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c) Die Arten der menschlichen aretē (I 13)
ОглавлениеDas menschliche Gut, die eudaimonia, besteht in der Tätigkeit der menschlichen Seele gemäß der ihr eigentümlichen aretē. Um die menschliche aretē oder die verschiedenen menschlichen aretai aufzufinden, müssen daher die typischen menschlichen Tätigkeiten herausgestellt werden. Das geschieht in I 13 anhand der Beschreibung der Teile der menschlichen Seele, der einige Bemerkungen über Politik und Psychologie vorangestellt sind. In unausgesprochener Entgegensetzung zu Platon betont Aristoteles, gesucht sei das menschliche Gut und die eudaimonia des Menschen, deren Sicherung Aufgabe der Politik ist (1102a5–a26). Die Bestimmung der eudaimonia als Tätigkeit der Seele gemäß der menschlichen aretē sieht Aristoteles dadurch bestätigt, dass der Politiker sich primär um die aretē der Bürger bemüht. Das setzt voraus, dass er ein Wissen von der Seele, also die nötigen psychologischen Kenntnisse hat (1102a26–32).
Aristoteles verweist, was die Bestimmung der Seele angeht, zunächst auf die sog. exoterischen Schriften, vermutlich die populären Texte.40 Dort findet sich die Unterscheidung in einen vernunftlosen und einen vernunftbegabten Teil der Seele. Wie Aristoteles betont, braucht die Rede von Teilen nicht so verstanden zu werden, dass es sich um in der Wirklichkeit Trennbares handelt. Die Seele ist für die Griechen kein Ding mit Teilen, sondern das Ganze der Lebensfähigkeiten, das Lebensprinzip des Körpers (im einfachsten Fall der Pflanze z.B. der Stoffwechsel). Die Teile sind nur begrifflich trennbar; es handelt sich um verschiedene Aspekte des Lebensprinzips eines Lebewesens.41
Die Einteilung der menschlichen Seele (1102a32ff.) lässt sich durch das folgende Schema darstellen:
Das Vermögen der Ernährung und Fortpflanzung (1102a32–b12). Aristoteles beginnt mit dem vernunftlosen Teil der menschlichen Seele, und hier demjenigen Teil, den wir mit den Pflanzen gemeinsam haben, dem Ernährungs- und Fortpflanzungsvermögen, der vegetativen Seele. Dieser Teil der Seele arbeitet auch im Schlaf, setzt also kein Bewusstsein voraus, weshalb er nicht zu den spezifisch menschlichen Aspekten der Seele gehören, seine aretē also nicht die gesuchte menschliche aretē sein kann.
Das Strebevermögen (1102b13–1103a1). Die zweite Stufe der Seele, das Vermögen des Strebens und der Bewegung, schreibt Aristoteles in anderen Abhandlungen auch den Tieren zu. Es enthält alle Antriebe (Begierden, Wünsche usw.) und Affekte. Beim Menschen liegt dieses Vermögen in einer besonderen Form vor. Es ist zwar selbst vernunftlos, aber anders als der vegetative Seelenteil in der Lage, sich nach der Vernunft zu richten. Entsprechend wird es am Ende von I 13 nochmals angeführt und diesmal von der anderen Seite als Teil des Vernunftvermögens eingeordnet (1103a2).42 Erläutert wird die Stellung des Strebevermögens am Beispiel des Beherrschten und Unbeherrschten, in dem die Strebungen und Affekte gegen die Vernunft kämpfen, während sie sich beim guten Menschen in Einklang befinden (1102b28). Dass hier der Sonderfall des Konflikts zur Grundlage der Darstellung gemacht wird, könnte daran liegen, dass sich im Fall des Widerstreits leichter sehen lässt, dass zwei verschiedene Seelenteile im Spiel sind, dass es also sinnvoll ist, diese zwei Aspekte der Seele begrifflich zu trennen.43
Das Vernunftvermögen (1103a1–3). Das Vernunftvermögen wird nur kurz erwähnt. Ihm schreibt Aristoteles ebenfalls zwei Aspekte zu, einmal den vernünftigen Seelenteil im engeren Sinn, sodann das Strebevermögen, sofern es der Vernunft zu folgen vermag.
Ziel des Textstücks war von Anfang an die Herausarbeitung der Formen der menschlichen aretē (1103a3–10). Die spezifische menschliche aretē besteht in der guten Verfassung und Betätigung der spezifisch menschlichen Seelenteile. Als spezifisch menschlich erwies sich der vernünftige Seelenteil, und zwar dieser im engeren Sinn sowie das Strebevermögen, sofern es der Vernunft gemäß sein kann. Folglich gibt es zwei Arten menschlicher aretē, die des Vernunftvermögens selbst, die so genannten dianoetischen aretai, und die des Strebevermögens, die so genannten ethischen aretai. Letztere, die aretai des Charakters, sind Thema in den nun folgenden Büchern II–V, erstere, die intellektuellen aretai, in Buch VI.