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4 Brás am Rio Jatapu, Amazonasgebiet
ОглавлениеDie belgische Expeditionsgesellschaft war gegen Morgen, als die Sonne den Nebel vertrieben hatte, von Brás aufgebrochen, um dem verschlungenen Flusslauf des Rio Jatapu nach Süden zu folgen.
Die drei belgischen Naturforscher wurden von erfahrenen Ribeirinhos begleitet. Ureinwohnern, die schon seit Generationen am Fluss lebten und jeden Abschnitt dieses Flusslaufes wie ihre Westentasche kannten. Am Ende der Trockenzeit waren die ufernahen Schwemmgebiete an den Flüssen, Várzeas genannt, nahezu leergelaufen. Erst wenn die großen Ströme aus dem Westen im Oktober wieder Unmengen an Wasser dem mächtigen Amazonas zuführten, würde aus großen Teilen des Regenwaldes wieder ein einzigartiger großer See werden und das Leben in die Pflanzen zurückströmen. Und diese Zeit stand unmittelbar bevor, denn die ersten heftigen Stürme kündeten bereits vom Beginn der Regenzeit.
Die drei Langboote folgten den Schleifen des Rio Jatapu. Das nächste Ziel der Reise, São Sebastião, lag zwar nur knapp siebzig Kilometer Luftlinie entfernt, doch der Fluss schlängelte sich derart durch das Land, dass tatsächlich beinahe einhundertzwanzig Kilometer auf dem Wasser zurückzulegen waren.
Nur einmal verharrte die kleine Expedition auf dem strömungsarmen Wasserlauf, als ein paar Botos, graue Süßwasserdelfine, ihren Weg kreuzten. Beinahe zweihundert Fotos schossen die Belgier, ehe die Botos offenbar keine Lust mehr auf ein weiteres Fotoshooting verspürten und in die dunklen Fluten abtauchten. Einer der Ruderer hatte die Gelegenheit zum Fischen genutzt und zur Freude aller Expeditionsteilnehmer einen großen Tucunaré gefangen. Der wohlschmeckende Fisch wog beinahe zehn Kilo und würde den Speiseplan am heutigen Abend angenehm bereichern.
Sie setzten ihre Fahrt fort und folgten einer weiteren Schleife des Flusses, als plötzlich nach leichten Stromschnellen ein paar Hütten am bewaldeten Flussufer auftauchten. Die Ribeirinhos, die das erste Boot steuerten, schenkten den Hütten keine weitere Beachtung. Nur kurz tuschelten sie miteinander.
»Was sagen sie?«, fragte einer der belgischen Forscher seinen Kollegen, der die Sprache der brasilianischen Flussbewohner einigermaßen verstand.
»Cangaceiros«, wiederholte der belgische Expeditionsleiter. »Sie meinen, das ist das Camp von Banditen.«
»Banditen?«
»Holzräuber«, bestätigte der Expeditionsleiter. »Die brasilianische Holzmafia ist hier beinahe genauso gut organisiert wie die Mafia bei uns in Europa. Sie schlagen Edelhölzer wie das Pau Brasil und Jacarandá oder roden ganze Urwaldflächen für die Fazendeiros, die darauf ihre Tiere grasen lassen oder Früchte anbauen. Der Boden hier gibt nicht viel her, spätestens nach zwei Jahren ist er ausgelaugt, und es wächst kein Korn mehr darauf. Dann ziehen die Bauern weiter und beackern neue Flächen. Man sollte denken, dass es hier überall fruchtbar ist, aber das stimmt nicht. Landwirtschaft ist eigentlich nur auf ganz kleinen Flächen möglich, wo es die sogenannte Terra preta, die schwarze Erde, gibt.«
»Dazu kommen noch unzählige Garimpeiros, illegale Goldsucher, die den Urwald im Norden durchstreifen«, mischte sich der einheimische Ruderer ein.
Sie passierten die Ansammlung von Hütten und ließen den kleinen Palmenwald hinter sich, als sie plötzlich am Ufer mehrere reglose Körper erspähten, die im brackigen Wasser trieben.
»Um Gottes willen!«, rief einer der Expeditionsteilnehmer aufgeregt. Sieben männliche Leichen, zum Teil mit nacktem Oberkörper, trieben im Fluss. Ein süßlicher Verwesungsgeruch lag in der Luft.
»Was ist da bloß passiert?«, fragte der Expeditionsleiter einen Ruderer.
»Hier gab es eine illegale Siedlung«, antwortete er. »Entweder war die Militärpolizei hier, oder es gab einen Kampf mit einer anderen Bande. Wir müssen hier verschwinden. Es ist nicht gut, wenn man uns sieht.«
Die Ruderer legten sich ins Zeug, und die drei Boote nahmen rasch Fahrt auf.
»Aber wir können die Toten doch nicht einfach hier zurücklassen«, protestierte der Expeditionsleiter. »Was ist, wenn an Land noch jemand am Leben ist?«
Einer der Bootsführer schüttelte den Kopf. »Wenn man uns hier sieht, dann treiben bald unsere toten Körper im Wasser. Hier im Wald gibt es kein Gesetz, hier ist jeder sich selbst der Nächste. Und solche Kämpfe gibt es immer wieder, wenn sich die Banden um ertragreiche Plätze streiten. Und jetzt rudert, wenn ihr heute noch nach São Sebastião kommen wollt!«
Der Expeditionsleiter holte tief Luft, dann stieß er die Ruder mit aller Kraft in das Wasser. Seinen stillen Protest schluckte er einfach hinunter.