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b) Letztes Ziel und bestes Gut (1094a18–b11)

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Die Rangordnung von Zielen und technai legt die Frage nach einer Spitze der Hierarchie nahe. Während Aristoteles bisher mit dem Begriff des Guts (agathon) operiert hat, wird jetzt der Superlativ ariston (das Beste, das vollkommen Gute, das höchste Gut), bestes Gut11 eingeführt. Die Einführung erfolgt in einem ersten Schritt für das individuelle Handeln (a18–24) und in einem zweiten Schritt für die technē (a24–b11). Dieser zweite Schritt setzt unmittelbar den bisherigen Gedankengang fort und sei daher vorgezogen. Aristoteles wirft dort die Frage auf, was das beste Ziel ist und welcher Fähigkeit es zugehört. Diese letztlich leitende Instanz ist die Politik; sie ordnet an, welche Wissenschaften und technai in der Polis gebraucht werden, wer sie in welchem Grad erlernen soll, wofür sie eingesetzt werden sollen usw. Das Ziel, das sie dabei im Auge hat, ist das Gut für den Menschen (anthrōpinon agathon), das im Grunde für Individuum und Polis dasselbe ist. Dieses stellt ein Gut ganz anderer Art dar als die Güter, die die jeweiligen technai verfolgen; es ist nicht ein Gut, das für manche in der Polis nützlich ist, sondern ein Gut, das auf die Frage antwortet, welche Ziele in welchem Maß und in welcher Anordnung für den Einzelnen und die Polis überhaupt zu erstreben gut ist.

Warum die Frage nach diesem letzten Ziel oder besten Gut unausweichlich ist, macht Aristoteles aus der Beschaffenheit des individuellen Wollens heraus plausibel (a18–24). Dabei ist jetzt die Rede nicht mehr von Handlungsbereichen und deren interner Ordnung und Rangordnung; argumentiert wird vielmehr aus der Wir-Perspektive handelnder Menschen: Wenn es ein Ziel der Handlungen gibt, das wir um seiner selbst willen wollen und das andere um seinetwillen, und wenn wir nicht alles um eines anderen willen wollen, dann ist klar, dass dieses Ziel das beste Gut ist. Obwohl der Satz hypothetisch formuliert ist, will Aristoteles nahe legen, dass es in der Tat ein bestes Gut gibt. Die Begründung lautet, ohne ein solches Ziel gehe das Streben ins Unendliche, sei leer und vergeblich. Fragen wir uns, was der genaue Sinn dieser Begründung ist und ob sie überzeugt.

Es leuchtet ein, dass das Wollen leer läuft, wenn wir auf jede Frage „Warum tust du dies?“ antworten können „Um jenes zu erreichen“, und so immer weiter. Doch um das Problem der Leere des Wollens zu beseitigen, scheint es zu genügen, dass es überhaupt Endpunkte des Wollens gibt, ohne dass es genau einer sein muss. Verschiedene Handlungsketten könnten ja bei verschiedenen Endpunkten zum Stehen kommen, die wir um ihrer selbst willen wünschen. Warum also ein letztes Ziel? Aristoteles verweist auf die Wichtigkeit eines solchen Ziels im Leben des Individuums: es ermögliche uns wie Bogenschützen, die ihr Ziel vor Augen haben, das Richtige zu treffen. Im parallelen Zusammenhang in der EE sagt Aristoteles (1214b10ff.), sein Leben nicht auf ein letztes Ziel hinzuordnen, sei ein Zeichen von großem Unverstand. Das zeigt, dass die Annahme eines letzten Ziels normativ oder praktisch begründet ist, einen vernünftigen Ratschlag für ein gutes menschliches Leben enthält. Aber worin besteht die Begründung?

Nehmen wir an, es gibt im Leben einer Person drei Ziele, die sie um ihrer selbst willen erstrebt, beispielsweise Ehre, Reichtum und Bildung. Damit ihr Streben nicht ins Leere läuft, würde es genügen, dass sie ein oder zwei dieser Ziele oder auch alle drei unverbunden realisiert. Da jedoch eine Person als einheitlicher Organismus ein Leben in der Zeit vollzieht und Überlegungsfähigkeit besitzt, steht sie vor der Frage, wie sie die verschiedenen Ziele anordnet, welchem Ziel sie welches Gewicht und welchen zeitlichen Aufwand einräumt usw. Auch wenn die Konfrontation mit dieser Frage nicht absolut zwingend ist, ist es zumindest plausibel zu sagen, dass sich für ein Wesen, dessen Überlegungsfähigkeit die verschiedenen Strebensinhalte übergreift, die Frage nach ihrer Ordnung stellt. Dann aber verfolgt die Person, auch wenn sie mehrere gleichrangige in sich erwünschte Ziele hat, ein letztes Ziel, das Ziel nämlich, die geordnete Menge der drei genannten Ziele zu realisieren.12

Das führt zu einer weiteren strittigen Interpretationsfrage. Man könnte das letzte Ziel des Strebens so verstehen wie gerade erläutert, dass es deswegen um seiner selbst willen gewollt wird und das Streben zum Stehen bringt, weil es alle anderen Ziele enthält. So sagt Aristoteles von der Politik, ihr Ziel, das Gut für den Menschen, umfasse alle anderen Ziele (1094b6). Andererseits legen die Ausführungen über die Rangordnung der technai (1094a9–18) und der Vergleich mit dem Bogenschützen ein hierarchisches Modell der Güter nahe. Unter dieser Interpretation müsste die Person, die Ehre, Reichtum und Bildung als Ziele verfolgt, entscheiden, welches von diesen für sie das höchste ist (EE 1214b8). Nehmen wir an, sie sehe das höchste Gut, das sie in ihrem Leben insgesamt realisieren will, in der Ehre, so müsste sie die Ziele Reichtum und Bildung dem Wunsch nach Ehre unterordnen, sie also nur in dem Maß erstreben, als sie Mittel sind, die die Erreichung des letzten Ziels fördern.

Die Debatte darüber, welche dieser beiden Auffassungen vom letzten Ziel der Text stützt, ist angestoßen worden von Hardies Aufsatz „The Final Good in Aristotle’s Ethics“. Hardie bezeichnet die zuerst erläuterte Konzeption als inklusive, die zweite als dominante, und er wirft Aristoteles vor, er vermische diese beiden Konzeptionen vom letzten Ziel oder besten Gut. Vorläufig finden sich in der Tat für beide Konzeptionen Hinweise im Text. Welche von beiden die richtige ist oder ob Aristoteles vielleicht etwas anderes Drittes meint, können wir erst auf der Grundlage der folgenden Abschnitte und endgültig erst anhand von Buch X entscheiden.

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