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Einleitung 1. Problemhintergrund

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Der Text, der vor uns liegt, enthält eine Ethik. Der Gebrauch des Wortes „Ethik“ ist im Deutschen nicht eindeutig. Es bezeichnet manchmal die Theorie der Moral, die Moralphilosophie, im Unterschied zu einer bestimmten inhaltlichen Moral, dem moralischen Standpunkt einer Person oder Gesellschaft. Das Wort kann aber auch (und so soll es im Folgenden verwendet werden) auf dieser inhaltlichen Ebene einen ethischen im Unterschied zu einem moralischen Standpunkt meinen. So verstanden bezieht die Ethik sich auf das Gute, entwickelt Vorstellungen vom guten Leben und Handeln, während der Bezugspunkt der Moral das Gesollte, die gesellschaftlichen Normen sind. Die heutige praktische Philosophie ist in der Hauptsache Moralphilosophie, während Aristoteles eine Ethik im Sinn der Lehre vom guten Leben schreibt.

Häufig wird heute die Moral auch als ein Teil der Ethik behandelt. Ebenso ist die Vorstellung gängig, die antike Philosophie trenne noch nicht zwischen Ethik und Moral, sie nehme den Bereich der Moral noch nicht als ausgegrenzten wahr. Doch die Griechen haben ebenfalls Begriffe für das, was wir als Moral im engeren Sinn verstehen. Die Nikomachische Ethik enthält ein Buch über Gerechtigkeit, und die Begriffe des Richtigen, des Angemessenen, des Gesollten spielen innerhalb der aristotelischen Ethik eine wichtige Rolle, auch wenn sie nicht scharf zu einem eigenen Bereich der Moraltheorie herausgehoben werden. Das liegt daran, dass die Untersuchung des Charakters für Aristoteles nicht eine selbständige Disziplin bildet, sondern einen Bestandteil der politischen Theorie oder Gesellschaftswissenschaft1, die heute weitgehend aus der Philosophie ausgelagert ist.

Wie es zu diesen unterschiedlichen Einteilungen und Perspektiven in der Antike und heute kommt, wird klarer, wenn wir kurz die historische Entwicklung betrachten, die zur Ausdifferenzierung bestimmter Fragen führt. In traditionalen Gesellschaften existiert noch keine Trennung von Ethik und Moral, die sozialen Normen erstrecken sich sowohl auf das zwischenmenschliche und politische Handeln wie auf die individuelle Lebensführung. Sie sind einem gemeinsamen, für die Gruppe ebenso wie für das Individuum identitätsstiftenden letzten Wert entnommen, der seinerseits mythisch begründet ist.

Für die Griechen der archaischen Zeit des 8. und 7. vorchristlichen Jahrhunderts ist das Ideal der Heros, der Held; dabei handelt es sich um ein Ideal individuellen richtigen Lebens, das zugleich sozial ist. Gut ist und gut lebt, wer von edler Abstammung, reich, schön und ein tapferer Krieger ist. Urmson weist in seiner Einführung zur aristotelischen Ethik darauf hin, dass dieses heroisch-aristokratische Ideal bei Platon (427–347) und Aristoteles (384–322) immer noch im Hintergrund steht, dass Gutsein immer noch einschließt: beneidenswert sein.2 Dieses aristokratische Ideal wird allerdings mit dem Aufkommen der Polis verschoben (ab dem Ende des 6. Jahrhunderts v. Chr.), als die Einfügung in die Gemeinschaft zu dem zentralen Wert wird. Das letztlich Gute ist jetzt der Kosmos, das wohl geordnete Ganze, in das es sich einzupassen gilt. Die Regeln dieser Ordnung werden dabei als von den Göttern vorgegeben verstanden, so dass sie dieselbe Notwendigkeit wie Naturgesetze haben. Im 6. Jahrhundert beginnt in Griechenland eine Aufklärungsbewegung, die sich im 5. Jahrhundert breit durchsetzt. Sie wird getragen von den Sophisten (Protagoras, Gorgias, Hippias u.a.), die die überkommenen Normen hinterfragen und darauf hinweisen, dass sie von den Menschen selbst gemacht sind und daher auch von ihnen geändert oder abgeschafft werden können.

Diese Einsicht kennzeichnet alle Aufklärungsbewegungen, zwischen denen es in anderer Hinsicht erhebliche Unterschiede gibt. Um die griechische Aufklärung und ihre politischen und philosophischen Konsequenzen verstehen zu können, müssen wir uns klarmachen, dass hier die optimistische Aufbruchsstimmung, die den Beginn der neuzeitlichen Aufklärung kennzeichnet, ebenso fehlt wie der Glaube an die gleiche Vernunftfähigkeit aller Menschen. Das Problem, wie nach der Hinterfragung und teilweisen Auflösung der tradierten Sitten ein gutes individuelles und gemeinsames Leben möglich ist, stellt sich daher radikaler, sozusagen in seiner Reinform. Wenn der Glaube an mythisch begründete oder durch Tradition gefestigte Werte aufgegeben wird und keine emphatischen Vernunft- und Gleichheitsideale an ihre Stelle treten, dann bleiben nur die gewöhnlichen Motive menschlichen Handelns übrig, das Glücksstreben in der Weise des Lust- und Machtstrebens, die Suche nach dem Angenehmen oder die Suche nach dem eigenen Nutzen.3 Jedoch behalten selbst diese Motive für die Griechen einen politischen bzw. sozialen Aspekt. Es gehört zum Wesen des Menschen, in der Polis zu leben, wie es umgekehrt die Aufgabe der Polis ist, das gemeinsame und das individuelle gute Leben zu gewährleisten. Wer allein für sich Macht und Lust sucht, ist der Tyrann, der das Ganze des Staates seinen Zwecken unterwirft. Was Platon und Aristoteles diesem entgegenhalten, ist nicht, dass er andere Individuen, die ebenfalls Macht und Lust wollen, nicht berücksichtigt, sondern dass sein Verhalten gegen seine eigene Natur und die Natur der Polis verstößt und seine Lebenskonzeption daher zum Scheitern verurteilt ist, er folglich selbst unglücklich werden muss. Diese Berufung auf die Natur des Menschen ist vor allem für Aristoteles wichtig, der aus einer alten Ärztefamilie stammt und eine starke empirische Ausrichtung in die Philosophie einbringt.4

Während das heutige Interesse an der antiken Ethik aus Problemen der Moralphilosophie heraus entstanden ist, hat also die antike Problemlage eine andere Pointierung, weil eine scharfe begriffliche Trennung zwischen dem Moralischen, Politischen und Ethischen fehlt. Was unserem Bereich der Moral entspricht, findet sich bei Aristoteles unter dem Titel der Gerechtigkeit, jedoch nicht als abgetrennter Bereich der Regelung von Interessenkonflikten, sondern eingebettet einerseits in die politische Perspektive, die Frage nach der wohl geordneten Polis, und andererseits in die ethische Perspektive, die Frage nach der Gerechtigkeit als Charaktertugend. Anders als in der neuzeitlichen Debatte hat außerdem die ethische Frage, die Frage nach dem guten individuellen Leben, eine gegenüber der Moral eigenständige Bedeutung. Während Kant sie infolge des radikalisierten neuzeitlichen Vernunftanspruchs aus der Philosophie ausschließt, weil sich Ratschläge des guten Lebens nicht streng begründen lassen, bleibt sie für Aristoteles auch methodisch fundamental und bildet, wie sehr er auch die politische Wissenschaft vorantreibt, die eigentliche Basis der praktischen Philosophie.

An dieser Stelle sollte man allerdings keine falschen Erwartungen haben. Die konkreten Inhalte und Empfehlungen der aristotelischen Ethik sind heute nur noch teilweise nachvollziehbar. Ihr Verdienst liegt vielmehr in der Entwicklung eines umfassenden begrifflichen Rahmens, einer ethischen Grundbegrifflichkeit. Da die neuzeitliche Philosophie sich im praktischen Bereich auf die Moraltheorie beschränkt, ist die Terminologie, mit der sie operiert, verkürzt, und der handlungstheoretische Begriffsrahmen (Begriffe wie: Gut, Ziel, Mittel, Willentlichkeit, Charakter, Vorsatz usw.), den Aristoteles ausgearbeitet hat, ist – in den lateinischen Termini, in die das Mittelalter ihn gefasst hat – bis heute unüberholt geblieben. Darüber hinaus ist der Versuch, inhaltliche ethische Vorstellungen auszuarbeiten, grundsätzlich bedenkenswert, auch wenn die speziellen Inhalte für uns nicht mehr von Interesse sind. Denn wir stehen ja ebenfalls vor der Aufgabe, unsere eigenen Einstellungen zum guten Leben zu artikulieren und zu systematisieren. Dabei müssen wir sehen, ob Aristoteles uns hier ein Modell liefert, wie man zu diesem Zweck vorgehen könnte.

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