
Die Polizistin musterte Gene von oben bis unten. »Gefällt Ihnen das, was Sie sehen?«, fragte Gene herausfordernd.
»Nicht übel«, erwiderte sie.
»Cavallino, Vasquez, ich dachte, ihr seid längst schon auf der Straße«, dröhnte es durch den Flur. »Solltet ihr euch nicht um die Landogas kümmern!«
»Sind schon auf dem Weg«, gab die junge, dunkelhaarige Frau zurück.
»Hat mich sehr gefreut, Miss Vasquez«, sagte Gene. »Wir sehen uns.«
»Vielleicht in der Hölle«, antwortete Cavallino und schob sich an Gene vorbei.
Gene ging auf Ryan zu, der auf dem Flur stand und Cavallino und seiner Kollegin hinterherblickte.
»Cavallino war wohl wieder sehr nett zu dir?«, fragte er, als Gene ihm die Hand reichte.
»Cavallino ist ein Spagallo«, sagte Gene. »Er hat nichts im Hirn.«
»Deswegen habe ich ihm Vasquez zugeteilt. Ist ganz schön kess, die Kleine, und irgendwann wird sie den Laden hier übernehmen.«
Ryan schob Gene in das Büro und schloss die Tür.
»Hast du die Informationen?«
Ryan schenkte sich den obligatorischen Kaffee ein. »Willst du auch?«
»Gerne.«
Ryan stellte eine zweite, volle Tasse auf den Schreibtisch und ließ sich mit einem lauten Seufzer in seinen Stuhl fallen. Gene nahm ebenfalls Platz.
»Bevor ich dir erzähle, was ich erfahren habe, möchte ich erst einmal wissen, weswegen du nach Tarston suchst.«
Gene griff nach seiner Tasse. »Vor ein paar Tagen kam ein ausgesprochen hübsches Mädchen in mein Büro. Sie hatte Tränen in den Augen, weil ihr sie weggeschickt habt, als sie ihren Freund als vermisst melden wollte.«
»Tarston?«
»Nein, ihr Freund heißt Peter Harrison. Er war früher mal mit Tarston zusammen, aber sie hat ihm diese Freundschaft ausgeredet. Tarston war ihr suspekt. Kurz bevor Harrison verschwand, tauchte Tarston plötzlich wieder auf. Und stell dir vor, Tarston ist ebenfalls von der Bildfläche verschwunden. Genauso wie ihr Freund Peter. Das ist jetzt beinahe drei Wochen her.«
Ryan blickte nachdenklich auf seinen Schreibtisch. »Vielleicht solltest du ihr sagen, dass sie sich einen neuen Freund suchen soll.«
Gene schüttelte den Kopf. »Sie liebt ihn, und sie erwartet ein Kind von ihm. Bist du fündig geworden?«
»Es wird dir nicht gefallen, was ich herausgefunden habe«, antwortete Ryan. »Tarston hat tatsächlich einen Bruder. Rick Tarston. Er ist Inhaber einer kleinen Fluggesellschaft in Opa Locka. Die DEA ist an ihm dran. Sie glauben, dass er mit seinen Maschinen Rauschgift von Kuba herüberfliegt. Aber er ist untergetaucht. Seit drei Wochen etwa.«
Gene atmete tief ein. »Rauschgift.«
»Ich habe eine offizielle Anfrage der DEA auf meinem Schreibtisch liegen. Sie wollen wissen, warum sich die Polizei vom Dade County für einen ihrer Verdächtigen interessiert.«
»Sag ihnen, es geht um eine Vermisstensache«, antwortete Gene. Er überlegte. Sollte sich Peter durch seinen Freund in einen Rauschgiftdeal verstrickt haben? War er deshalb untergetaucht?
»Wie dicht waren die Leute von der DEA Tarston auf den Fersen?«
»Sehr dicht«, antwortete Ryan. »Sie wollten zuschlagen, da war er einfach verschwunden. Eine seiner Maschinen fehlt ebenfalls.«
»Es wird sich doch feststellen lassen, wo die Maschine gelandet ist«, beharrte Gene.
»Offiziell war ein Charterflug nach Baton Rouge gemeldet, aber dort ist die Maschine nie angekommen.«
»Warum hat man auf den anderen Flughäfen im Umkreis nicht gesucht?«
Ryan lächelte. »Es handelt sich um eine Lockheed C 130, ein ehemaliger Militärtransporter.«
»Und was ist daran das Problem?«
»Die Maschine hat eine Reichweite von beinahe 9000 Kilometer, und man kann sie auf jedem einigermaßen ebenen Feld starten und landen. Er kann sich also überall aufhalten. Er hat einfach das Überwachungsradar unterflogen. Er könnte sogar bis nach Feuerland geflogen sein.«
Gene fuhr sich mit der Hand über seine Bartstoppeln. »Ich glaube aber nicht, dass Peter Harrison freiwillig mitgeflogen wäre.«
»Kennst du ihn wirklich so gut?«
»Sharon, seine Freundin, hat mir viel über ihn erzählt. Es passt nicht zu ihm, dass er sich ins Ausland absetzt. Er hat das Kinderzimmer eingerichtet. Klingt das nach einem Drogendealer, der sich absetzen will?«
»Und wenn er nur zufällig in die Sache hineingeschlittert ist?«
Gene überlegte. Ryans Worte hatten etwas für sich.
»Ich brauche noch einmal deine Hilfe«, sagte er schließlich. »Ich muss wissen, auf wen das Kennzeichen PQZ 26L aus Miami zugelassen ist. Es ist ein schwarzer Blazer.«
»Hängt das mit dem Fall zusammen?«
Gene nickte.
Ryan verzog die Mundwinkel. »Also gut, diese eine Sache noch, aber dann bin ich draußen. Ich habe keine Lust mehr, in meinem Alter wieder auf Streife zu gehen.«
»Versprochen«, antwortete Gene.
Die Siedlung Corrupira am Rio Jatapu, Amazonasgebiet
Überall erwartete sie nur der Tod. In jeder Hütte und selbst in dem großen Gebäude, das offenbar eine Bar gewesen war. Überall nur Leichen. Siebenundzwanzig Männer und zwei Frauen. Die Frauen lagen in den oberen Zimmern der Bar. Die Hitze und die hohe Luftfeuchtigkeit hatten den Verwesungsprozess beschleunigt. Dennoch wies keine der Leichen sichtbare äußere Verletzungen auf. Keine Schusswunden, keine Stichverletzungen und keine Spuren eines Kampfes. Die Menschen hatten sich in die Betten oder in die Ecken ihrer einfachen Hütten verkrochen und waren einfach gestorben. Sie waren einem unsichtbaren Feind erlegen, der sie gnadenlos dahingerafft hatte.
»Wir verschwinden hier!«, sagte der Cabo entschlossen. Draußen legte sich langsam die Dämmerung über die Baumkronen.
Sie ruderten eilends zurück zum Patrouillenboot, wo sie der Kommandant erwartete.
»Überall nur Tote«, berichtete der Cabo atemlos, nachdem er an Bord geklettert war. »Keine Kampfspuren. Sie sind einfach an irgendetwas gestorben.«
»Vielleicht wurden sie vergiftet oder haben verseuchtes Wasser zu sich genommen?«, antwortete der Kommandant.
»Das wäre möglich. Es waren zweifellos Lenhadores. Illegale Holzfäller, die sich hier am Fluss niedergelassen hatten.«
»Wir haben hier keine Funkverbindung. Wir fahren hinauf nach Brás und setzen eine Meldung ab. Sofern die Telefone dort funktionieren.«
»Wir sollten die Siedlung niederbrennen, und die Leichen müssen ebenfalls verbrannt werden«, antwortete der Cabo.
»Dazu sind wir nicht ausgestattet. Wir müssen Verstärkung rufen, in zwanzig Minuten ist es stockdunkel.«
»Dann sollten wir die Ärztin in der Station in São Sebastião informieren. Ich denke, das hier wird sie interessieren.«
»Das können wir alles machen, aber zuerst müssen wir einen Hafen ansteuern, und Brás liegt am nächsten.«
Der Cabo nickte. Ein paar Minuten später schoss das Patrouillenboot in Richtung Norden davon. Die Dämmerung dauerte nicht lange, bis schließlich eine unheilvolle Dunkelheit anbrach. Die Siedlung blieb im Schatten der Nacht zurück.