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a) Bestätigungen der entwickelten eudaimonia-Konzeption (I 8–9)

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Aristoteles nimmt zunächst den populären Gedanken der Dreiteilung der Güter in äußere, körperliche und seelische auf (I 8, 1098b9–22). Dass die seelischen Güter allgemein als die besten gelten, bestätigt seinen Vorschlag, dass die eudaimonia eine bestimmte Tätigkeit gerade der Seele ist. Auch die Betonung des Tätigseins erweist sich als sinnvoll, denn Tätigkeiten sind Äußerungen der Seele. Schließlich passt diese Betonung auch zur Gleichsetzung der eudaimonia mit dem eu zēn kai prattein (dass es einem gut geht und man gut handelt).

Dafür, dass Aristoteles im Zusammenhang der eudaimonia das Seelische und den Tätigkeitsaspekt hervorhebt, gibt es plausible Gründe, die auch den Hintergrund der ganzen weiteren Ausführungen in I 8–12 bilden. Wer das Glück im Besitz äußerer Güter sieht, ist abhängig von zufälligen Bedingungen, denen wir passiv ausgeliefert sind. Auch das Vorhandensein körperlicher Güter wie Gesundheit liegt nur teilweise bei uns. Die Erfahrung vom Wechsel der äußeren Umstände, der Abhängigkeit vom Schicksal (tychē), das zwischen glücklichem Zufall (eutychia), der die eudaimonia fördert, und unglücklichem Zufall (atychia), der sie mindert, schwankt, ist für die Griechen eine Grunderfahrung, die alle Konzeptionen des guten Lebens prägt. Man kann daher als das Motiv, das hinter der Betonung des Tätigkeitsaspekts in der eudaimonia steht, die Suche nach einer Konzeption vermuten, deren Realisierung bei uns liegt, die wir, wenn wir uns entsprechend bemühen, als Menschen wirklich erreichen und bewahren können. Wie Aristoteles in I 10 (1100b13) sagen wird, verleiht nichts dem Leben so viel Beständigkeit wie das Tätigsein gemäß der aretē.

Die Bestimmung der eudaimonia als einer seelischen Tätigkeit kann aber, wie Aristoteles in I 9 expliziert, auch die weiteren Aspekte integrieren, die gewöhnlich unter dem Begriff der eudaimonia gefasst werden. So passt sie erstens zu den verbreiteten Vorstellungen, die eudaimonia bestehe in der aretē oder in der phronēsis oder in der sophia; Aristoteles meint hier mit aretē wohl die ethische aretē, während die sophia die aretē der theoretischen und die phronēsis die aretē der praktischen Vernunft ist (siehe Kap. VI). Die menschlichen aretai, oder genauer – wie Aristoteles (1098b30–1099a7) erneut betont – ihre Betätigung, sollten aber gerade die eudaimonia ausmachen. Zweitens kann die eudaimonia-Definition die bekannte These aufnehmen, das Leben der eudaimonia müsse mit Lust verbunden sein (1098b25, 1099a7–31). Diesen Aspekt wird Aristoteles genauer in Buch II und den Lustabhandlungen entwickeln: Die Tätigkeiten gemäß der aretē sind lustvoll, wenn sie aus einem guten Charakter hervorgehen, der keine Widerstände gegen das Tun des Richtigen enthält. Wichtig im jetzigen Kontext ist, dass nach dem alltäglichen Begriff der eudaimonia das gute Leben wesentlich als angenehm, befriedigend, lustvoll erfahren wird. Wenn daher die Herleitung des Inhalts der eudaimonia in I 6 nicht ein philosophisches Diktat von außen bleiben soll, muss Aristoteles zeigen können, dass das Leben der aretē in der Tat zugleich ein subjektiv befriedigendes Leben ist.

Auch die weitere Überzeugung, zur eudaimonia gehöre das äußere Wohlergehen (1098b26), greift Aristoteles schließlich als Bestätigung seiner Position auf. Er nennt (1099a31ff.) zwei Gruppen von Gütern, von denen die eudaimonia abhängt. Die einen sind Werkzeuge oder Mittel: Um gemäß der ethischen aretē tätig zu sein, braucht man Besitz, Freunde, politischen Einfluss. Zur anderen Gruppe gehören adlige Abstammung, Schönheit, wohlgeratene Kinder. In der ersten Gruppe sind Voraussetzungen zusammengefasst, die die Ausübung der Tätigkeiten der aretē ermöglichen.44 Für die Betätigung einer ethischen aretē müssen bestimmte Normalbedingungen vorliegen. Die handelnde Person muss die – für den Bürger der damaligen Polis – normale Ausstattung mit äußeren Gütern aufweisen; sie muss in einem Zusammenhang mit anderen Menschen leben, an denen sie die aretē ausüben kann usw. Aristoteles kann daher mit Recht behaupten, dass sich auch die Erforderlichkeit äußerer Güter mit seiner Konzeption der eudaimonia erklären lässt.

Die Güter der zweiten Gruppe, die Aristoteles nennt, scheinen auf den ersten Blick nicht äußere zu sein, sondern der Person zuzugehören, ohne allerdings seelischer Natur zu sein. So scheint z.B. physische Schönheit oder adlige Geburt keine Voraussetzung dafür, gemäß der Vernunft tätig zu sein. Dasselbe gilt für die Wohlgeratenheit der Kinder. Dieser letztere Punkt war in allgemeinerer Form bereits in I 5 (1097b8–14) genannt (aber dort von mir noch ausgeklammert) worden. Die Autarkie, so hieß es dort, bezieht sich nicht auf das allein lebende Individuum, sondern auf den Menschen als soziales Lebewesen, dessen Leben nur dann gut ist, wenn es auch seinen Verwandten und Freunden gut geht.

Wenn wir an der Autarkie als Kriterium der eudaimonia festhalten, dann scheint Aristoteles also in Schwierigkeiten zu geraten, da es nach den referierten alltäglichen Vorstellungen weitere Güter gibt, ohne deren Gegebenheit man die eudaimonia nicht als vollständig ansehen würde. Die meisten Beispiele lassen sich jedoch in die aristotelische Konzeption der eudaimonia integrieren. In der Rhetorik interpretiert Aristoteles Schönheit als die Erscheinungsweise, in der sich die gute Verfassung des Körpers äußert (1361b7ff.); Letztere aber, die Gesundheit und Stärke des Körpers, ist Bedingung für die eudaimonia. Die adlige Herkunft ordnet er dort ebenfalls als äußeres Gut ein, und in der Tat entscheidet die Stellung durch Geburt über die Chance, die für die eudaimonia erforderliche Charakterbildung zu erwerben. Schwierig ist allein die Einordnung des Hinweises auf das Schicksal der nahen Verwandten und Freunde. Denn dieser Punkt ist in I 5 nicht in dem Sinn gemeint, dass wir Freunde brauchen, um den guten Charakter betätigen zu können, sondern er bedeutet, dass das Schicksal der näheren Menschen unmittelbar Teil des eigenen ist.45 Wie das genauer zu verstehen ist, müssen wir bis zur Freundschaftsabhandlung zurückstellen.

Klammern wir die Thematik der Freundschaft noch ein, dann kann Aristoteles in der Tat alle Güter, die gewöhnlich mit der eudaimonia in Zusammenhang gebracht werden, als Bedingungen der eudaimonia erweisen und in seinen Vorschlag integrieren. Eine andere Schwierigkeit, auf die die alltägliche Auffassung hinweist, bleibt allerdings bestehen. Denn da die Bedingungen der eudaimonia vom Zufall abhängen, scheint das Problem der tychē in die vorgeschlagene Konzeption der eudaimonia selbst einzudringen. Die Zufallsabhängigkeit kann dabei entweder ein gegebenes nicht änderbares Faktum wie die Herkunft oder die physische Konstitution betreffen (siehe unten b(i)), oder sie kann in der Wechselhaftigkeit der äußeren Lebensumstände bestehen, aufgrund derer wir Güter wie Reichtum und Ehre je nach Situation gewinnen oder verlieren können (siehe b(ii)). Aristoteles legt den Problemen, die die Kontingenz und Zeitlichkeit des Lebens an seine Konzeption der eudaimonia stellen, offenkundig einiges Gewicht bei, denn sie werden in I 10–11 ausführlich erörtert.

Aristoteles

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