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Teil I Humboldt im kameralistischen Preußen 1. Humboldt botanisiert im Berliner Tiergarten (1789)

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Der Berliner Tiergarten war ehemals ein königlicher Jagdgrund gewesen, den Friedrich II. in einen Barockpark umgestalten ließ. Im Februar 1789 schlenderte der junge Alexander von Humboldt (Sept. 1769 – Mai 1859) durch den unweit der elterlichen Stadtwohnung gelegen winterlichen Park. Die ersten Moose, Flechten und Schwämme zeigten sich. Der 19-Jährige verstaute die schönsten Exemplare in seinem Beutel. Botanik war jetzt sein neues Steckenpferd.

Im vorangegangenen Herbst hatte Humboldt den Berliner Botaniker Carl Ludwig Willdenow kennengelernt und sich von dessen Begeisterung für Kryptogamen, einem blinden Fleck im Linnéschen System, anstecken lassen. Der „sanfte und milde Charakter“ des nur unwesentlich älteren Willdenow, erzählte er später, half ihm über die ersten Hürden im Studium der Botanik hinweg.2 Er begann, für den neuen Freund Pflanzen zu sammeln, und dieser weihte ihn dann in die Kunst des exakten botanischen Pflanzenbestimmens ein. In der Studierstube konnte die Botanik zwar ein „hyperlangweiliges Studium“ sein, fand Humboldt, doch draußen, in der freien Natur bot sie unendliche Überraschungen.

Der von Knobelsdorff gestaltete Tiergarten war mit seinen Kunstteichen, Springbrunnen, Labyrinthen und Skulpturen zwar längst keine unberührte Natur mehr, doch im Winter konnte man dort ungestört nach Wildpflanzen Ausschau halten. Der Park schien sich dann in einen „großen Tempel der Natur“ zu verwandeln, der zum „Genuß der reinsten, unschuldigsten Freude“ einlud. Humboldt war überwältigt von der Einsamkeit und stillen Schönheit, die ihn umgab. Eine „süße Schwermuth“ überkommt mich, schrieb er dem Universitätsfreund Wilhelm Gabriel Wegener, wenn ich mich „von tausenden Geschöpfen umringt“ in der freien Natur aufhalte.3

Doch Humboldt gab sich nicht allzu lange der Melancholie hin. Ganz andere Gedanken drängten sich auf. Botanisches Wissen war auch von praktischem Nutzen für die Gesellschaft. Die Botanik, so Humboldt, ermögliche es, „neue Nahrungsquellen gegen den von allen Seiten einreißenden Mangel“ zu erschließen. Doch habe man dies in Preußen noch nicht wirklich erkannt. Vielmehr sei man immer noch in dem „schiefen Urteil“ befangen, die Botanik diene hauptsächlich „zum Vergnügen“ oder bestenfalls zur „subjektiven Bildung des Verstandes“. Dagegen sei sie „eins von den Studien, von denen sich die menschliche Gesellschaft am meisten zu versprechen hat“.4

Die letzte große Hungerkrise von 1770/71 hatte zwar vor allem Böhmen, Sachsen und die Pfalz betroffen, aber auch Preußen war gegen Hungersnöte nicht gefeit. Ein Bevölkerungswachstum von 2.785.000 auf 5.629.000 Einwohner während der rund 40-jährigen Regierungszeit Friedrichs II. stellte eine Herausforderung dar – selbst wenn die preußischen Getreidemagazine relativ gut gefüllt waren.5 Die Hungerrevolte von 1800 würde dies bald belegen. Überdies musste Preußen zahlreiche Lebensmittel, darunter Zucker, Gewürze, Früchte, Tabak, Wein, Kaffee und Tee importierten. Auch wenn es sich hierbei um reine Luxusgüter handelte, beeinträchtigten diese die Handelsbilanz. Sie konterkarierten die merkantilistische Wirtschaftspolitik Preußens, die das Ziel verfolgte, den Export zu steigern und teure Importe zu vermeiden.6


Abb. 1 Geometrischer Plan des Königlichen Tiergartens vor Berlin. Kupferstich von J. D. Schleuen nach der Kartierung von J. C. Rhode, Berlin 1765. Aus Buddensieg, Düwell und Sembach (1987a), 246

Für Humboldt, der mit diesem ökonomischen Problem durch sein Studium an der Universität Frankfurt/Oder vertraut war, wies botanisches Wissen auch hier einen Ausweg. „Viele Produkte, die wir von fernen Welttheilen haben, treten wir in unserem Land mit Füßen – bis nach vielen Jahrzehnten ein Zufall sie entdekt“, empörte er sich. Die Botanik lege das Fundament für systematische Entdeckungen und Erfindungen. Sie lehre die Kräfte kennen, die die „gütige Natur zur Befriedigung unserer Bedürfnisse in das Pflanzenreich legte“. Daher trage er sich selbst mit dem Gedanken, demnächst ein Werk „über die gesamten Kräfte der Pflanzen“ zu verfassen.7

Der junge Humboldt zeichnete sich nicht durch allzu große Bescheidenheit aus, auch wenn sein Interesse an so ausgesprochen schlichten Gewächsen wie Moosen, Flechten und anderen Kryptogamen dies nahelegen sollte. Wir kennen Humboldt heute vor allem als unermüdlichen Sammler exotischer Pflanzen und kühnen Forschungsreisenden, der die Erde bis in ihre letzten Winkel vermaß. Doch die Anfänge seines wissenschaftlichen Lebens spielten sich auf einer ganz anderen Bühne ab. Eine Reise nach „Westindien“ war dem 19-Jährigen noch nicht in den Sinn gekommen. Daher zog es ihn eher in den Tiergarten als in den Königlichen Botanischen Garten, in dessen Gewächshäusern auch Palmen, Drachenbäume und Kakteen zu bewundern gewesen wären.

Im „Jahrhundert der Entdeckungen“, darin stimmte Humboldt mit seinem Freund Willdenow überein, konnte man der Natur ihre Geheimnisse auch zu Hause ablauschen.8 Nur wenige Jahre später würde er seine Entdeckungsreise in den Tiefen sächsischer und preußischer Bergwerke fortsetzen. Wie wir noch sehen werden, erschloss ihm das Studium an der Freiberger Bergakademie und die nachfolgende Arbeit als preußischer Bergbeamter ein völlig neues Terrain, auf dem er sein mineralogisches, geologisches und chemisches Wissen ausbauen und Methodenkenntnisse für systematisches Beobachten, Messen und Experimentieren erwerben würde.

Der junge Humboldt hatte aber noch andere große Ziele. Er wollte die neusten technischen Errungenschaften kennenlernen, und hier stand der Bergbau an erster Stelle. Dabei schloss sich Humboldt einer Reformbewegung an, die im technischen Fortschritt einen wirkmächtigen Hebel für Wohlstand und die Bekämpfung von Unwissenheit sah. Erst am Ende der folgenden zwei Jahre würde ihm dieses zweite Ziel klar und deutlich vor Augen stehen. Ein weiteres, völlig unbefriedigendes Studium an der Göttinger Universität, das er nach wenigen Monaten abbrechen würde, eigene mineralogische Studien und eine Reise mit Georg Forster, dem späteren Vertreter der Mainzer jakobinischen Republik, halfen ihm dabei.


Abb. 2 Darstellung unterirdischer Kryptogamen. Aus Humboldt (1793)

Was für uns heute wie ein unmöglicher Spagat aussieht, war in den Jahrzehnten um 1800 das Ideal vieler gebildeter junger Männer. Sie wollten Hervorragendes in der Naturforschung leisten, aber auch praktisch tätig sein und zwar an den Schaltstellen der Macht, als leitende preußische Staatsbeamte. Wie wir im Folgenden sehen werden, boten Botanik, Chemie, Mineralogie und Geologie zahlreiche praktische Anknüpfungspunkte zur Nutzpflanzenzüchtung und Forstwirtschaft, zu Bergbau und Metallgewinnung und zum Apothekergewerbe. Mathematik, Statik, Hydraulik und theoretische Mechanik lieferten wiederum Wissenselemente für die Maschinentechnik, Ballistik und das Bau- und Vermessungswesen. Wenn Humboldt in seinem Brief an Wegener mehr Engagement für die Botanik und ihre nützlichen Bereiche einforderte, so stand er keineswegs alleine da, wie er als 19-Jähriger vielleicht noch glaubte. Schon bald würde er zahlreiche Weggefährten treffen, darunter auch Minister und einflussreiche Staatsbeamte, die seine Ziele teilten. Der Samen des kameralistischen Diskurses und des Utilitarismus der Aufklärung war längst aufgegangen.

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