Читать книгу Verraten - Vanessa S. Kleinwächter - Страница 10
Fünf
Оглавление„Puh“, schnaufte Jake und ließ sich neben mich auf einen der behauenen Steinblöcke fallen, die am Marktplatz von Siguri als Sitzgelegenheit dienten. Kein Wunder, dass er außer Atem war, schließlich war er soeben von der Stählernen Burg aus bis hierher gelaufen, einmal quer durchs halbe Vetmia-Gebirge. Schnell wurde jedoch deutlich, dass er sich nicht nur darauf bezogen hatte. „Puh“, wiederholte er, „Krasse Zeit. Ganz schön desillusionierend.“ Seit seinem Wechsel in die Stählerne Burg war ein Dreiviertelmond vergangen. Nun trafen wir uns zum ersten Mal wieder - um die Ecke war die Stählerne Burg ja nun nicht gerade. Und dann waren wir ja auch beide vor Ort beschäftigt gewesen. In banger Erwartung der Versetzungsprüfungen hatten Zoé und ich tagelang mit unseren Mitschülerinnen Liz, Cara und Zeraphine in der Bibliothek gesessen und den Stoff der letzten Semester noch einmal wiederholt. Oder besser gesagt: gefühlt tausendmal. Gerade einmal kurze Telepathie-Gespräche hatten Jake und ich in unsere Tage quetschen können – das dafür zumindest täglich. Diese Regelmäßigkeit war beruhigend. Dazu hatte Jake immer wieder Briefe mit Zeichnungen geschickt. So waren wir trotz der Entfernung in Kontakt geblieben.
Dennoch war es schön, mal wieder tatsächlich zusammen zu sitzen und ein wenig Zeit zu haben - erst zum Sonnenuntergang musste Jake wieder in der Stählernen Burg sein. „Wie leise es hier ist“, stellte er fest und ließ seinen Blick über den leeren Platz schweifen, „Gut, wieder hier zu sein.“ Eine Weile saßen wir einfach weiter da und lauschten der Stille. Schließlich brach Jake den Bann: „Vielleicht komme ich zurück.“ Ich starrte ihn überrascht an: „Ans Kullë Guri? Das wäre ja großartig!“ Vor Freude wäre ich ihm fast um den Hals gefallen, doch er wehrte ab. „Ich weiß nicht, ich weiß nicht…“ Gedankenverloren schaute er ins Leere. „In der Stählernen Burg ist alles noch so viel größer. Groß und beeindruckend, aber irgendwie auch einschüchternd. Und ständig bin ich von Menschen umgeben, egal, wo ich hingehe. Nie bin ich in meinem Zimmer alleine, oder wenigstens nur zusammen mit Nathan, der auch mal die Klappe hält. In Ruhe am Fluss sitzen und einfach für mich zeichnen gibt es dort nicht. Und alles ist so… altmodisch! Diese verdammte Burg besteht sicher schon dreißigtausend Monde, und ich schwöre, in der Zeit hat sie sich nicht um einen einzigen Kronleuchter verändert. Gut, dass ich meinen Kristallscheibenspieler mitgenommen habe - sowas haben die da nämlich gar nicht!“ Er spuckte auf den Boden. „Und auch die Menschen… die sind einfach alle… und auch noch viel älter als ich!“ Er seufzte. „Aber hey – ich bin der Jüngste, der jemals an der Akademie des Cabrysz aufgenommen wurde!“ Und da war er auf einmal wieder: dieser Stolz in seinem Blick. Diese Freude über die Anerkennung, die ihm durch Cabrysz zuteil wurde. Und bei aller Verachtung für den Tyrannen: Das war schön, zu sehen. Dass Jake gerade endlich etwas bekam, was das Kullë Guri ihm nie gegeben hatte.
Den größten Teil des Nachmittags verbrachten wir damit, ziellos durch Siguri zu streifen und die Leute zu beobachten. Seit wir uns kannten, war das eine unserer Lieblingsbeschäftigungen, und obwohl Siguri recht klein war und hier selten etwas Außergewöhnliches passierte, wurde es uns nie langweilig. Da war die alte Matilde, die unermüdlich ihre Spindel mit erhobenen Zeigefingern durch die Luft dirigierte. Eine Weile sah sie dabei zu, wie sich die Wollwolke zu ihren Füßen zu Garn sponn, dann beförderte sie es mit einem fröhlichen Singsang und einem Winken in den Farbeimer daneben, sodass es nur so spritzte und kleckste. Da war der Mensch, der sich um die Postziegen kümmerte. Da war die Person, die die Chronik von Siguri führte – Tag für Tag saß sie auf dem Dorfturm und schrieb in dicke, reich verzierte Bücher. Ab und zu trafen wir auch auf Kinder, die durch die kopfsteinernen Straßen wuselten und Fangen spielten.
Besonders gerne schauten wir bei Sethaal vorbei. Egal, wann wir bei dem Alten auftauchten: irgendetwas hing immer gerade an den Leinen, die vor seinem Haus gespannt waren. Heute waren es Kräuter. Beinahe schon ehrfürchtig traten Jake und ich heran. Wie gut das roch! Nur Sethaals fröhliches „Hallo ihr beiden!“ hielt uns davon ab, einfach unsere Nasen tief in ein Büschel frisch gesammelten Grüns zu versenken. „Hallo, Sethaal!“, gab Jake erfreut zurück und ich fügte hinzu: „Du hast ja hier mal wieder das reinste Wunderland aufgebaut!“ Sethaal gluckste in seinen schneeweißen Bart und zwinkerte uns zu. „Das wird der beste Tee, den ihr in Siguri finden werdet! Wenn ihr wollt, bringe ich euch jetzt gleich eine Kanne.“ „Daran hege ich nicht den geringsten Zweifel“, gab ich zurück, „Gerne!“ Jake nickte eifrig und wenig später saßen wir zu dritt im Garten und schauten zu, wie sich der Dampf aus unseren Teegläsern sanft den leichten Wolken entgegenkringelte. Nach den anstrengenden Prüfungsvorbereitungen der vergangenen Tage tat es gut, den ganzen Druck hinter mir zu lassen. Es gab nichts, wo wir unbedingt bald zu sein hatten, wir konnten also ganz in Ruhe unseren Tee schlürfen. Dabei unterhielten wir uns mit Sethaal: einer der wenigen Erwachsenen, bei dem ich mir dabei nicht schwer tat. Ganz wie ich selbst war Sethaal ein eher ruhiger Mensch; immer für einen Plausch zu haben, gerne auch bei den Tee-Abenden mit Anderen aus der Schwarzen Gemeinschaft von Siguri, aber nie mitten im Trubel. Wenn er Kräuter oder Beeren sammeln ging, dann für gewöhnlich allein. So wie er ja auch allein in seiner Hütte lebte und noch nie darüber geklagt hatte, dass ihm etwas fehlen würde.
~~~
Als Jake und ich beide unser zweites Glas Tee ausgetrunken hatten, zogen wir langsam weiter - der Plan: keinen Plan machen. Uns einfach treiben lassen und schauen, wo es uns diesmal hintrug. Ich war froh, dass ich einen Menschen in meinem Leben hatte für Tage wie diesen. Zwar störte es mich nicht im Geringsten, auch mal alleine durch Siguri zu laufen und ganz für mich zu sein. Als ich neu am Kullë Guri gewesen war, hatte ich das oft getan. Ich liebte es, wenn mir der Wind durchs Haar fuhr, als wolle er mit ihm spielen. Manchmal träumte ich davon, er würde mich mit sich forttragen, damit ich die ganze Welt sehen konnte. Wie, wenn der Wind mich einfach mitnehmen würde, musste ich bei meinen Spaziergängen mit keinem Menschen absprechen, wo wir hingehen und was wir machen wollten. Stattdessen konnte ich mich ganz nach mir selbst richten. Das mochte ich. Doch auch mit Jake zusammen zu zweit unterwegs sein war sehr schön. Es hatte etwas von Alleinsein, aber eben ohne wirklich alleine zu sein. Raus aus den Strukturen der Schule, raus aus dem Alltag. Sprung in einen Wolkenberg aus Lachen und Leichtigkeit. Oder die Gelegenheit, über Dinge zu reden, die uns beschäftigten, die aber nicht unbedingt alle mitbekommen mussten. Laut denken und verstanden werden.
Wenn es etwas gab, das Jake fast so gerne mochte wie seine Zeichenutensilien, so waren es Türme. Er stand gerne oben an der Brüstung und genoss den Blick ins Weite. Neben dem hohen Dorfturm hatte Siguri noch eine ganze Reihe anderer alter Türme, in deren Fenstern nachts magische Feuer entzündet wurden, um die Wege zu erleuchten. Von ihrer Spitze aus konnten wir fast über das ganze Dorf sehen, an dessen Rand sich vereinzelte Häuser in die bewaldeten Ausläufer des Vetmia-Gebirges einfügten. Als wir genug hatten von dem Treiben des Dorfes, zogen wir uns auf einen dieser Türme zurück. „Schau mal!“, rief Jake auf einmal aufgeregt, „Wenn du genau hinschaust, kannst du von hier aus die Akademie erahnen!“ Ich folgte mit dem Blick seiner ausgestreckten Hand, doch ich erkannte nichts. „Bist du dir sicher? Die ist doch ziemlich weit von hier“, fragte ich skeptisch. „Was für ein Gebäude sollte denn da noch sein? Sonst sind da doch nur Berge“, gab Jake zurück und ich kniff die Augen zusammen, um besser sehen zu können. Doch das Gebäude war einfach zu weit weg, als dass ich eine eindeutige Aussage dazu hätte treffen können. „Vielleicht hast du recht“, gab ich also schließlich zurück, „ich war ja noch nie da.“ „Ahh!“, rief Jake aus und schlug sich gegen die Stirn, „Natürlich, das hatte ich ganz vergessen! Es ist noch so ungewohnt, dass du gar nicht alles mitbekommst, was ich erlebe. Das war früher immer so selbstverständlich. Hat sich viel verändert…“ „Ja, das stimmt. Und dabei ist das doch genau genommen so eine kurze Zeit, die wir uns nicht gesehen haben. Wie schnell die manchmal vergeht!“ Jake nickte nachdenklich. Dann tat er, was er immer tat: Er holte Papier und Zeichenstift aus der Tasche. „Bleib mal da stehen“, wies er mich an und begann, zu kritzeln. Wenig später sah ich mich selbst auf dem Papier in seiner Hand, im Hintergrund die Hügel des Gebirges. „Mega gut!“, rief ich beeindruckt, als er mir das Bild in die Hand drückte. Überraschen tat mich sein Zeichentalent zwar nicht mehr, aber begeistern? Jedes Mal wieder. „Danke“, grinste er. Dann packte er den Stift beiseite und warf einen prüfenden Blick in den Himmel, um nach dem Stand der Sonne zu schauen. „Verdammter Hasenfuß!“, fluchte er. „Jetzt muss ich mich aber beeilen!“ Gemeinsam sprinteten wir die Treppe des Turms hinunter. An seinem Fuße angekommen umarmten wir uns zum Abschied, dann mussten wir in unterschiedliche Richtungen weiter. „Komm gut an“, flüsterte ich. Es fühlte sich noch immer seltsam an, dass wir jetzt nicht einfach zusammen zurück in die Schule gingen, sondern Jake noch eine viel längere Strecke vor sich hatte als ich. Doch die Aussicht auf den weiten Rückweg schien ihn nicht weiter zu stören: „Du auch. War schön, dich gesehen zu haben!“, erwiderte er fröhlich und machte sich auf den Weg.