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Im April 1958 kam ich zur Welt. Dass meine Mutter schwanger wurde, war eigentlich gar nicht geplant.

Meine Geschichte beginnt im Wald

Keine Künstlerin, kein Reiter in der Familie: Meine Mutter war eine brave, anständige Löterin, mein Vater ein versoffener bayerischer Anstreicher. Besser hätte ich’s nicht treffen können.

Das grelle Licht der Welt

Am 2. April 1958 sitzt eine 19-Jährige in der Küche ihrer Mutter. Sie ist hochschwanger, der Geburtstermin ist seit 14 Tagen überfällig. Plötzlich tropft es aus ihr heraus, und die erfahrene Mutter erkennt sofort: Fruchtwasser, es ist so weit.

Nachdem die künftige Mutter im Krankenhaus abgeliefert ist und der hilfsbereite Nachbar die zukünftige Großmutter wieder zu Hause abgesetzt hat, läuft diese zum zukünftigen jungen Vater, der in einem Malergeschäft im Ort gerade seiner sehr gegenwärtigen Arbeit nachgeht. Von der Schwangerschaft hatte er letzten Sommer erfahren und dann darauf gedrängt, das Kind »wegmachen zu lassen«. Doch die Mutter wollte das nicht. Und so hatte er die Frau, die offensichtlich trotz Coitus interruptus hinter einer Hecke am Rande des Dorfes von ihm schwanger geworden war, im November geheiratet und mit ihr eine kleine, primitive Mietwohnung im ersten Stock bezogen.

Ein unsanfter Start

Der werdende Vater ruft am Nachmittag im Krankenhaus an und erhält die Nachricht, dass das mit der Geburt noch ein wenig dauert und er sich getrost schlafen legen kann. Die Frau besuchen und ihr beistehen – bei der Geburt dabei sein? Wo denken Sie hin! Wir sind in Deutschland, im Schwarzwald, der Krieg ist erst seit wenigen Jahren vorbei.

Der zukünftige Sohn lässt sich eine Menge Zeit und erblickt gegen fünf Uhr morgens das Licht der Welt: Nach stundenlangen Schmerzen und Wehen wird das Bündel aus Schleim und Blut, das durch den verlängerten Aufenthalt im Mutterbauch recht groß geraten ist, aus der wohligen Wärme und Dunkelheit durch den engen Geburtskanal in den weiten, lichtdurchfluteten Kreißsaal gepresst, wo es kalte, latexbehandschuhte Finger in Empfang nehmen, waschen, trocknen und von der Mutter trennen.

Denn die hat andere Sorgen, als ihr schreiendes Baby auf dem eigenen Bauch zu liebkosen und zu trösten: Die Nachgeburt, die sich eigentlich hätte lösen sollen, ist an der Gebärmutter angewachsen. Die junge Mutter muss also sofort operiert werden. Glück im Unglück, denn dem Eingriff ist es zu verdanken, dass die Kosten für den Krankenhausaufenthalt später doch noch von der Kasse übernommen werden.

Als sie aus der Narkose erwacht, wird ihr der Sohn kurz gezeigt und dann wieder von den Schwestern ins Zimmer für Neugeborene gepackt. Ein sanfter Weg ins Leben sieht anders aus.

Familienzeit vorm Fernseher

Kein Badezimmer, keine eigene Toilette, kein Telefon, kein Auto: Das Wirtschaftswunder ist schon in Sicht, aber es hat die junge Familie im Schwarzwald noch lange nicht erreicht. Gebadet wird samstags, das Badewasser mit Holz erhitzt, die Kinder teilen sich die Wanne, und man badet im Wasser des Vorgängers. Der Samstag ist auch der einzige Tag, an dem die Unterwäsche gewechselt wird. Wer mal muss, geht aufs Plumpsklo; mit sorgsam geschnittenem Zeitungspapier wischt man sich den Hintern ab.

Immer wieder samstags versammelt sich am Abend dann auch die ganze Familie, oder besser gesagt: Die Familie versammelt sich um den einzigen Fernseher. Der gehört der Tante, die ihn sich – weil sie alleinstehend ist, noch dazu bei Saba arbeitet und das Gerät somit günstiger bekommt – auch leisten kann.

Zu zwölft schauen wir »Einer wird gewinnen« mit Hans-Joachim Kulenkampff.

Die eigenen vier Wände

Weil ich aber eben doch der Prinz im Leben meiner Eltern bin, setzen sie alles daran, unsere Wohnverhältnisse zu verbessern. »Bis er in die Schule kommt, hat er sein eigenes Zimmer!« Und so rackern sie sich an den Wochenenden ab, um aus der alten Scheune der Großtante ein Wohnhaus zu machen. Mit sieben Jahren bekomme ich, wie versprochen, pünktlich zur Einschulung ein eigenes Zimmer im eigenen Haus.


Endlich Einschulung! Mir machte der Unterricht immer Spaß, und ich produzierte Einsen in allen Fächern.

Ein Hund auf Probe

Auf meinem Lieblingsradiosender habe ich vor ein paar Jahren mal ein Feature über vergangene Zeiten gehört, als es noch keinen Strom gab und die Erde noch ein stiller Planet war: kein Dauergedudel, keine lauten Motoren, Musik gab es nur, wenn man sie selbst machte. Und so herrschte fast das ganze Jahr über Ruhe, besonders im Winter, wenn es früh dunkel wurde und nicht einmal die Vögel zwitscherten.

Ganz so ist es nicht mehr im Schwarzwald der 1960er-Jahre, aber ohne Telefon, ohne Fernsehen hat man viel freie Zeit, und die verbringen wir auf dem Fußballplatz. Und keine Ahnung, wie es dazu kommt, aber auch die Schule macht mir damals eben Spaß. Alles fällt mir leicht, und so produziere ich nur Einsen in allen Fächern. Einmal ist Herr Fritz, mein Klassenlehrer, bei meinen Eltern zu Besuch. Er lobt meine Intelligenz über den grünen Klee und empfiehlt dringend den Besuch der höheren Schule. Als sie das hören, sterben meine Eltern fast vor Stolz.


Mein Bruder (links) war damals mein Ein und Alles. Manchmal fühlte es sich so an, als wäre ich sein Vater.

Empfang mit Fangzähnen

Mit zehn Jahren, ich bin gerade ein frischgebackener Gymnasiast, haben die Nachbarn Hundenachwuchs, den sie aber loswerden wollen. Zu Hause fange ich an zu betteln, meine Eltern lehnen meinen Wunsch jedoch rundweg ab, also wird ein Kompromiss geschlossen: Ich darf einen der Welpen übers Wochenende zur Probe mit nach Hause nehmen. Purzel, so haben wir ihn später genannt, heult in seinem Körbchen so lange, bis mein Vater ihn zu sich ins Bett holt. Und dann darf er bleiben. Wir kaufen Erziehungsratgeber für Welpen, die ich eifrig durchlese.

Wie man es richtig macht mit jungen Hunden? Keine Ahnung. Wir jedenfalls drücken Purzels Nase in die Pfützen und Haufen, die er in unserem Haus hinterlässt, und setzen ihn dann vor die Tür. Wenn er mal wieder die Wurst vom Tisch klaut, bekommt er die vom Ratgeber verordneten Klapse mit einer zusammengerollten Zeitung auf den Hintern.

Vor einer meiner Strafaktionen flüchtete er unter den Tisch, und ich verfolge ihn mit der Zeitung. In die Enge getrieben, knurrt er mich an. Davon habe ich in all den Büchern nichts gelesen. Wenn Besuch kommt, muss Purzel weggesperrt werden, um den Gästen den Anblick eines zähnefletschenden Hundes als Willkommensgruß zu ersparen. Dass es sich um keine leeren Drohungen handelte, beweist der Hund meinem Onkel, in dessen Unterschenkel er eines Tages die Spuren seiner Fangzähne hinterlässt.

Bruder oder Vater?

Im Frühjahr 1971 überraschen mich meine Eltern mit einer lange erhofften Nachricht: Es wird Nachwuchs geben. Einen Bruder oder eine Schwester habe ich mir schon seit Jahren gewünscht!

Kurz darauf tagt der Familienrat. Es wird darüber gesprochen, wie feindselig und aggressiv sich unser Hund gegenüber Fremden benimmt und dass sein Verhalten für unser neues Familienmitglied vermutlich eine Gefahr darstellt. Letztlich wird beschlossen, den Hund einzuschläfern, sobald meine Mutter im Wochenbett liegt. Ich bin todtraurig, gebe aber meine Zustimmung . Und als es so weit ist, vergieße ich die letzten Tränen meiner Kindheit.

Die Trauer hält nicht lange an, denn die Ablenkung durch meinen neugeborenen Bruder ist perfekt: Ich gebe ihm das Fläschchen, füttere ihn mit Brei, trage ihn durch die Gegend, ich wickele ihn, bringe ihn ins Bett, kaufe ihm später ein Kettcar. Ich erzähle ihm Geschichten, singe ihm Protest- und Kinderlieder vor, wir liegen im meterhohen Schnee und formen Engel oder bauen Iglus. Im Sommer steht er vorne auf meinem Motorroller zwischen meinen Beinen und klammert sich am Lenker fest. So brausen wir über Feldwege. Nicht selten rutscht ihm ein »Papa« raus, wenn wir zusammen sind.

So war meine Jugend von Fußball und Schule, von einem Hund und einem Bruder geprägt, der mehr mein Sohn war als mein Bruder. Ich kam in meinem ganzen Leben nicht mehr auf die Idee, mir ein Haustier anzuschaffen oder mich fortzupflanzen.


Allein unter Frauen? Kein Problem. Schon als Kind fühlte ich mich in weiblicher Gesellschaft sehr wohl.

Widerstand regt sich

Der leibliche Vater meines Bruders ist damals mit der

Gewerkschaft verheiratet und hat sehr wenig Zeit. Als Betriebsrat wehrt er sich gegen alles, was Unternehmer und Kapitalist heißt. Gemeinsam sind wir empört über die Ungerechtigkeiten, die die Unterdrückten hinnehmen müssen, und gemeinsam sind wir begeistert über alle Aktivitäten, die an diesen Ungerechtigkeiten etwas ändern sollen. Und es ist sonnenklar: Bei diesen Aktionen sind wir dabei!

So werde ich Klassensprecher und Schülersprecher, lege mich mit den Lehrern an, organisiere Boykotte, berufe Vollversammlungen ein und halte aufrührerische Reden, in denen ich die Schule als Zwangsanstalt zur Produktion von Untertanen geißele.

Mein erste Demo erlebe ich im Park neben unserem Schulhof als Zaungast. Es geht gegen den Numerus Clausus. Ich verstand davon nichts, war aber von den langhaarigen, bärtigen Schreihälsen und ihren Fahnen und Transparenten fasziniert.

Mindestens ebenso wie für den Aufruhr interessierte ich mich für Mädchen. Das hat schon im Kindergarten begonnen, und mein zunehmendes Interesse trägt mir den Schimpfnamen »Maidleschmecker« ein.

Der Pferdeversteher

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