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2. Art und Einordnung des Textes

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Aristoteles hat eine enorme Zahl von Schriften verfasst, von denen weniger als ein Viertel erhalten ist.5 Es handelt sich um drei Klassen von Schriften: 1. die so genannten enkyklischen oder exoterischen Schriften, die sich an einen größeren Kreis richten, Werbeschriften und Dialoge, von denen heute nur Fragmente vorhanden sind, 2. die esoterischen Schriften, die wissenschaftlichen Anspruch haben, 3. Sammlungen von Forschungsmaterial (Naturforschung, Politik usw.). Die großen philosophischen Schriften, die uns erhalten sind, so auch die Nikomachische Ethik, gehören zur zweiten Gruppe. Anders als Platons und vermutlich auch Aristoteles’ eigene Dialoge sind die Prosaschriften des Aristoteles schlicht und kunstlos. Zwar haben sie gegenüber Dialogen, in denen der Autor nicht selbst redet, den Vorteil, dass der Verfasser direkt sagt, was sein Thema, der Aufbau der Untersuchung und seine Thesen sind, wie er vorgeht und wie er die verwendeten Begriffe definiert. Jedoch wird das Verständnis dadurch erschwert, dass die Ausführungen oft nur skizzenhaft sind. 6 Offensichtlich haben wir es mit Texten zu tun, die nicht vollständig für die Publikation ausgearbeitet wurden. Dafür sprechen auch andere Merkwürdigkeiten, die in einem fertigen Text nicht vorkämen, insbesondere das Auftreten von Dubletten. So enthält die Nikomachische Ethik zwei Abhandlungen über das Thema der Lust, die nicht aufeinander Bezug nehmen. Die übliche Auffassung ist, dass wir es mit einer Art von Vorlesungsnotizen zu tun haben, die Aristoteles von Zeit zu Zeit geändert und ergänzt hat, oder vielleicht mit Arbeitsentwürfen, die von Aristoteles nicht selbst publiziert, sondern von einem späteren Herausgeber zusammengestellt und ediert wurden.7

Zur Ethik ist uns nicht nur die Nikomachische Ethik (im Folgenden EN)8 überliefert, sondern noch zwei weitere Schriften, die Magna Moralia (MM) und die Eudemische Ethik (EE). Die MM sind nach Meinung der meisten Forscher später als die anderen Ethiken und nicht von Aristoteles selbst verfasst. Die EE hielt man ebenfalls lange für unecht, inzwischen hat sich das aber geändert, und die Wichtigkeit der EE wird anerkannt, insbesondere durch die Arbeiten von Anthony Kenny.9 Kenny ist sogar der Meinung, die EE sei besser gegliedert und philosophisch fundierter als die EN.10 Ein besonderes Problem besteht darin, dass die EN und die EE in den uns vorliegenden Fassungen drei Bücher gemeinsam haben. Es handelt sich um die Bücher V-VII der EN und die Bücher IV-VI der EE. Bis heute ist strittig, ob diese Bücher ursprünglich zur EN oder zur EE gehörten. Kenny hat starke Argumente überlieferungsgeschichtlicher, philologischer und philosophischer Art, sie der EE zuzurechnen. Auf diese Frage kann ich hier nicht eingehen. Da mich Kennys Argumente für die Wichtigkeit der EE überzeugen, werde ich jedoch auf Textstellen aus der EE verweisen, wo diese für die Interpretation der EN hilfreich sind.

Weitere Schwierigkeiten im Umgang mit dem Text kommen hinzu. Die wichtigste ist das Übersetzungsproblem. Umgehen kann man es nur, indem man Griechisch lernt, teilweise beheben, indem man bei Unklarheiten mehrere Übersetzungen konsultiert.11 Aristoteles hat eine umfangreiche philosophische Terminologie entwickelt, die bis heute die Begrifflichkeit des Fachs prägt. Jedoch hat die Verschmelzung der antiken und der jüdisch-christlichen Sicht menschlichen Lebens und Handelns dazu geführt, dass die Ausdrücke, mit denen die modernen Sprachen aristotelische Begriffe wiedergeben, zusätzliche Aspekte oder eine etwas verschobene Bedeutung haben, jedenfalls selten exakt passen.12 Viele griechische Begriffe werde ich daher unübersetzt lassen.

Im Übrigen gibt es nicht nur Schwierigkeiten, sondern auch Affinitäten, die die Lektüre erleichtern können. So weist John Ackrill darauf hin, dass der philosophische Stil des Aristoteles heutigen Studierenden besonders entgegenkommen muss, weil er „cool, critical and very acute“ ist.13

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