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b) Ergon und aretē des Menschen
Оглавление(i) Die Frage nach dem ergon des Menschen (1097b27–1098a7). Aristoteles stellt die Frage, ob denn alles ein ergon habe, nur der Mensch nicht. Die Frage ist rhetorisch gemeint und soll suggerieren, dass durchaus auch der Mensch als Mensch ein ergon hat. Von den Interpreten wird diese Annahme mit verschiedenen Gründen kritisiert. Nahe liegend ist der Einwand, der Übergang komme nur zustande, wenn dem Menschen von außen, von Gott oder der Natur oder der Polis, eine Aufgabe vorgegeben ist. Die erläuterte Unterscheidung zwischen Handlungen, die wegen eines Ergebnisses gewollt werden, und Handlungen, die in sich wünschenswert sind, macht diesen Punkt jedoch eher unproblematisch. So scheint es harmlos, vom ergon des Flötenspielers in dem Sinn zu reden, dass er bestimmte für seine Rolle typische Handlungen vollzieht, die ihr Ziel in sich selbst haben. In der parallelen Argumentation in der EE weist Aristoteles ausdrücklich darauf hin, dass wir in zwei Bedeutungen vom ergon reden, erstens so, dass es ein Produkt des Tuns gibt, zweitens aber auch so, dass die Ausübung der Tätigkeit selbst das ergon sein kann (1219a13ff.). Doch während es offensichtlich ist, dass diese Tätigkeit für den Flötenspieler im Spielen auf der Flöte liegt, ist weniger offenkundig, in welcher Tätigkeit der Mensch sein ergon realisieren könnte.
Durch das naturwissenschaftliche Vorgehen versucht Aristoteles eine solche Bestimmung des Menschen aufzuweisen.28 Dazu benutzt er das übliche Definitionsverfahren durch Angabe von Gattung und spezifischer Differenz.29 Der Gattung nach ist der Mensch ein Lebewesen, welches von den anderen Spezies dieser Gattung unterschieden werden muss. Genauer werden diese Unterscheidungen in I 13 beschrieben (siehe c)). Das Leben im Sinn von Wachstum und Ernährung haben auch Pflanzen, Leben in der Weise von Wahrnehmung und Bewegung teilt der Mensch mit allen Tieren. Als das dem Menschen eigentümliche Leben bleibt so nur das handelnde Leben des logon echon (des vernunftbegabten, rationalen Seelenteils)30 übrig. Mit Bezug auf diesen Seelenteil werden zwei Differenzierungen angedeutet; zunächst wird unterschieden zwischen einem der Vernunft gehorchenden und einem selbst Vernunft besitzenden Teil, sodann zwischen dem Haben des letzteren und seiner Betätigung.31 Das scheint verständlich, da sich das spezifisch Menschliche eines Lebens nicht im Schlaf zeigt, sondern in der Betätigung seiner Fähigkeiten.
(ii) Das Gut des Menschen als Leben der Vernunftbetätigung gemäß der aretē (1098a7–17). Das bisherige Vorgehen könnte man als deskriptives verstehen, das heißt als Suche nach der tatsächlichen Beschaffenheit des Menschen.32 Die These wäre einfach, dass Menschen im Unterschied zu anderen Lebewesen ihr Leben unter Betätigung ihrer Vernunft, der Fähigkeit zu sprechen und denken, vollziehen. Da sich aus dieser spezifischen Betätigung zugleich die Bestimmung der eudaimonia ergeben soll, wendet sich Aristoteles jedoch im Weiteren Aussagen über das gute Leben zu, wobei dies in einem langen mit neuen Begriffen und Übergängen voll gepackten Satz geschieht, den wir schrittweise zu analysieren versuchen müssen.33 Er lautet:
(1) Wenn nun das ergon des Menschen eine Tätigkeit der Seele gemäß der Vernunft ist oder nicht ohne Vernunft und (2) wenn wir sagen, dass ein So-und-so und ein guter (spoudaios) So-und-so ein ergon haben, das zur selben Art gehört, beispielsweise ein Kitharaspieler und ein guter Kitharaspieler, und so in allen Fällen, indem das Überragen gemäß der aretē zum ergon hinzugefügt wird (denn die Aufgabe eines Kitharaspielers ist, die Kithara zu spielen, und die Aufgabe des guten Kitharaspielers, das gut zu tun) – wenn das der Fall ist, (3) [wenn wir aber als das ergon des Menschen eine bestimmte Weise des Lebens annehmen und diese als eine Tätigkeit der Seele und Handlungen gemäß der Vernunft, als das ergon des guten Menschen aber die gute und richtige Ausführung hiervon, und wenn jede Handlung gut ausgeführt ist, wenn sie gemäß der eigentümlichen aretē vollendet wird – wenn das so ist], (4) dann erweist sich das Gut für den Menschen als Tätigkeit der Seele gemäß der aretē, (5) und wenn es mehrere aretai gibt, gemäß der besten und zielhaftesten.
Wennsatz (1) nimmt die Bestimmung des ergon des Menschen auf. Teilsatz (2) führt den bereits erläuterten Begriff der aretē und die attributive Verwendung von „gut“ allgemein ein, der dritte (3) überträgt diese Begrifflichkeit auf das menschliche Leben und der vierte (4) schließt daraus auf das Gut für den Menschen. Das entscheidende Argument lautet: Wenn (3) das ergon des Menschen in der Tätigkeit gemäß der Vernunft besteht, das ergon des guten Menschen in der guten Ausübung dieser Tätigkeit, dann (4) liegt in dieser guten Ausübung der vernunftgemäßen Tätigkeit, in der Betätigung der menschlichen aretē, das Gut für den Menschen, d.h. die eudaimonia.
Spitzen wir die Aussage etwas zu, dann behauptet Aristoteles: Dass wir erreicht haben, was wir letztlich wollen und erstreben, das zielhafteste Ziel oder beste Gut, die eudaimonia, ist identisch damit, dass wir gut als Menschen sind bzw. aufgrund dieses Gutseins handeln. Doch kommt es nicht vor, dass jemand gut als Mensch ist bzw. gut handelt und es ihm trotzdem nicht gut geht, oder auch umgekehrt, dass es jemandem gut geht, obwohl er nicht gemäß der menschlichen aretē handelt? Wir müssen also noch etwas genauer herauszufinden versuchen, welcher Gedankenschritt dem Übergang von der eudaimonia zur aretē zugrunde liegt.
Die gesuchte Verbindung wird schon zu Beginn von I 6 vorbereitet, wenn Aristoteles unterstellt, für alles, was ein ergon oder eine typische Handlung habe, liege in diesem ergon das Gut (1097b26f.). Diese Voraussetzung ist in einer bestimmten Hinsicht richtig, in einer anderen aber unzutreffend. Im Kontext der technē, in dem Aristoteles den ergon-Begriff zunächst erläutert, kann man sagen, dass für den technitēs als technitēs (den Baumeister als jemanden, der diesen Beruf ausübt) das ergon in der Herstellung des Guts liegt, durch das diese technē definiert ist (Haus), und man kann ebenfalls sagen, dass der Baumeister dann gut als Baumeister ist, wenn er gemäß der aretē im Bauen tätig ist, wenn er gute Häuser baut. Wie Aristoteles in Metaphysik IX 2 und 5 erläutert, sind die technai jedoch zweiseitige Fähigkeiten, das heißt, wer eine technē wie die Medizin beherrscht, bewirkt in relevanten Situationen nicht automatisch Gesundheit, sondern könnte mit demselben Wissen auch Krankheit bewirken. Welches von beidem er tut, ergibt sich nicht mehr aus dem Ziel, das seine technē definiert, sondern aus seiner ethischen Entscheidung, die er nicht als technitēs, sondern als Mensch mit einem bestimmten Charakter, bestimmten Wünschen usw. trifft.
Diese Diskrepanz zwischen dem Ziel oder Gut der technē oder Handlungsweise und dem Gut der handelnden Person könnte geringer scheinen, wenn wir nicht technai betrachten, sondern Tätigkeiten wie Flöte spielen, die kein Produkt erzeugen. Hier scheint es ein Bindeglied zwischen der aretē in der Tätigkeit und dem Gut der Person zu geben, das Aristoteles zwar vorläufig nicht erwähnt, das er aber später selbst einführen wird, nämlich die Lust (erstmals genannt wird diese in I 9, siehe unten S. 48). Wenn eine Tätigkeit um ihrer selbst willen getan wird, liegt es nahe anzunehmen, dass man sie tut, weil die Ausübung Freude macht und sie dadurch Bestandteil der eudaimonia sein kann. Es ist jedoch denkbar, dass jemand gut im Flötespielen ist, aber die Lust daran verloren hat und vielleicht nur noch um eines Ergebnisses willen, etwa um Geld zu verdienen, weiterhin spielt.34 Wer die Tätigkeiten, die typisch für das Flötespielen sind, gut ausführt, ist (das gilt analytisch aufgrund der Begriffsbedeutungen) ein guter Flötenspieler, aber ein guter Flötenspieler ist darum nicht auch ein glücklicher Flötenspieler.35 Und entsprechend müsste dann für den Menschen gelten: Wer die typischen menschlichen Tätigkeiten gut ausführt, ist ein guter Mensch, aber ein guter Mensch ist darum nicht auch ein glücklicher Mensch.
Häufig wird Aristoteles daher vorgeworfen, er begehe in I 6 einen so genannten naturalistischen Fehlschluss, leite also eine normative oder wertende Aussage aus einer deskriptiven Aussage, einer bloßen Tatsachenbehauptung, ab. Daraus, dass Menschen sich faktisch von Tieren durch die Fähigkeit zur Vernunftbetätigung unterscheiden, die wie alle Fähigkeiten besser oder schlechter ausgeübt werden kann, folgt, so der Einwand, nichts darüber, was das Beste für den Menschen ist oder wie zu leben für den Menschen gut ist. Nun muss man hier zwei Fragen auseinander halten. Erstens ob wirklich ein Fehlschluss vorliegt und worin genau der unzulässige Übergang besteht. Zweitens muss man sich aber auch fragen – und das ist für die Bewertung der Position wichtiger –, ob die Konzeption der eudaimonia, die Aristoteles in I 6 über bestimmte Schritte herleitet, für ihn letztlich auf der Schlüssigkeit dieser Schritte beruht.
Was die erste Frage angeht, so trifft der Vorwurf des naturalistischen Fehlschlusses nicht exakt zu. Aristoteles schließt nicht aus dem Faktum unserer Vernunftbegabtheit, dass wir vernünftig leben sollen, vielmehr verweist er auf den begrifflichen Tatbestand, dass in Fähigkeiten ein Spielraum von „besser und schlechter“ liegt. Einen problematischen Übergang nimmt Aristoteles jedoch an einer anderen Stelle vor, nicht von einem deskriptiven zu einem normativen Begriff, sondern zwischen zwei normativen Begriffen, nämlich den oben erläuterten Übergang vom Begriff der aretē zu dem der eudaimonia. Wenn man darin etwas Naturalistisches sehen will, dann liegt das eher in der Vermischung von zwei Arten der Teleologie, einer definitionsinternen oder funktionalen (naturwissenschaftlichen) Teleologie36 und einer ethischen Teleologie. Aristoteles definiert die Form (eidos) einer Spezies, indem er die Anordnung der Teile auf die Erfüllung des ergon oder telos hin angibt. Beim Menschen besteht dieses ergon in der vernunftgemäßen Tätigkeit, und entsprechend müsste eine Definition zeigen, wie alle menschlichen Teile so zusammenarbeiten, dass die Vernunfttätigkeit ermöglicht wird. 37 Dass dies das telos, das Ziel ist, das die Anordnung der Definitionsteile leitet, beweist aber nicht, dass auch für die Person, die ihr Leben vollzieht, die andauernde Vernunfttätigkeit der Inhalt des letzten Ziels für das Handeln ist. Die handelnde Person könnte die Vernunft auch als Mittel ansehen, um ihre inhaltlichen Ziele, die aus anderen Quellen stammen, zu realisieren.
Ich komme zur zweiten Frage. Man kann zugeben, dass es keinen analytischen Zusammenhang zwischen aretē und eudaimonia gibt, und es trotzdem plausibel finden, dass es Lebewesen dann gut geht, wenn sie ihre spezifischen Anlagen gut entwickelt haben und ausüben, und für den Menschen wäre das eben die Vernunftfähigkeit. Auch wenn es nicht streng beweisbar ist, gilt es allgemein als einleuchtend, dass es für den Menschen besser ist, ein unzufriedener Mensch zu sein als ein zufriedenes Schwein.38 Für Aristoteles ist ein weiterer Grund wichtig. In der EE setzt er, noch ehe er eine ähnliche Herleitung wie in I 6 durchführt, voraus, dass die seelischen Güter allen anderen vorzuziehen sind (1218b33). Warum das so ist und wie daher die zweite Frage endgültig zu beantworten ist, werden wir genauer in 3.) sehen. Im Augenblick genügt der Hinweis, dass die Ausübung der Tätigkeit gemäß der aretē bei uns liegt und so am ehesten geeignet erscheint, eine erreichbare und dauerhafte Art der eudaimonia zu gewähren. Dass es um das ganze Leben geht, betont Aristoteles denn auch in einem Zusatz am Ende von I 6 (1098a18–20).39
Die Frage, welche seelischen Güter das Leben eudaimōn machen, ist auch mit dem Hinweis auf die Tätigkeit gemäß der spezifisch menschlichen aretē noch nicht präzise beantwortet. In Teilsatz (5) der Ableitung der eudaimonia stellt Aristoteles in Aussicht, es könne mehrere solche aretai geben. Eine erste Konkretisierung dieses Hinweises erhalten wir in I 13, die genaue inhaltliche Ausführung der Arten der eudaimonia erfolgt erst in Buch X.