Читать книгу Verraten - Vanessa S. Kleinwächter - Страница 14
Neun
Оглавление„Hast du schon gehört? Das Urteil im Bergbaby-Prozess ist verkündet worden!“ „Nee, hab ich noch nicht gehört. Erzähl! Ich hoffe, die olle Schrulle hat richtig auf den Deckel bekommen!“ Die Worte der beiden Dorfbewohner*innen waren nicht einmal an mich gerichtet - trotzdem hatte ich plötzlich das Gefühl, in der Zeit zurückzureisen. Mein Körper stand noch immer auf dem Marktplatz von Siguri, irgendwo zwischen Gemüsestand und Bücherauslage - auch wenn ich kein Geld hatte, konnte ich ja wohl gucken! - meine Gedanken waren aber auf einmal ganz woanders, an einem anderen Ort, Monde zuvor.
Einige Wochen nach meiner Ankunft am Kullë Guri wartete Jake nach dem Unterricht auf mich. Fast wäre ich einfach an ihm vorbei gegangen, weil ich gar nicht kapierte, dass er zu mir wollte. Ich dachte, er wollte Herrn Spancent noch eine Frage stellen, die über den in der Stunde behandelten Unterrichtsstoff hinausging. Schließlich war das typisch für Jake: Niemals war er mit dem Gewöhnlichen zufrieden. Stets gab er mindestens hundertfünfundzwanzig Prozent. Also, außer im Schwertkampf eben. Jedenfalls hätte ich nicht damit gerechnet, dass er ausgerechnet mit mir reden wollte. Wir kamen schon klar, alles war okay zwischen uns. Nach unserem so schrecklich unangenehmen ersten Aufeinandertrefffen hatte ich festgestellt, dass wir im selben Jahrgang waren und folglich die meisten Fächer zusammen hatten. Und entgegen meiner anfänglichen Befürchtungen war er niemals irgendwem gegenüber unfreundlich. Selbst mir gegenüber nicht. Aber wirklich viel miteinander geredet hatten wir bisher trotzdem noch nicht. Wobei es da zugegebenermaßen einen gewissen Zusammenhang dazu geben mochte, dass er mit niemandem sonderlich viel sprach. Jetzt jedenfalls stand er direkt neben der Tür des Unterrichtsraums, aus dem wir alle der frischen Luft entgegen strömten. Als ich auf seiner Höhe war, kam er auf mich zu: „Du, Nael?“ Mir musste meine Überraschung ins Gesicht geschrieben stehen, denn er lachte verunsichert und sagte: „Schau doch nicht so, alles gut!“ Unsicher lächelte ich zurück und fragte: „Was gibt es denn?“ „Hast du kurz Zeit für mich?“ Ich nickte. Warum nicht? Samt unserer Schulsachen setzen wir uns draußen an den Kleinen Torbogen: ein Ort, an dem Jake in seiner Freizeit so gut wie immer saß, wie sich herausstellte. Nun waren wir zum ersten Mal zusammen hier – also, zum ersten Mal wirklich gemeinsam jedenfalls. Jake atmete mehrmals tief durch, als müsse er sich auf die Worte vorbereiten, die er sagen wollte. Daneben ich mit fragendem Blick. Was konnte er nur von mir wollen? „Ich… Du… Vielleicht ist doch nicht alles gut… Also… Ach, ich bin so durcheinander!“ So hatte ich ihn noch nie erlebt. Ja, er redete eher wenig - aber wenn, dann mit einem Selbstbewusstsein, von dem ich nur träumen konnte. Vorsichtig, seine Reaktion abwartend, legte ich ihm meine Hand auf den Arm. Jake zitterte regelrecht. Fast so, als würden die Worte, die er suchte, noch wild in seinem Kopf herumwirbeln, während er gleichzeitig darum rang, die Tränen zurückzuhalten. Eine Weile blieb ich einfach neben ihm sitzen. Kein Wort, nur Warten. Und dann brach es schließlich fetzenweise aus ihm heraus: „Das Baby… das Baby… und ich konnte… vor meinen Augen… der Berg… nie wieder… so viel Blut, ich hätte es nie für möglich gehalten, dass Babys überhaupt schon so viel Blut in sich haben… hätte ich doch nur diesen Felsen aufhalten können… diesen einen, verdammten Felsen.“ Dann sackte er in sich zusammen und ließ sich gegen meine Schulter fallen. So richtig verstand ich das alles immer noch nicht, aber das war auch erstmal egal. Offensichtlich hatte er etwas erlebt, was ihn ziemlich mitgenommen hatte. Die Verletzung eines sehr jungen Menschen, vielleicht sogar dessen Tod. Ich wusste nicht, wann und wo das gewesen war, oder ob es gar nur ein Albtraum gewesen war. Was ich aber wusste, war, dass Jake gerade nicht allein sein wollte, und, dass er mich gerne da haben wollte, und, dass er gerade nicht mehr erklären konnte. Was ich auch noch wusste, war, dass ich es lieber vermieden hätte, über so etwas nachzudenken. In mir krampfte sich alles zusammen beim Gedanken an Blut und schwere Verletzungen. Andererseits: So sehr mochte ich Jake dann doch, dass ich ihn damit wiederum auch nicht alleine lassen wollte. Leicht überfordert, aber bemüht, mir nicht allzu viel anmerken zu lassen, legte ich den Arm um ihn und zog ihn sanft an mich. Er begann, heftig zu weinen, zog jedoch nicht weg. Im Gegenteil, er schien sich zumindest ein bisschen zu entspannen. So legte ich meinen anderen Arm auch noch um ihn und er ließ sich noch ein wenig tiefer in meine Arme sinken. Bis weit nach Beginn der nächsten Schulstunde saßen wir einfach nur weiter so da. Wortlos. Denn für das, was geschehen war, gab es ohnehin keine Worte. Und das, was zwischen uns gerade zu entstehen begann, brauchte sie nicht. Am nächsten Tag vor der ersten Stunde trafen wir uns vorm Unterrichtsraum wieder. Noch immer sah Jake blass und mitgenommen aus – kein Wunder, hatte er doch tatsächlich den gewaltsamen Tod eines Babys mit angesehen, wie er mir am Tag zuvor schließlich doch noch erklärt hatte. „Wie geht‘s dir?“, fragte ich vorsichtig; diese Art von Vorsicht, die entsteht, wenn du eigentlich nicht wirklich weißt, wie du helfen kannst, nur, dass du es gerne möchtest. „Keine Ahnung“, antwortete er und zuckte hilflos mit den Achseln. Und dann war da diese bedrückende Stille, in der wir beide nach sinnvollen Worten suchten, nach Umgang mit dem Geschehenen. Nach einer Weile brach Jake das Schweigen: „Sag mal… darf ich dir den Ort zeigen, wo das passiert ist? Vermutlich würde mir das helfen, das Ganze zu verarbeiten.“ Ich schluckte schwer. Die Vorstellung trieb mir Gänsehaut die Arme hinauf. Ob das Blut des Babys noch zu sehen war? Oder war die Stelle gereinigt worden? Und überhaupt kam das alles dann doch ein wenig zu plötzlich. Jake und ich kannten uns doch kaum! Und dennoch… ich mochte ihn ja schon. Irgendwie hatte ich das starke Gefühl: wenn wir hier weitermachten, konnten wir eines Tages wirklich gut befreundet sein. Und im Stich lassen wollte ich ihn nun auch nicht. Also rang ich mich dann doch dazu durch, zu sagen: „Okay. Wann?“ „Nächstes Wochenende?“ Da hatte ich noch keine Pläne. „In Ordnung“, willigte ich also ein. Jake schenkte mir ein dankbares Lächeln. „Super. Wir sehen uns?“ „Klar.“ Und dann setzte ich mich neben Zoé und er sich neben Nathan, wie immer. Und doch war es nun anders zwischen uns. In den folgenden Tagen verbrachten wir jeden Abend zusammen am Kleinen Torbogen. Ein wenig hatte ich ein schlechtes Gewissen, Zoé alleine zu lassen, doch wenn ich ehrlich war, brauchte die mich nicht. Sie war mit den Anderen aus unserer kleinen Lerngruppe soweit ich erkennen konnte längst gut befreundet - und am frühen Abend ohnehin meist selbst noch gar nicht auf dem Zimmer. Genau genommen hätte ich sie vermutlich nicht mal als „Freundin“ bezeichnet, wenn ich gefragt worden wäre. Ich mochte Zoé, ihre lockere Art, ihre kurzen orangenen Haare, die immer irgendwie chaotisch wirkten, aber auf eine Art, die zu ihr passte. Ich schätze sehr, wie gut sie es oft hinbekam, mir Unterrichtsstoff noch einmal so zu erklären, dass ich ihn sofort verstand. Es war auch in Ordnung, mit ihr ein Zimmer zu teilen. Aber… mehr war da irgendwie nicht, hatte sich einfach nicht ergeben. Bei Jake war das anders. Seit unserem ersten Gespräch über das tote Baby hatte ich das Gefühl, dass wir viel mehr gemeinsam hatten als Zoé und ich. Schon allein von seiner ruhigen Art her. Zoé war nett, aber sie war auch immer wie ein kleiner Wirbelsturm, der durch den Schulalltag fegte. Das brachte nicht selten frischen Wind in den Unterricht, konnte aber auch ermüdend sein. Zeit mit Jake hingegen war nie anstrengend – okay, davon abgesehen, dass es ihm gerade nicht sonderlich gut ging und ich mir Sorgen um ihn machte. Wir saßen einfach zusammen und unterhielten uns, stundenlang. Ich lernte immer mehr über ihn, erzählte von mir. Manches zumindest. Irgendwann würde ich Jake die ganze Geschichte erzählen, das spürte ich jedes Mal deutlich. Aber noch nicht jetzt. Dazu kannten wir uns noch nicht gut, das hätte sich seltsam angefühlt. Und vermutlich wollte er das alles auch noch gar nicht hören. Aber so, wie es war, war es schonmal ziemlich gut. Nach dem Mittagessen des nächsten freien Tages zogen Jake und ich dann los, beide mit einer Ration für den Weg im Rucksack. Von der Schule aus brauchten wir im Grunde nur dem Fluss in Richtung Quelle zu folgen: ein Stück durchs Dorf und dann die schmalen Pfade hinauf. Ganz schön anstrengend! Aber es lohnte sich: die Landschaft war wunderschön. Alleine hatte ich mich bisher nicht ins Gebirge getraut - mit Jake zusammen jedoch fühlte es sich überhaupt nicht bedrohlich an. So viele grüne Lebewesen um mich herum, die mir ihre Knospen und Blätter entgegenstreckten! So viele neue Pflanzen, die ich noch gar nicht kannte! Wie sie dufteten! Fast vergaß ich, warum wir hier waren, während ich versuchte, die ganzen Farben und Gerüche um mich herum aufzunehmen. Am liebsten wollte ich alles sammeln, trocknen, in ein Album einfügen! „Das hier ist einer der schönsten Orte, an denen ich jemals war“, entfuhr es mir leise. Und auch noch so nah an der Schule, auf die ich nun ging, in der ich nun wohnte! Wie großartig das war! „Ja, so geht es mir auch“, gab Jake lächelnd zurück. Damit, nach Siguri und aufs Kullë Guri zu gehen, hatte ich definitiv die richtige Entscheidung getroffen, das spürte ich in diesem Moment ganz deutlich. Und an meiner Seite war ein Mensch, der mich mochte, der mir vertraute - wie auch immer ich das verdient hatte - und den ich jeden Tag sehen konnte! Immer weiter liefen wir durch das Grün und Bunt und Jake teilte sein Wissen über das Gebirge mit mir wie einen Schatz. Schließlich riss er mich mich jedoch aus meiner Bewunderung. „Wir sind gleich da“, sagte er mit rauer Stimme. Und dann sagte er gar nichts mehr; starrte nur noch ausdruckslos vor sich hin, während wir die letzten Schritte zum Gipfel hinaufstiegen.