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2. Naturforschung für das Gemeinwohl

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Kameralisten und Aufklärer engagierten sich schon seit Jahrzehnten für die staatliche Förderung von Sachwissen und der praktisch nützlichen Teile der Naturwissenschaften und Mathematik als Voraussetzungen für technische Verbesserungen und die Hebung des allgemeinen Wohlstands. Seit dem frühen 18. Jahrhundert hatten sie versucht, die Universitäten in diesem Sinn zu reformieren und leitende Staatsbeamte nicht nur juristisch, sondern auch kameralwissenschaftlich ausbilden zu lassen. Die Kameralwissenschaft umfasste ein breites Wissensfeld, das von der Gesellschafts-, Staats- und Wirtschaftstheorie über die Mathematik, Naturwissenschaften und Technologie bis hin zur Verwaltungslehre reichte.9 Sie vereinigte in sich alle Wissensbereiche, die der moderne, Wirtschaft und Gewerbe fördernde Staatsbeamte nach kameralistischer Auffassung besitzen musste.

Alexander von Humboldt hatte vom Oktober 1787 bis März 1788 gemeinsam mit seinem Bruder Wilhelm an der Universität Frankfurt/Oder Kameralwissenschaften studiert. Es war fest geplant, dieses Studium im Sommer 1789 an der Reformuniversität Göttingen fortzusetzen. Dort lehrte unter anderen der berühmte Johann Beckmann, Autor der Anleitung zur Technologie (1777), der die Linnésche Konzeption nützlichen botanischen Wissens in Deutschland verbreitete und ein Technologiekonzept vertrat, das auch die Landwirtschaft einbezog. Im Februar 1789, kurz nach seinem Tiergartenspaziergang, schrieb Humboldt an Alexander Burggraf zu Dohna-Schlobitten, der ebenfalls beabsichtigte, in Göttingen zu studieren:10

▷ Da können wir ja im Sommer Botanik und im Winter Technologie zusammen studieren, wobei wir von beiden Seiten gleichviel Freude und Nutzen haben werden. Schade, daß ich weder mein Herbarium noch meinen Vorrat von technologischen Materialien als Zeugproben, Wollarten, Baumwollarten, andere Pflanzenwolle, Farbmaterialien u.s.w. mitschleppen kann. Dagegen bringe ich in einigen Fächern wenigstens mühsam ausgearbeitete Aufsätze über Technologie mit, die ein genaues Detail der Berlinischen Manufakturen enthalten. Ich habe soviel zusammengeschleppt, als mir meine Zeit erlaubte. ◁

In Vorbereitung seines Göttinger Studiums stellte Humboldt somit Berichte über Berliner Textilmanufakturen zusammen und sammelte Farbmaterialien und Stoffproben. Berlin war damals das Zentrum der preußischen Textilindustrie. Seine Baumwollmanufakturen und -druckereien gehörten zum technologisch avancierten Gewerbe Deutschlands.

Nach seiner Rückkehr aus Frankfurt/Oder trat Humboldt wieder in Kontakt mit seinem ehemaligen Lehrer Johann Friedrich Zöllner, der nun Pastor an der Berliner Nicolai- und Marienkirche war und als Mitglied der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften auch Privatvorlesungen anbot. Humboldt nahm bis zum Frühjahr 1789 an seinem technologischen Kollegium teil, das sich auch mit Botanik befasste. Im Sommer 1788 unternahm Humboldt mit Zöllner eine Exkursion ins Brandenburgische Umland, um metallurgische Unternehmen zu besichtigen.11

Die Eisenhütten in Zehdenick und Neustadt an der Dosse, der Kupferhammer und das Messingwerk in Neustadt-Eberswalde, die Eisenspalterei in Eberswalde und das Messingwerk in Hegermühle konnten sich zwar nicht mit den staatlichen Eisenhüttenwerken in Schlesien messen, in denen man hochwertigen Stahl aus einheimischem Eisen produzierte und wo gerade Vorbereitungen für den Bau des ersten kontinentaleuropäischen Kokshochofens getroffen wurden.12 Unter der Ägide des Ministers Friedrich Anton von Heinitz, der das Bergwerks- und Hüttendepartment im Berliner „Generaldirektorium“ leitete, waren jedoch auch für die märkischen Hüttenwerke technische Fortschritte zu erwarten.13 Nachdem sie jahrzehntelang von den Privatunternehmern Splitgerber & Daum gepachtet worden waren, befanden sie sich seit 1786 in staatlicher Hand. Bis Mitte des 19. Jahrhunderts würde der preußische Bergbau weitgehend ein Staatsunternehmen bleiben. Die Kameralisten sahen im staatlich organisierten Bergbau und Hüttenwesen die Verwirklichung ihres Traums einer modernen, auf Wissenschaften, technischem Sachverstand und einer vernünftigen Planung beruhenden Wirtschaftsweise.


Abb. 3 Entwurf zum Eisenhüttenwerk Königshütte, Federzeichnung vom Friedrich Gilly (1797). Kunstbibliothek, Staatliche Museen zu Berlin PK

In den Jahrzehnten um 1800 beteiligte sich die große Mehrheit der deutschen Naturforscher am kameralistischen Diskurs über nützliches Wissen, an dem auch Staatsbeamte, Techniker und andere Praktiker partizipierten. Die analysierenden und exakten Naturwissenschaften entwickelten sich im Kontext dieses Diskurses und im Wechselspiel mit den Bemühungen um die Institutionalisierung und Konkretisierung nützlicher Wissensinhalte und Methoden. Die romantische Naturlehre, die die Natur als einheitliches Ganzes und losgelöst von Gesellschaft und Technik betrachtete, war im Vergleich dazu das Projekt einer kleinen Minderheit. Den meisten preußischen Naturforschern war ohnehin jede Art übergreifender, große Systeme entwerfender Naturphilosophie fremd. Zu ihren Vorbildern gehörten weder die Philosophen Christian Wolff und Immanuel Kant noch die romantischen Naturforscher und Schellinganhänger Johann Wilhelm Ritter und Henrik Steffens, sondern analytisch verfahrende, messende Naturforscher und Mathematiker wie Martin Heinrich Klaproth, Leonhard Euler und Johann Heinrich Lambert, deren Forschung anschlussfähig an technische Verbesserungsprojekte war. Wer sich in Deutschland als „Naturforscher“ bezeichnete, grenzte sich mit dieser Bezeichnung nicht zuletzt von den „Naturphilosophen“ ab.14

In der kulturellen Elite der Residenzstadt Berlin herrschte im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts eine genuine Faszination für Naturwissenschaften und Technik. Bei spektakuläreren Ereignissen wie der Ballonfahrt des Franzosen Jean Pierre Blanchard im September 1788 war „ganz Berlin auf den Beinen“ und so auch Humboldt.15 Berlin besaß damals noch keine Universität, doch die Mathematiker und Naturforscher der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften organisierten öffentliche Vorlesungen über Chemie, Experimentalphysik, Astronomie, Botanik, Forstwissenschaft und Mineralogie.16 Die Stadtvorlesungen des Berliner Chemikers Martin Heinrich Klaproth lösten in den 1780er-Jahren einen wahren Chemiekult aus. So wusste ein Leser der Chemischen Annalen im Jahr 1784 zu berichten, an Klaproths Vorlesungen nähmen jetzt auch „distinguirte Personen vom schönen Geschlecht“ teil. Sie seien bereit, „Kälte und Hitze, Dünste und Kohlenstaub, und alle sonstigen Unbequemlichkeiten einer chemischen Werkstätte standhaft zu ertragen.“17 Der 19-jährige Humboldt, der sich intellektuell noch nicht festgelegt hatte, sog derartige Anregungen auf wie ein Schwamm. Niemand konnte übersehen, dass die in der Chemie akkumulierten Stoffkenntnisse und die chemisch-analytischen Methoden bereits sichtbare praktische Konsequenzen für das Gewerbe hatten. Klaproths Chemie und die preußische Naturforschung insgesamt waren meilenweit von der Romantik entfernt. Man musste kein Kameralist und Student der Kameralwissenschaften sein, um das zu begreifen. Die Königlich Preußische Akademie der Wissenschaften förderte nützliches Wissen, ebenso wie das alteingesessene Collegium medico-chirugicum und die neuere Königliche Tierarzneischule. Und auch die 1773 gegründete Gesellschaft Naturforschender Freunde zu Berlin war alles andere als ein Aushängeschild romantischer Naturforschung. Diese private Vereinigung von Naturforschern, die wie die Freimaurerlogen strenge Aufnahmeregeln befolgte sowie Freundschaft und Geselligkeit pflegte, widmete sich dem Studium der Naturgeschichte und der Sammlung von Naturobjekten. Mit ihren Preisfragen und Vorträgen wandte sie sich auch an die Berliner Öffentlichkeit. Der Schwerpunkt der Preisfragen lag auf praktisch nützlichem Wissen, ungeachtet der Tatsache, dass im Statut der Gesellschaft der praktische Nutzen der Botanik nur eine marginale Rolle spielte.18

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