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2. Die eudaimonia als Tätigkeit gemäß der aretē (I 6 und 13) a) Die Begriffe ergon und aretē (1097b22–27, 1098a8–12)

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Dass die eudaimonia das beste Gut darstellt, ist, wie Aristoteles sagt, eher ein Gemeinplatz und sagt noch nichts über ihre Beschaffenheit (1097b22–24). Diese muss daher im Folgenden genauer bestimmt werden. Nachdem Aristoteles in I 1–5 bekannte Phänomene und gängige Meinungen über das menschliche Streben und die eudaimonia dargestellt hat, würde man jetzt erwarten, dass er die vorhandenen Meinungen prüft und einen haltbaren und konsistenten Kern herausarbeitet. Dieses dialektische Verfahren kommt insbesondere dort zur Anwendung, wo wir es mit einem Thema zu tun haben, das nicht Gegenstand einer umgrenzten Einzelwissenschaft ist. Und in einer solchen Situation scheinen wir uns im Falle des besten Guts zu befinden, wenn dieses sämtliche anderen Ziele oder Güter im Staat unter sich hat oder umfasst.

In Wirklichkeit jedoch geht Aristoteles nicht dialektisch vor, sondern beginnt mit einer typischen Definitionsfrage, der Frage „Was ist (ti estin) die eudaimonia? (b23)“. Solche Definitionsfragen bezieht Aristoteles immer auf begrenzte Seinsbereiche, weil nur sie inhaltlich bestimmt und dadurch definierbar sind.23 Die eudaimonia ist kein selbständiges Seiendes, sondern eine Weise des menschlichen Lebens,24 und sie kann folglich nur bestimmt werden, indem sie als Seinsweise desjenigen Wesens, dem sie zukommen kann, definiert wird, also des Menschen. Dieses Vorgehen spricht dafür, dass wir es in I 6 mit einer in der EN selten verwendeten (siehe auch unten S. 61) Zugangsweise zu tun haben, die Aristoteles gewöhnlich als naturwissenschaftliche bezeichnet.25

Wie Aristoteles ankündigt, lässt sich die Definition auffinden, wenn wir nach dem ergon des Menschen fragen. Um die Anbindung dieses Schritts an das Bisherige zu verstehen, muss man sich an die Zweigleisigkeit der Einführung des besten Guts in I 1–5 erinnern. Aristoteles erläutert dort einerseits ohne Erwähnung des handelnden Subjekts die Struktur menschlicher Unternehmungen, und zwar sowohl ihre interne teleologische Struktur als auch ihre Ordnung auf das Ziel der Politik, das Gut für den Menschen hin. Er zeigt andererseits aus der Beschaffenheit des individuellen Strebens, dass dieses nur dann ganz erfüllbar ist, wenn es sich an einem letzten Ziel orientieren kann, dass wir ein bestes Gut annehmen müssen und dieses die eudaimonia ist. Die neue Wendung, die Aristoteles dem Gedankengang in I 6 gibt, kann man so verstehen, dass er diese beiden Stränge der Einführung eines besten Guts zusammenzuführen versucht. Das geschieht mittels des Begriffs des ergon, der beiläufig schon in I 1 aufgetreten ist, aber erst jetzt ins Zentrum rückt.

Der Begriff des ergon (eigentümliche Leistung, eigentümliche Tätigkeit, Aufgabe, Funktion) hängt eng mit den bisher verwendeten Begriffen des Ziels und des Guts zusammen. Während das Wort telos (im Sinn des zweiten gerade erwähnten Strangs) jedes Ziel bezeichnet, das jemand gerade erstrebt, wird der Ausdruck ergon immer dort verwendet, wo eine technē oder Handlungsweise, aber auch ein Werkzeug oder Organ usw. (im Sinn des ersten Strangs) durch ein bestimmtes Ziel oder Gut definiert ist. Die Hausbau-technē ist dadurch definiert, dass das Haus ihr ergon ist. Das ergon des Auges ist das Sehen, das ergon des Messers das Schneiden, das ergon des Flötenspielers das Flötespiel. Das ergon braucht also nicht ein Produkt zu sein, sondern kann auch in der Handlung selbst bestehen (1097b26) .26

Um die Verbindung der beiden Stränge herzustellen, spricht Aristoteles jetzt nicht wie in I 1 vom Ziel einer technē, sondern vom Ziel oder ergon dessen, der die technē ausübt, des technitēs. Außerdem führt er im Kontext des ergon-Begriffs neue wertende Redeweisen ein. Für jeden technitēs, jedes Werkzeug wie für alles, was ein ergon hat, liegt das Gut (agathon) und das „auf gute Weise“ (eu) im ergon (1097b27f.). „Das Gut“ hat den bisherigen Sinn des Erstrebten; die Bedeutung von eu wird expliziert in 1098a12. Wenn jemand ein ergon hat, kann er dies besser oder schlechter ausführen. Das ergon des Flötenspielers ist es, Flöte zu spielen, das ergon des guten (spoudaios; hervorragend, tüchtig) Flötenspielers, auf gute Weise (eu) oder gemäß der aretē Flöte zu spielen.

In der Wendung „ein guter Flötenspieler“ ist „gut“ ein Adjektiv, das attributiv und graduierend gebraucht wird, das Dinge oder Personen mit Bezug darauf bewertet, ob sie ihr ergon gut ausführen. Das zugehörige Substantiv ist aretē (Tugend, Tüchtigkeit, Trefflichkeit, Vortrefflichkeit); wer eine Fähigkeit nicht nur besitzt, sondern sie in überdurchschnittlichem Maß besitzt, hat die entsprechende aretē. Ein Messer, das nicht nur schneidet, sondern gut schneidet, ist gut als Messer oder besitzt die entsprechende aretē. Wer gute Schuhe verfertigen kann, hat die aretē in der technē der Schuhmacherei. Das Wort aretē bezeichnet also letztlich nichts anderes als „Gutsein“.27 Allerdings ist auch „Gutsein“ keine optimale Übersetzung von aretē, weil es eher den passiven Zustand bezeichnet, während aretē die Disposition zu einer guten Betätigung in etwas ist. Beim menschlichen Handeln aufgrund des Charakters, um das es Aristoteles in Buch II–V gehen wird, entspricht das Wort aretē ungefähr dem deutschen „Tugend“. Wenn wir jedoch den Übergang zur Problematik der ethischen Tugenden angemessen verstehen wollen, dürfen wir gerade nicht den aretē-Begriff, der im Griechischen jede Qualität, die einer guten Betätigung zugrunde liegt, meint, schon im Vorhinein auf unseren Bereich des Moralischen einschränken.

Aristoteles

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