Читать книгу Der Pferdeversteher - Uwe Weinzierl - Страница 28
Durch die eiskalte Finsternis
ОглавлениеWenige Minuten später rollen wir mit unserem Gespann auf schneebedeckter Fahrbahn Richtung Friedewald. Die Scheiben sind beschlagen, nicht nur wegen der Hunde im Heck. Der beißende Geruch nach Schaf und Scheiße, der sich über die Jahre im Inneren des Wagens festgesetzt hat und mir auf dem Beifahrersitz in die Nase steigt, ist mir vertraut. Wir reden nicht, wir rauchen. Auch das hilft gegen den Gestank, wie ich mittlerweile gelernt habe. Ab und zu fahren die Wischerblätter ächzend und quietschend über die Windschutzscheibe, auf der die vereisten Schneereste jedoch hartnäckig kleben bleiben. Mehrmals blendet der Schäfer resigniert auf, für klare Verhältnisse sorgt aber auch das nicht. Egal, es gibt ja ohnehin nicht viel zu sehen bei dieser Nacht-und-Nebel-Aktion.
»Die Kuppenrhön ist berüchtigt für ihre steilen Sträßchen. Ohne Allradantrieb wären wir bei diesem Wetter vermutlich längst im Graben gelandet.«
Nur wenige Fahrzeuge, die noch früher als wir unterwegs waren, haben Spurrillen hinterlassen, an denen wir uns orientieren und von Kurve zu Kurve vorarbeiten können. Wo bleibt denn der Winterdienst! Die Kuppenrhön ist berüchtigt für ihre verschlungenen, oft steilen Sträßchen, und ohne Allradantrieb wären wir bei diesem Wetter vermutlich längst im Graben gelandet. In einer besonders engen Wegbiegung bricht der Hänger aus, ich kann mir einen spitzen Schrei nicht verkneifen, während der Schäfer ruhig gegenlenkt. Die Kippe, schon bedenklich kurz, hat er zwischen Zeige- und Mittelfinger eingeklemmt. Er führt sie zum Mund, und während er den letzten Zug einsaugt, wirft er mir einen verächtlichen Blick zu: Memme. Er drückt auf den Schalter des Fensterhebers. Ich höre das Surren eines Elektromotors, der vergeblich eine Scheibe aus der Umklammerung der zugefrorenen Fensterdichtung lösen will. Keine Chance. Schließlich landet der Zigarettenstummel dann doch bei all den anderen im bereits bedenklich überquellenden Aschenbecher.
Endlich biegen wir in einen Feldweg ein. Im Scheinwerferlicht zeichnen sich die Umrisse eines Zauns ab, dann erkenne ich die ersten Ziegen. Ihr lautes Meckern vermischt sich mit dem dumpfen Brummen des Dieselmotors. Der Schäfer hält an, lässt erst die Hunde raus, lädt dann den Schimmel aus und öffnet das Gittertor. »Du gehst hinterher.« Viel mehr habe ich heute von ihm noch nicht gehört. Er setzt sich aufs Pferd, und 150 Ziegen folgen ihm. Weil ich keine andere Aufgabe habe, knete und biege ich kurz meine klammen Finger und rücke widerwillig mit den Hunden als Schlusslicht nach.
Schafmamas und ihre Lämmer einsammeln, das hatten wir in den letzten Wochen schon häufiger gemacht.
In letzter Zeit hatte ich den Schäfer mehrmals zu seinen Schafen begleitet, aber noch nie zu dieser nachtschlafenden Stunde – und auch noch nie bei Eis und Schnee. Oft fuhren wir nach einer Tasse Kaffee und einer selbst gedrehten Zigarette hinaus zur Herde, und ich genoss die Weite, die Kälte und das Geräusch der Autoreifen, die knirschend von der Landstraße auf den holprigen Waldweg und dann auf die zugefrorene Schafwiese rollten. Winter ist Lammzeit, und in den vergangenen Wochen bestand unsere Aufgabe darin, einzelne Muttertiere und ihre Neugeborenen aufzuspüren und einzusammeln. Warum sich Schafmamas oftmals so weit von ihren Babys entfernten, war mir ein Rätsel. Aber wer viel fragt, bekommt viele Antworten. Das Blöken der Lämmer klang jedenfalls ratlos, als wüssten sie auch nicht, wie etwas passieren konnte, das in den Lehrbüchern ganz anders stand.
Während wir die Mutterschafe und ihre Jungen paarweise in den Anhänger verfrachteten, machten sich die Hunde auf der Weide wie gierige Wölfe über die Nachgeburten her. Mich faszinierte dieser Anblick und all das, was ich auf der Schafwiese immer wieder beobachten konnte: Geburt, Tod, Blut, Sperma, Scheiße – die Konstanten und Rohstoffe des Lebens und ihr Wechselspiel, das sich als ewiger Kreislauf wiederholt. Diese Themen hatten mich auch schon während meiner Theaterzeit in Kreuzberg stets beschäftigt. Aber dort wurden sie auf der Bühne verhandelt, hier waren sie ungefilterte Realität!