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c) Die eudaimonia als das beste Gut (I 2–5)

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(i) Die Einführung des eudaimonia-Begriffs (I 2, 1095a14–30). Während die EE unmittelbar mit der Frage nach der eudaimonia beginnt, setzt Aristoteles in der EN für das letzte Ziel oder beste Gut erst an dieser Stelle die eudaimonia (Glück, Glückseligkeit) ein. Der Ausdruck eudaimonia entspricht in seiner Bedeutung nicht genau unserem Begriff des Glücks. Nicht nur ist das deutsche Wort „Glück“ zu blass; es lässt sich außerdem sowohl für das innere Glück wie für den glücklichen Zufall verwenden, während die Griechen für Letzteres ein eigenes Wort, eutychia, haben. Was eudaimonia bedeutet, macht die Erläuterung deutlich, die Aristoteles nachreicht, dass es nämlich um das eu zēn kai prattein (Gut-Leben und Sich-Gut-Verhalten, gutes Leben und gutes Handeln, Gut-Leben und Sich-Gut-Gehaben), das „gut leben und gut handeln“ gehe. Beide Ausdrücke bedeuten, dass es einer Person in ihrem Leben gut geht, wobei der zweiteilige Ausdruck wohl deutlich machen soll, dass das Wohlergehen nicht nur ein passives Sich-Befinden ist, sondern auch eine aktive, handelnde Seite hat.13 Damit ein menschliches Leben eudaimonia aufweist, muss es in allen Hinsichten und, wie wir sehen werden, auch in seiner ganzen Dauer gelingen.

Ist die Gleichsetzung von eudaimonia und bestem Gut zwingend, und wenn ja, warum erwähnt Aristoteles in der EN die eudaimonia erst jetzt? Die Gleichsetzung wird begründet mit dem Hinweis, dass alle das letzte Ziel der Politik und das beste der durch Handeln realisierbaren Güter in der eudaimonia sehen (a18). Aristoteles erklärt jedoch diese Übereinstimmung für eine bloß verbale, während über den Inhalt der eudaimonia Meinungsverschiedenheiten bestünden. Dann scheint der Ausdruck eudaimonia einfach dieselbe Rolle zu spielen wie der Begriff des besten Guts. Das ist jedoch nicht der Fall. Der Begriff des besten Guts ist ein formaler Begriff, der unabhängig von inhaltlichen Überlegungen anzeigt, an welcher Stelle das Gesuchte innerhalb des größeren Rahmens der Begriffe des Ziels, des Guts, des Strebens, der technē usw. steht. Mit diesem Begriff zu beginnen, hat also den Vorteil, dass auf diese Weise das Gesuchte begrifflich verortet wird.14 Der Ausdruck eudaimonia bezeichnet demgegenüber eine inhaltlich bestimmte Weise des Lebens, auch wenn dieser Inhalt von verschiedenen Menschen verschieden bestimmt wird (a20–30) und daher vorläufig nicht vorausgesetzt werden kann.15 Dass es die eudaimonia ist, was im Streben der Menschen den Stellenwert des besten Guts hat, liegt nicht offensichtlich im Begriff der eudaimonia, sondern muss erst gezeigt werden (siehe I 5, unten (iv)).

(ii) Die drei wichtigsten Lebensformen (I 3). Die bereits in 1095a20–30 aufgezählten verschiedenen Vorstellungen von eudaimonia werden in I 3 kurz erläutert. Worin die Menschen die eudaimonia sehen, kann man den Lebensweisen entnehmen. Dabei zeigen sich drei Grundtypen, das Leben der Lust, das politische und das betrachtende Leben. (Eine weitere Lebensweise, die Aristoteles am Ende des Textstücks erwähnt, das Leben des Gewinnstrebens (1096a5–10), wird nicht mitgezählt, weil der Reichtum als Mittel und nicht um seiner selbst willen erstrebt wird.)

Das Leben der Lust (1095b16f., 19–22), welches die große Menge der Ungebildeten sucht, kritisiert Aristoteles als sklavisch. Wir werden später sehen, dass diese Kritik auf einer Vereinfachung beruht, weil sie nur eine bestimmte primitive Vorstellung von Lust betrifft. Aristoteles selbst wird auf andere Arten der Lust hinweisen und den wesentlichen Zusammenhang zwischen eudaimonia und Lust herausarbeiten.

Das politische Leben (1095a22–1096a4) wird von Aristoteles zunächst ebenfalls in der gängigen Auffassung beschrieben, wobei er allerdings diese Konzeption schon hier korrigiert. Nach der üblichen Vorstellung hat das politische Leben die Ehre zum Ziel. Aristoteles kritisiert diese Vorstellung als abgeleitet, mit zwei Gründen: Erstens liegt die Ehre mehr im Ehrenden, wird dem Geehrten also von außen zu teil, während das gesuchte Gut etwas der Person Eigenes und Unverlierbares sein soll. Der zweite Grund besteht darin, dass die wohlverstandene Ehre ihre Grundlage nicht im bloßen Faktum des Geehrtwerdens hat, dass man vielmehr geehrt werden will, weil man gut ist, weil man die aretē besitzt und ausübt. Als das eigentliche Ziel des politischen Lebens erweist sich daher die aretē.

Aristoteles fügt zwei weitere Qualifikationen an, die das Leben der aretē als Inhalt der eudaimonia betreffen, einmal dass es um die Betätigung der aretē und nicht um ihr bloßes Besitzen gehe, sodann dass auch der, der die aretē besitze, in äußeres Unglück geraten könne. Der erste dieser Punkte wird in I 6 weitergeführt (unten 2.), mit dem zweiten befassen sich ausgiebig die Texte I 8–12 (3.).

Das Leben der theōria (1096a4–5), welches die dritte Lebensform bildet, wird hier nur erwähnt. In Buch X werden wir erfahren, dass es die höchste Form der eudaimonia darstellt (Kapitel X).

(iii) Die Kritik an Platons Idee des Guten (I 4). Die Beschäftigung mit Platon beginnt ohne Anbindung an das Vorherige, dient jedoch in I 5 als Folie für die weitere Überlegung. Da der Text ohne eine Kenntnis der platonischen Ideenlehre und der aristotelischen Metaphysik schwer zu entschlüsseln ist, seien hier nur die Kernthesen genannt, die für das Folgende benötigt werden. Platon nimmt, sehr vereinfacht gesagt, an, dass es eine einzige und von der Erfahrungswirklichkeit losgelöste Idee des Guten gibt, dass nur diese Idee vollkommen und andauernd gut ist und dass alle anderen Güter durch die Teilhabe an dieser Idee näherungsweise gut sind. Aristoteles bestreitet nun erstens, dass eine gemeinsame Idee des Guten das Gutsein aller Güter erfassen kann. Vielmehr ist vom Guten in verschiedenen Kategorien die Rede. Aristoteles unterscheidet in seiner theoretischen Philosophie Kategorien des Seienden. Die erste Kategorie ist die der selbständigen Dinge, die anderen Kategorien enthalten Eigenschaften von Dingen, Relationen zu Dingen usw., die immer einen – je nach Kategorie verschiedenen – Bezug auf die Dinge der ersten Kategorie haben. Für „gut“ soll nun ebenso wie für „seiend“ gelten, dass es in verschiedenen Kategorien ausgesagt wird. Angenommen wir nennen den Reichtum ein Gut und die aretē ein Gut, dann heißt das nicht, dass beiden dieselbe Eigenschaft des Gutseins zukommt, sondern es heißt, dass beide auf verschiedene Weise auf eines hin ausgesagt werden (pros hen). Wenn dieses eine auch hier ein Gutes der ersten Kategorie sein soll, müssten wir sagen, dass es der gute Mensch ist; die aretē wäre auf diesen bezogen, indem sie eine Eigenschaft von ihm ist, der Reichtum, indem er ein Mittel zum Gutsein ist.

Der zweite und dritte Kritikpunkt sind einfacher. Eine von der Erfahrungswelt losgelöste Idee des Guten können wir als Menschen nicht realisieren, während wir doch gerade das prakton agathon suchen, das Gut für den Menschen, das durch Handeln erreichbar ist (1096b32ff.). Selbst als idealer Orientierungspunkt für diese Suche sei die Annahme einer losgelösten allgemeinen Idee des Guten nicht brauchbar, da sich niemand, der ein Gut in einem bestimmten Handlungsbereich, etwa einer technē, verwirklichen wolle, an einer solchen allgemeinen Idee ausrichte (1097a5ff.).

(iv) Die eudaimonia erfüllt die Anforderungen, die der Begriff des besten Guts enthält (I 5). Aristoteles knüpft in I 5 an die Ausführungen in I 1 an, wo er die Vielheit der menschlichen Unternehmungen, die durch je eigene Ziele definiert sind, betont hat. Wie in I 1 wird die Frage, ob es ein letztes Gut gibt, zunächst aus der Struktur der technē usw. heraus gestellt, sodann aus der Perspektive des handelnden Wir präzisiert (1097a25ff.).

Wenn es viele Ziele gibt, wir aber manche Ziele nur um anderer willen erstreben, dann sind diese, wie Aristoteles sagt, nicht teleion (Endziel, vollendet, vollkommen). Obwohl das Wort teleion je nach Kontext alle in der Klammer genannten Bedeutungen haben kann, sind diese hier nicht passend, weil man sie nicht steigern kann. Aristoteles führt das Wort in I 5 in einem speziellen Sinn ein, der die Steigerung zulässt. In dem Adjektiv teleion steckt telos, „Ziel“, und es charakterisiert dann einfach Ziele hinsichtlich ihrer Zielhaftigkeit.16 Diese müsste gemäß I 1 und Anfang von I 5 darin bestehen, dass etwas um seiner selbst willen gewollt wird und dadurch das Streben erfüllt.

An das beste Gut stellt Aristoteles die Anforderung, dass es absolut zielhaft sein muss. Sollte es mehrere Ziele geben, die wirklich zielhaft sind, dann müsste das gesuchte Gut für den Menschen dasjenige von ihnen sein, das am meisten zielhaft ist. Aristoteles expliziert nun die Zielhaftigkeit in ihren Stufen und zeigt, dass sie in der höchsten Form genau von der eudaimonia erfüllt wird. Dasselbe führt er in einem zweiten Schritt für die Bedingung der Autarkie durch.

Die Bedingung des teleion (1097a30–b6). B ist zielhafter als A, wenn A nur di’ heteron (um anderer Ziele willen, eines anderen wegen, als Mittel) erstrebenswert ist, B dagegen auch kath’ hauto (um seiner selbst willen, seiner selbst wegen, für sich) als Ziel gewählt werden könnte (zum Beispiel ist Lust zielhafter als Reichtum, weil Reichtum nur um der Lust oder anderer Güter willen gewollt wird, die Lust aber in sich wünschenswert ist). C wiederum ist zielhafter als B, wenn C nie um eines anderen willen erstrebt wird, während B sowohl für sich selbst gewünscht wie auch um eines anderen willen gesucht werden kann (die eudaimonia ist zielhafter als die Lust, weil sie nur selbst Ziel ist und nie wegen etwas anderem erstrebt wird, während man die Lust zwar einfachhin, aber auch wegen der eudaimonia suchen kann). Das schlechthin oder im absoluten Sinn Zielhafte ist daher das, was nur um seiner selbst und nie um eines anderen willen gewünscht wird.

Die eudaimonia erweist sich als dasjenige, was diese Bedingung vorzüglich erfüllt. Denn wir erstreben zwar auch Ziele wie Lust oder Vernunft um ihrer selbst willen und unabhängig davon, ob wir einen weiteren Nutzen von ihnen haben, jedoch erstreben wir sie auch um der eudaimonia willen. Umgekehrt aber würde niemand sagen, dass er die eudaimonia um eines dieser anderen Ziele willen erstrebt.17

Die Bedingung der Autarkie (1097b6–b20). Dieselbe Überlegung wird mit dem Kriterium der autarkeia (Selbstgenügsamkeit) wiederholt, wobei Aristoteles die Selbstgenügsamkeit eines Ziels in der Zielhaftigkeit impliziert sieht.18 Das Selbstgenügsame wird bestimmt als das, was für sich allein das Leben lebenswert macht und dem nichts fehlt. Auch hier gilt, dass es die eudaimonia ist, die genau diese Anforderung erfüllt. Das wird bestätigt durch die Hinzufügung, die eudaimonia sei das Wählenswerteste, ohne als ein Gut unter anderen gezählt zu werden. Denn wenn sie so eingereiht würde, dann wäre die Summe aus der eudaimonia und dem kleinsten anderen Gut größer als die eudaimonia allein und somit noch wählenswerter.

Der Sinn dieser Passage ist nicht leicht zu verstehen und dementsprechend strittig. Manche Autoren sehen hierin einen Beleg für die inklusive Konzeption, derzufolge die eudaimonia alles, was wir um seiner selbst willen wollen, umfasst.19 Doch das ist genau genommen nicht, was der Text sagt. Er macht vielmehr die strukturelle Aussage, dass die eudaimonia nicht ein Ziel wie die vielen Einzelziele ist, die Menschen anstreben, sondern auf einer anderen Ebene steht. Sie ist das beste Gut, das die Einheit oder Anordnung der anderen Güter bewirkt, und nicht ein Gut neben anderen, die zusammengezählt werden können. Diese strukturelle These ist ebenso mit der dominanten wie mit der inklusiven Lesart vereinbar. Für die inklusive Interpretation würde folgen, dass die eudaimonia nicht einfach die Summe der Einzelgüter sein kann, weil diese in der Tat durch Addition eines weiteren Guts zielhafter würde, vielmehr eine geordnete Ganzheit von Gütern enthalten muss. Für die dominante Lesart, die das beste Gut als Spitze in einer Rangordnung von Zielen sieht, gilt ähnlich, dass die eudaimonia nicht in einer Reihe mit den untergeordneten Gütern steht.

Aristoteles stellt, so können wir festhalten, die Verbindung der Begriffe des besten Guts und der eudaimonia durch die Bedeutungskomponente der Zielhaftigkeit her, die in beiden Begriffen impliziert ist. Das beste Gut ist trivialerweise absolut zielhaft, nur Ziel, weil es sonst nicht das Beste wäre. Doch aufgrund der Begriffsbedeutung von „zielhaft“ ist nicht auszuschließen, dass es mehrere absolut zielhafte Güter geben kann. Dass es sich beim Gut für den Menschen um ein schlechthin zielhaftes Strebensziel handeln muss, ergibt sich eher, wenn wir vom eudaimonia-Begriff ausgehen. Auch er impliziert die absolute Zielhaftigkeit, das teleion in dem in I 5 verwendeten Sinn; dieses hat aber nun durch die Verknüpfung des eudaimonia-Begriffs mit dem des menschlichen Lebens und seiner Strebensstruktur einen konkreteren Sinn.

Aus dieser Perspektive ist ein Ziel dann absolut zielhaft, wenn es das Leerlaufen des Strebens verhindert, mit anderen Worten, wenn es das Streben eines Menschen insgesamt und auf Dauer erfüllt, sein Leben insgesamt gut macht.20 Und „gut“ heißt hier im Sinn von I 1 wiederum nichts anderes als „erwünscht“ oder „erstrebenswert“; es bedeutet das Gutsein des einen Lebens, das jeweils ein Mensch lebt, in allen Hinsichten und der ganzen Dauer. Man darf daher das Kriterium der Autarkie, auch wenn seine Bestimmung („dem nichts fehlt“) das auf den ersten Blick nahe legt, nicht so lesen, als ob es den Einschluss sämtlicher denkbaren Güter verlangte. 21 Was Aristoteles mit der Autarkie meint, wird deutlicher an der parallelen Stelle in der EE, wo sich die Formulierung findet, wir suchten dasjenige, das, wenn man es erlangt, das Streben erfüllt (1215b18).

Zur Erläuterung der Rede, dass ein Ziel das Streben erfüllt, stellt sich Aristoteles dort vor, man würde uns vor der Geburt bestimmte Übel und Güter anbieten und wir könnten entscheiden, unter welchen Bedingungen wir das Leben und unter welchen das Nicht-Leben vorziehen würden. Wir würden, so seine Antwort, das Leben nicht wählen, wenn uns nur Übel wie Krankheiten erwarteten; auch dann nicht, wenn uns nur Güter angeboten würden, die für uns nicht um ihrer selbst willen erwünscht sind; ebenso wenig, wenn wir auf dem Entwicklungsstand von Kindern bleiben oder das ganze Leben schlafend verbringen würden; schließlich auch nicht, wenn nur unsere sinnlichen Begierden erfüllt würden, weil dann unser Leben nicht von dem der Tiere verschieden wäre. Wenn das beste Gut, die eudaimonia, teleion und autark ist, muss es also das menschliche Streben so sehr erfüllen, dass wir das Leben insgesamt für wünschenswert halten. Dazu braucht es nicht jedes denkbare Gut zu enthalten; es genügt, dass seine Anwesenheit die Wünschbarkeit eines ganzen menschlichen Lebens in seiner besonderen Strebensstruktur sichert. Um dies zu leisten, muss es auch nicht entweder dominant oder inklusiv sein. Wenn wir uns an die Platonkritik erinnern, spricht einiges dafür, dass es weder das eine noch das andere ist, vielmehr die Ordnung in der dort erwähnten Weise eines pros hen-Verhältnisses herstellt.

Doch wenn die eudaimonia ein durch Handeln erreichbares Gut (prakton agathon, 1097a23) sein soll, lässt sich dann etwas finden, was diesem Anspruch der absoluten Zielhaftigkeit in der Wirklichkeit genügt, die sich nicht immer nach den menschlichen Wünschen richtet?22 Um diese Frage zu klären, müssen wir als Nächstes sehen, wie Aristoteles selbst die eudaimonia inhaltlich bestimmt.

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