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Begrenztheit und Offenheit
ОглавлениеMeine eigene musikalische Sozialisation war hauptsächlich von »klassischer« Musik geprägt und damit recht begrenzt. Diese Begrenztheit ist trotz mancher Ausweitungen lebenslang bestimmend geblieben. Ich konnte sie öffnen, aber nie wirklich überwinden.
Natürlich habe ich mitbekommen, was sich seit Ende der 1950er Jahre im Rock ’n’ Roll tat, wie sich Beat, Rock, Folk und Jazz entwickelten. Meine Freunde begeisterten sich für bestimmte Richtungen und Bands, identifizierten sich mit ihnen und fühlten sich als Teil der Jugendkultur, deren Lebensgefühl die jeweilige Musik war. Ich hörte beiläufig Pop, aber meine eigentliche musikalische Welt war die Musik von Bach bis Debussy und Ravel – viel weiter reichte mein damaliger Horizont nicht. Diese Musik konnte ich bald selbst spielen und in den vielen Konzerten in meiner Heimatstadt Mülheim/ Ruhr hören. Anders als vielleicht zu erwarten, geriet ich mit »meiner« Musik nicht ins soziale Abseits. Meine ihr eher fernstehenden Freunde respektierten meine Begeisterung, sie wussten, was mir das Klavierspiel bedeutete, und auch Bewunderung schwang mit, wenn sie mich spielen hörten. Was wäre gewesen, wenn in meinem Freundeskreis jemand Popmusik gespielt oder gesungen, eine Band gegründet und mich aufgefordert hätte, mitzumachen? Was hätte sich ergeben, wenn ich nicht privat, sondern an der städtischen Musikschule Unterricht erhalten hätte? Vielleicht wäre ich dadurch auch in andere musikalische Biotope hineingekommen?
Kammermusik mit meinem älteren Bruder und diversen Freunden erweiterten den Radius meines Musizierens und führten zu neuen Freundschaften, sodass ich am Klavier nicht einsam blieb. Das riesige, unerhört reichhaltige Repertoire der Klavier- und Kammermusikliteratur erzeugte fortwährend Lust, Neues zu erschließen, und ließ mich doch einsehen, wie begrenzt meine Auswahl und meine Kenntnisse bleiben würden.
Im Studium, besonders in musikwissenschaftlichen Lehrveranstaltungen, lernte ich mir bis dahin weitgehend unbekannte Musik kennen: verschiedene Richtungen Neuer Musik vor allem, auch Musik des Mittelalters und der Renaissance. Besuche in Donaueschingen, »Musica viva«-Konzerte in Freiburg, Mitwirkung bei Hochschulkonzerten mit Neuer Musik brachten neue Erfahrungen. Sehr anregend waren Gruppenimprovisationen mit Kommilitonen. Es faszinierte mich, eingebunden zu sein in ein adhoc entstehendes musikalisches Geschehen, Mitspieler spüren zu lassen, dass ich ihre Impulse wahrnehme, gleichermaßen musikalisch und sozial zu kommunizieren.
An Intensität und persönlicher Bedeutung aber blieben diese Aktivitäten doch hinter den immer neuen Erkundungen und Eroberungen des »klassischen« Repertoires zurück, das im Mittelpunkt des Klavierstudiums stand. Klavierüben, Proben und Spielen von Kammermusik in verschiedenen Besetzungen, nicht zuletzt Liedbegleitung nahmen breiten Raum ein und sind mir bis heute unverzichtbare Bedürfnisse. In dieser Musikpraxis bin ich musikalisch zu Hause. Andere Praxisfelder sind letztlich weiter abliegende Regionen geblieben. Hauptsächlich habe ich mich mit ihnen beschäftigt, um auf dem Laufenden zu bleiben, nicht zuletzt auch, um zumindest ein wenig von dem zu kennen, was Studierenden neben dem klassischen Repertoire wichtig ist, was sie auch betreiben wollen, ihnen aber oft im Studium vorenthalten bleibt. Ein paar Stunden Klavierimprovisation bei meinem ehemaligen Kollegen und Freund Herbert Wiedemann machten mir klar, dass dies nicht wirklich mein »Metier« ist und meine Anstrengungen nicht weit führen würden. Auch habe ich bestimmte musikpraktische Techniken geübt, weil sie zum musikpädagogischen Handwerk gehören (z. B. Bodypercussion und Solmisation). Begeisterung haben solche Bemühungen allerdings kaum je geweckt. In späteren Jahren habe ich Horn gelernt, um auch im Musizieren etwas über das Klavier hinauszukommen. Durch mehrere China-Aufenthalte entstand Interesse an traditioneller und aktueller chinesischer Musik.
Eine erhebliche Erweiterung meiner Repertoirekenntnisse ergab sich, als ich nach meiner Promotion in Musikwissenschaft ein Jahr als Redakteur im Bereich »Sinfonie und Oper« beim damaligen Südwestfunk in Baden-Baden arbeitete und danach weitere sieben Jahre als freier Mitarbeiter dieses Senders regelmäßig Sendungen mit Besprechungen neuer Schallplatten moderierte. Der Wortanteil der Sendungen war beträchtlich, sodass ich relativ differenziert auf die einzelnen Aufnahmen eingehen konnte. Ich beschäftigte mich gründlich mit den von mir zusammengestellten Stücken, und bei der Kritik war mir wichtig, den Hörern interpretatorische Qualitäten oder Defizite nicht geschmäcklerisch, sondern mit den Ansprüchen der jeweiligen Musik zu begründen. Durch diese Arbeit lernte ich Fähigkeiten im Gebiet, das später »Musikvermittlung« genannt wurde. Allerdings führten mich auch diese Erweiterungen von Kenntnissen und Fähigkeiten letztlich nicht über den Horizont der abendländischen Kunstmusik hinaus. Musik aus anderen Kulturen, die Vielfalt des Jazz, der mich oft fasziniert, blieben Randbereiche.
Die Begrenztheit meiner Potenziale zur Identifizierung mit diversen Musiken habe ich in der Lehre immer wieder als Hypothek empfunden. Mit ihr konnte ich mein Ideal, viele Fenster zu vielen Musiken hin zu öffnen, nur partiell authentisch verwirklichen. Weitgehend blieb meine musikpädagogische Beschäftigung mit Musikstücken bzw. deren Einbeziehung in musikpädagogische Zusammenhänge auf mir näherstehende Musikrichtungen beschränkt (freilich mit Einbeziehung des Repertoires verschiedener Instrumente, die die Studierenden spielten) sowie auf Improvisationsübungen in Gruppen. Ich lernte, mich zu meinen Grenzen zu bekennen, und vor allem das zu tun, was ich gut konnte. Mir schien, dass Studierende von dieser Authentizität mehr profitieren als von angestrengten, möglicherweise bemüht wirkenden Grenzüberschreitungen.
Begeisterung ist ein hoher Wert, sie zieht andere mit. Wenn Studierende mir unvertraute Musik in den Unterricht einbrachten, wechselte ich meine Rolle, verzichtete auf Instruktion und verlegte mich darauf, mitzulernen, Fragen zu stellen und von meiner Warte aus mögliche Anregungen zu geben. Ich ehrte die Kompetenz, die die Studierenden mir voraushatten. Vielleicht kam durch dieses Verhalten, mich in einer nicht geläufigen Musikpraxis vor allem als Fragender zu bewegen, doch das eine oder andere in Gang – auch bei Studierenden, die in dieser Praxis zu Hause waren. Nur so kann ich mir erklären, dass manche Jazz-Studierende mir Jahre später sagten, wie sehr ihnen diese und jene Lehrveranstaltung, in die sie »ihre« Musik eingebracht hatten, gefallen hätte und dass sie dort viel gelernt hätten.