Читать книгу Verraten - Vanessa S. Kleinwächter - Страница 16
Elf
ОглавлениеJakes Weggang war einfach wirklich zum denkbar schlechtesten Zeitpunkt gekommen. Denn kurz nach meinem zweihundertzweiundzwanzigsten Vollmond standen die großen Ferien an. So viel Zeit, die viel zu viel Raum für trübe Gedanken ließ! Zwei Monde lang würde in der Schule niemand sein – außer mir. Zugegeben: So gut wie niemand. Ganz die Einzige war ich nicht, die kein Zuhause hatte, in das sie in den Ferien zurückkehren wollte oder konnte. Mit den anderen dreien hatte ich bisher jedoch nie zu tun gehabt, geschweige denn, dass wir zusammen irgendetwas unternommen hätten. Sie gingen zusammen in die Stufe über mir, wenn ich das richtig mitbekommen hatte. Zu den Mahlzeiten trafen wir im Speisesaal aufeinander, nickten uns kurz zu, saßen dann in unangenehmer Stille nebeneinander und nahmen unsere Mahlzeiten ein. Irgendwann fingen die anderen drei für gewöhnlich an, sich über irgendwas zu unterhalten, und ich wusste für gewöhnlich nichts dazu zu sagen, und dann wurde alles nur noch unangenehmer und ich beeilte mich, mit dem Essen fertig zu werden und aus dem Raum zu flüchten. Warum genau wurden in den Ferien nochmal alle Tische bis auf den einen beiseite geräumt? Ich hätte wetten können, dass irgendein Gemeinschaftsgedanke dahinter steckte, näher zusammenrücken und so; bestimmt hatte Haxxley gehofft, wir würden so in Kontakt kommen. Tja, da konnte er bei meiner sozialen Kompetenz halt irgendwie lange drauf warten. Eher unterhielt ich mich nach dem Essen telepathisch mit Jake, den kannte ich, das war einfacher.
Die ersten Tage der Ferien verbrachte ich größtenteils damit, auf dem Außengelände der Schule herumzulaufen und jeden Tag an einer anderen Ecke zu sitzen, an der mir während des Semesters einfach zu viele fremde Menschen herumgehangen hatten. Wie ungewohnt es sich anfühlte, wenn einfach alles leer war! Als bewohnte ich alleine ein riesiges Anwesen, in dem einmal mehrere Generationen zusammen gelebt hatten. Alleine. Und doch war ich nicht so einsam wie früher. Da waren eine Reihe netter Menschen, die ich früher oder später definitiv wiedersehen würde. Und irgendwo da draußen im Gebirge, gar nicht allzu weit entfernt, war Jake. Allein dieser Gedanke malte mir ein Lächeln aufs Gesicht. Zwar war Jake gerade nicht da, nicht mehr so regelmäßig wie bisher; aber er war ja auch nicht weg. Die letzten Ferien hatten wir auch schon größtenteils getrennt verbracht: Er war zu seinen Eltern gefahren, ich war in der Schule geblieben. Irgendwie war ich da aber auch mehr beschäftigt gewesen, schließlich hatte ich noch einiges aufzuholen gehabt. Jetzt, da die ersten Prüfungen hinter mir lagen, wollte ich mir ein wenig Erholung gönnen. So gerne ich mich damit abgelenkt hätte: Mehr bekam ich in meinen überquellenden Kopf gerade ohnehin nicht mehr hinein. Aber schon komisch, dass es möglich war, sich gleichzeitig so sehr zu wünschen, ein bestimmter Mensch wäre da, und froh zu sein, dass alle anderen Menschen es gerade nicht waren. Ich wusste ja, dass wir uns bald wiedersehen würden, aber fehlen tat mir Jake trotzdem. Nicht nur, dass wir uns nicht mehr jeden Tag sahen: Während die Tage vorbeizogen, wurde der Kontakt zu Jake irgendwie auch immer dünner. Erst begann er, bei unseren telepathischen Gesprächen immer gestresster zu klingen, schließlich hörten wir tagelang gar nichts mehr voneinander. Das warf mich mehr aus der Bahn, als ich erwartet hatte. Irgendwie war ich ganz selbstverständlich davon ausgegangen, dass Jake und ich zumindest die selben Ferienzeiten hatten und dann mehr Ruhe, um uns zu unterhalten. Seine kurz angebundenen Erzählungen hatten aber nach allem Anderen als nach Urlaub geklungen…
Eine Sache gab es allerdings, die es immer wieder zuverlässig schaffte, mich aufzumuntern: Zwischen meinen Streifzügen rannte ich wieder und wieder hinauf ins Schlafzimmer, holte mein Zeugnis aus dem Schrank und starrte es minutenlang einfach nur ungläubig an. Bestanden! Ich hatte die verdammte Versetzungsprüfung bestanden! Mein Schnitt gehörte bei weitem nicht zu den besten meines Jahrgangs – ganz im Gegenteil. Aber dafür, dass ich so viel noch hatte nachholen müssen, war das großartig! Und das Wichtigste war ohnehin, dass ich an der Schule bleiben konnte. Der ganze Stress, all die Zeit, die ich mit Zoé, Cara, Zeraphine und Liz in der Bibliothek gesessen hatte – das war es wert gewesen.
Zwei Semester war ich jetzt schon am Kullë Guri. Was für ein seltsames Gefühl das war! Vor etwas mehr als zwölf Monden war ich nach Siguri gekommen, ohne Gewissheit, was die Zukunft bringen mochte. Das fühlte sich gleichzeitig an, als wäre es erst einen Wimpernschlag her, und, als wären seitdem schon Ewigkeiten vergangen.
Doch so sehr ich mich auch über die Ruhe im Internat freute – es dauerte nicht lange und es kam der Tag, als der Boden unter meinen Füßen zu bröckeln begann. Ich saß am Litar, schaute auf das glitzernde Wasser, beobachtete die Flusssterne – aber es fühlte sich nicht mehr so schön an wie noch Stunden zuvor. Langsam aber sicher rutschte ich wieder in dieses alte Gefühl, das Gefühl, das mich in Kaluara so oft verfolgt und überrollt hatte: Einsamkeit. Es war nicht mehr nur, dass ich Jake vermisste. Ich wäre schon froh gewesen, wenn irgendwer da gewesen wäre. Also, Leute, die ich kannte halt. Myranda, Zoé… aber das ging ja nicht. Sethaal? Hmmm. Das wäre bestimmt gegangen. Aber was sollte ich dem bitte sagen? „Hi, ich bin einsam, beschäftige mich“? Das konnte ich doch nicht bringen. Er hatte ja bestimmt genug zu tun, da wollte ich ihn nicht stören. Wenn es doch nur ein Ort gäbe, an den ich zurückkehren konnte, mir sicher sein konnte, willkommen zu sein und nicht im Weg! Ich wollte doch nur, dass dieser verdammte Felsbrocken mich nicht schon wieder erschlug… Moment mal. Felsen. Berge. Vielleicht, so schoss es mir durch den Kopf, gab es diesen Ort sogar, den ich mir wünschte??
Folgendes: Nach dem vergangenen Semester, bevor er zu seinen Eltern gefahren war, hatten Jake und ich gemeinsam ein Feriencamp besucht. Mitten im Vetmia-Gebirge, am glasklaren Heshtje-See, lag das Zeltlager der Dhi Mal. Die Gruppe größtenteils recht junger Magier*innen hatte sich dorthin zurückgezogen, um unabhängig von der Gesellschaft im Tal zu sein. Was sie zum Leben brauchten, pflanzten sie eigenständig an oder erschufen es eben mit Magie. Und was sie an Selbstverteidigungszaubern konnten, hatten sie in dieser Woche an uns weitergegeben. Dort bei den Dhi Mal, unter dem offenen Sternenhimmel, waren Jake und ich beide voll in unserem Element gewesen. Solange es sich bei den Kämpfen lediglich um Übungsszenarien gehandelt hatte, hatte sie auch unheimlich Spaß gemacht. Und gleichzeitig hatten wir echt viel gelernt. Zu niemandes großer Überraschung war Jake auch hier schnell auf der Überholspur an uns allen vorbeigezogen. Doch hierbei war mir das nicht so unangenehm gewesen, das konnten wir besser zusammen üben und lernen. Und wir hatten eine ganze Reihe toller Menschen kennengelernt. Menschen, die wir seitdem nicht mehr wiedergesehen hatten. Die mir aber das Gefühl gegeben hatten, dass sie mich vielleicht auch gar nicht mal so schrecklich fanden. Geld hatten sie für das Training nicht verlangt – stattdessen hatten wir alle eine Aufgabe bekommen, die zum reibungslosen Ablauf des Zusammenlebens beitrug. Irgendwas war tagsüber immer los gewesen und alle hatten ihre Interessen und Fähigkeiten irgendwie einbringen können. Abends hatten wir dann alle zusammen am Lagerfeuer gesessen; gegessen, geredet, gesungen. Manchmal hatte ich für einen Augenblick völlig vergessen, dass ich nicht ewig bleiben konnte, dass Myranda nicht da war, wie stressig das folgende Semester werden würde. Ich… ich war glücklich gewesen.
Was aber, wenn ich mir das alles nur eingebildet hatte? Wenn die Anderen mich in Wahrheit nur höflich ertragen hatten, weil Jake mich angeschleppt hatte? Und für diese Ferien hatten sie auch kein Camp angekündigt – was also, wenn ich ihnen eben doch nur im Weg war? Wenn sie ihre Ruhe haben wollten? Okay, okay, okay, es gab ja eine Möglichkeit, das herauszufinden. Es existierte ja dieser ominöse Trick namens Nachfragen. Wobei ich da gleich vor dem nächsten Problem stand: Telepathische Kommunikation würde ich auf diese Entfernung nicht hinkriegen, dazu fehlte mir die Seelenverbindung zu einem der Gruppenmitglieder. Ob die Postziegen das Camp der Dhi Mal kannten? Konnte ich mir kaum vorstellen. Wobei, seit dem Feriencamp!? Da blieb wohl nur ausprobieren. Bevor ich es mir anders überlegen konnte, kritzelte ich eine Notiz, unterdrückte den Gedanken Die können sich bestimmt gar nicht mehr erinnern, wer ich überhaupt bin und lief ins Dorf zum Gehege der sprechenden Ziegen.
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Ich hatte Recht behalten, wenigstens das. Brachte mich zwar nicht weiter, war aber doch fast ein bisschen tröstlich. Die Postziege, der ich versucht hatte, den Brief an die Dhi Mal zu übergeben, hatte mich erst sehr lange sehr verwirrt angestarrt und war dann davon gehopst. „Keine Ahnung, wo das sein soll, und wenn hier wer das Vetmia-Gebirge in- und auswendig kennt, dann ja wohl wir!“, hatte sie meckernd verkündet, und fort war sie. Für den Bruchteil eines Augenblicks fühlte ich mich albern. Als hätte ich mir die Dhi Mal nur ausgedacht. Keine Ahnung, wo das sein soll, und wenn hier wer das Vetmia-Gebirge in- und auswendig kennt, dann ja wohl wir!, hallte es in meinem Kopf nach. Doch das war Unsinn, das wusste ich. Ich war ja dort gewesen, zusammen mit Jake. Mehrere Tage lang! Natürlich existierte das Camp! Auch wenn es nicht sonderlich überraschend war, dass es in der öffentlichen Wahrnehmung nicht präsent war – das war ja gerade Sinn der Sache. Aber was sollte ich jetzt tun? Wie gerne hätte ich Jake um Rat gebeten… aber Jake war nicht da und ich wollte ihn nicht stören. Er schien ja schon genug um die Ohren zu haben – da musste ich ihn nicht auch noch mit meiner Unsicherheit vollheulen. Aber ich war alleine und die Einsamkeit kroch immer tiefer in mich hinein, drohte, mich zu ersticken, wie früher. Der Schmerz, nicht einfach zu Myranda gehen und mich ihr um den Hals werfen zu können, schlich sich unter all die Gedanken an Jake, schloss sich mit ihnen zusammen zu einer Mauer aus Verzweiflung. Bevor ich noch darüber nachdenken konnte, wie peinlich es mir war, in der Öffentlichkeit zu weinen, stützte ich mich auch schon tränenüberströmt aufs Gatter des Ziegengeheges. Und vor mir lagen noch so viele Tage, die ich quasi allein im Kullë Guri verbringen musste… allein durch die stillen Gänge laufen würde… allein… Ich konnte einfach nicht mehr allein sein, nicht schon wieder. Wenn die Ziegen mir nicht helfen konnten, okay. Aber es musste eine Lösung geben. Eine Erinnerung tauchte in meinem Kopf auf: Das Lachen von Elster. Die kleine, rundliche Magierin mit kurzen violetten Haaren war mir in den letzten Ferien schnell ans Herz gewachsen. Sie war etwa vierzig, vielleicht fünfzig Monde älter als ich und beherrschte einige Verteidigungstricks, von denen mir geradezu schwindelig wurde. Ich atmete tief durch und wischte mir das Gesicht trocken. So verbittert mein Kopf mir das einreden wolle: Ich konnte mir kaum vorstellen, dass Elster sauer auf mich sein würde, wenn ich das Camp der Dhi Mal besuchen kam. Vielleicht würde sie sich sogar freuen. Und die Anderen auch. Rochen, Zander. Gazelle. Ein Lächeln brach sich auf meinem Gesicht bahn, als die Erinnerungen an die letzten Ferien nun eine nach der anderen zurückgeströmt kamen und die Mauer der Verzweiflung in mir einrissen. Natürlich konnte ich nicht verlangen, dass die Dhi Mal mich ungeplant erneut bei sich aufnahmen. Aber fragen konnte ich. Entschlossen machte ich mich auf den Weg zurück ins Internat, um meine Sachen zu packen. Die Strecke ins Camp der Dhi Mal war ganz schön weit; weiter, als ich für gewöhnlich ins Gebirge hinaufstieg. Ich konnte nicht vermeiden, dass sich auch auf dieser Wanderung wieder Sehnsucht nach Jake einschlich. Schließlich war immer er es gewesen, mit dem ich in den Bergen unterwegs gewesen war. Es fühlte sich an, als würden entlang des Weges Schatten lauern – Schatten vergangener Tage. Hier hatte Jake Ewigkeiten gehockt und eine Pflanze abgezeichnet, dort hatten wir gesessen und beim Picknick über Doktor Haxxley gelästert, und dort drüben… Alles war voller Vermissen, Jake war überall und doch nirgendwo. Eine einzelne Träne rollte mein Gesicht hinunter. Es war ja nicht so, dass ohne Jake alles schlecht war. Aber mit ihm war es eben doch noch schöner. Und gerade jetzt, wo ich einen ganzen Tagesmarsch vor mir hatte, wünschte ich mir, er würde neben mir herlaufen und schief aber fröhlich singen. Sogar diese Momente, in denen ich in ihn hineinrannte, weil er mittendrin einfach plötzlich stehen blieb, um irgendeinen Eindruck einzufangen und zu zeichnen, vermisste ich. ~~~ „Ach, Nana! Das ist aber eine Überraschung! Schön, dass du mal wieder hier vorbeischaust!“ Mindestens drei Felsbrocken fielen mir vom Herzen, als Elster vom Feuer aufsprang und mir entgegenrannte. Bevor ich auch nur ein einziges zaghaftes Wort herausgebracht hatte, hatte sie mich schon in eine überschwängliche Umarmung gezogen. Als habe sie regelrecht auf mich gewartet. „Gerne doch!“, entfuhr es mir selbstbewusster, als ich es noch wenige Stunden zuvor für möglich gehalten hätte. „Am Kullë Guri ist doch gerade kein Mensch mehr – jedenfalls keiner, der an euch herankommt!“, fügte ich hinzu und wir lachten beide. Dann gesellten wir uns zu den Anderen ans Feuer. Ein wenig war es, als käme ich in ein Zuhause zurück – auch wenn ich wusste, dass ich es allerspätestens zum Beginn des neuen Semesters wieder verlassen musste. Zumindest für den Moment war ich nicht mehr alleine; um mich herum war gut gelauntes Stimmengewirr, und von vielen wurde ich herzlich begrüßt. Dann saß ich zwischen Elster und Gazelle, stopfte Erdbeerkuchen in mich hinein und ließ mich von Gazelles heiserem Gesang wachhalten und später in den Schlaf lullen. Irgendwann wachte ich wieder auf, fröstelnd. Mein Kopf lag auf Elsters Schulter; die war noch wach und unterhielt sich leise mit einer Person neben ihr, die ich nicht kannte. Verschlafen rieb ich mir die Augen und hob den Kopf. Die Nacht war über uns heraufgezogen, tiefschwarz und wolkenlos, sodass ich all die Sterne sehen konnte, die den Himmel übersäten. Ein Gefühl von grenzenloser Freiheit ergriff mich. Klar, die Deckendekoration im Schlafzimmer von Zoé und mir war dank ein weniger magischer Nachhilfe wirklich realitätsnah. Doch das hier war trotzdem nochmal etwas Anderes. Das hier war echt. Der Beweis, dass ich aus dem Schulstress raus war und jetzt noch knapp zwei Monde Entspannung vor mir hatte. Ein Lächeln ergriff von mir Besitz, zog meine Mundwinkel so weit nach oben, wie es nur möglich war, und brachte mein Inneres zum Leuchten. Hach! Ferien. „Wo ist eigentlich Jake? Bei seinen Eltern?“, fragte Elster plötzlich. „Mhm“, gab ich unbestimmt zurück. Mehr traute ich meiner Stimme nicht zu bei dem Gedanken daran, dass Jake zu seinen Eltern fahren konnte und ich… nicht. Wie gut, dass das Feuer inzwischen heruntergebrannt war – so konnte Elster die Tränen nicht sehen, die sich ungebeten in meine Augenwinkel drängten. Ach ja, und dann war da natürlich noch diese klitzekleine Absurdität, dass Jake vermutlich gerade in der Burg genau jenen Magiers war, gegen dessen Schergen wir uns bei meinem letzten Besuch hier zu verteidigen geübt hatten. Ob Elster das verstehen würde? Oder sonst irgendwer hier? Die Gründe, die ihn dazu getrieben hatten? Ich wusste es nicht. Nur eines wusste ich: Ich wollte nicht diejenige sein, die den Anderen von seinem Wechsel erzählte und ihn der Wut der Dhi Mal aussetzte. Die Frage, ob die aber nicht eigentlich ihrerseits ein Anrecht darauf hatten, die Wahrheit zu erfahren, nagte sich jedoch noch lange in meinen Kopf, als ich schon längst mit schweren Lidern im warmen Gästezelt lag.