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Vierzehn
ОглавлениеDer Schulgong dröhnte unaufhörlich durch die Korridore, um das Ende des Semesters anzuzeigen. „Zeit, nach Hause zu fahren!“, sagte Doktor Haxxley und drückte mir meinen Koffer in die Hand. „Aber…“, versuchte ich zu protestieren, doch er schob mich gnadenlos durch das Tor der Schule und verriegelte es von innen. Ich bekam nicht richtig mit, wie, doch plötzlich stand ich vor der Haustür meiner Adoptiveltern. Übelkeit kroch mir in den Magen. Alles drehte sich. Hierhin hatte ich doch niemals wieder zurück gewollt, und nun musste ich es doch. Musste zwei ganze Monde hier verbringen, gegen meinen Willen. Mich doch wieder mit diesen beiden Menschen herumärgern, die vermutlich auch noch unheimlich sauer waren, dass ich weggelaufen war. Seufzend öffnete ich die Tür. Doch was dahinter lag, war noch furchtbarer, als ich befürchtet hatte. Da waren keine schreienden Adoptiveltern, kein Hund, der mich nicht mehr erkannte, kein Gefängnis und kein völlig heruntergekommenes Zimmer. Da war einfach nichts. Nichts. Nur graue, kalte Leere, in die ich verzweifelt schreiend stürzte… - Verschwitzt und verängstigt wachte ich auf. Seit wann musste ich zum Ende des Semesters zu meinen Adoptiveltern zurück? Hatte Doktor Haxxley mir nicht zugesichert, dass ich das umgehen konnte? Hatte er sein Versprechen etwa gebrochen? Hatten meine Adoptiveltern darauf bestanden, mich nach Hause zu holen? Und was war das für eine Leere, wo kam die her, was bedeutete die? Wo waren meine Adoptiveltern jetzt? Und… Moment mal. Wo war ich überhaupt? Warum musste ich anlässlich der Ferien zurück an den Ort, der mein Zuhause genannt wurde? Es waren doch überhaupt keine Ferien mehr! Ganz im Gegenteil, die waren doch gerade zu Ende! Und ich hatte sie auch nicht bei meinen Adoptiveltern verbracht, sondern mit Jake und den Dhi Mal! Sie waren gar nicht mal so schrecklich gewesen, nein, sie gehörten insgesamt trotz allem zu den wohl schönsten Ferien meines bisherigen Lebens! Und überhaupt lag mein zweihundertzwei-undzwanzigster Vollmond doch längst hinter mir und ich hätte ohnehin nicht mehr zurück gemusst, ob Doktor Haxxley sich nun an unsere Abmachung hielt oder nicht! Warum kamen mir meine Träume dann ausgerechnet jetzt mit so einem Unfug? Jetzt, wo ich die Ferien erfolgreich hinter mich gebracht hatte, von denen ich am Ende des Semesters Angst gehabt hatte, ich würde die Einsamkeit nicht durchstehen? Ich rieb mir die Augen und sah hinüber zu Zoés Bett. Noch stand es verlassen da, die Decke in einem abenteuerlichen Haufen zusammengeknüllt. Schon bald jedoch würde Zoé wiederkommen und wieder in diesem Bett schlafen, in diesem Zimmer, gemeinsam mit mir. Ich würde nicht wie bei meinen Adoptiveltern schlaflos an die kahle Decke starren und mir wünschen, ich wäre weit, weit weg. Ich war endlich genau dort angekommen, wo ich seit Ewigkeiten hingewollt hatte; und ich hatte die Versetzungsprüfung bestanden; und das neue Schuljahr stand vor der Tür, in dem ich mein magisches Wissen noch weiter vergrößern konnte. Langsam beruhigte sich mein Atem und ein schüchternes Lächeln traute sich auf mein Gesicht. Die beiden Menschen, bei denen ich viel zu viele Monde verbracht hatte, konnten mir nichts mehr anhaben. Ich war frei und ich war im Kullë Guri – dort, wo ich hingehörte. Müde und verspannt kroch ich aus dem Bett, streckte mich und ließ mit einem von Gähnen unterbrochenen Murmeln die Vorhänge auffliegen. Von draußen schienen die ersten Sonnenstrahlen durch das Fenster und leuchteten mir warm ins Gesicht. Spätestens, wenn die Sonne unterging, würde die Schule wieder voller Menschen sein. Erneut gähnend zog ich mich an und tapste hinunter in den Speisesaal, um ein letztes Mal das Frühstück mit wenig Trubel um mich herum zu genießen. Als ich ankam, war der Raum noch komplett leer; die restlichen Schüler*innen schienen den letzten Ferientag zum Ausschlafen zu nutzen. Das hätte ich ja auch gerne getan, wäre mir nicht dieser verdammte Albtraum dazwischen gekommen. Ich seufzte. Doch dann nahm ich mir ein Glas Tee und setzte mich in den großen Fensterrahmen, wie Jake es früher getan hatte. Er hatte recht, das war wirklich schön – gerade, wenn die Sonne erst noch dabei war, aufzugehen, und sonst keine Menschenseele da war, um die Ruhe zu stören. Lächelnd schaute ich zu, wie der Dampf sich aus meinem Glas empor kringelte. Mit der Zeit wurde ich immer ruhiger; fast, als wäre meine Panik mit dem Wasserdampf davongezogen. Schließlich ging ich zum Essen über und schaffte es, entspannt damit fertig zu werden, bevor die Anderen auftauchten und es wieder unangenehm wurde. ~~~ Als die Sonne langsam anfing, unterzugehen, trudelten die verreisten Mitschüler*innen nach und nach wieder ein. Ich saß im Schlafzimmer am Fenster und beobachtete die ankommenden Leute- doch aus der Ferne waren sie mir lieber. Mit den meisten hatte ich schließlich ohnehin nichts zu tun, also brauchte ich mich auch nicht mit ihrem Ankunftsgeplapper umgeben. Außerdem wurden viele von ihren Eltern zurück in die Schule gebracht. Es tat immer noch weh, ihnen dabei zuzusehen, wie sie diese umarmten oder sogar zum Abschied küssten, die Koffer getragen bekamen oder Süßigkeiten zugesteckt. So hätte ich meinen ersten Schultag auch gerne erlebt. Oder den heutigen letzten Ferientag. Stattdessen war ich völlig alleine gewesen, hatte keine Ahnung gehabt, ob ich überhaupt hier bleiben konnte, und hätte im Traum nicht daran gedacht, wieder zu meinen Adoptiveltern zurückzukehren. Ich war nicht sicher, dass ich bei diesem Anblick nicht irgendwann einfach losheulen würde, und das mussten ja nicht unbedingt alle mitbekommen… Moment mal. „Im Traum“! Ja, doch, im Grunde ergab es schon Sinn, dass ich diesen Albtraum ausgerechnet in dieser Nacht zu Ende der Ferien gehabt hatte. Die letzten Wochen über hatte ich schließlich liebe Menschen um mich gehabt, die mich davon ablenkten, dass ich… keine Familie hatte. Ah, da waren die Tränen ja, rollten mir die Wangen hinunter und brachten ein Schluchzen mit, das mich schüttelte. Weinend lehnte ich mich gegen den Fensterrahmen und presste die Stirn gegen das kühle Glas. Und obwohl ich froh war, dass mich niemand so sah – gleichzeitig hatte ich plötzlich das Bedürfnis, gefunden zu werden. In den Arm genommen und getröstet. Doch es war, wie ich es gewollt hatte: Ich war allein. Und in diesem Moment dann doch ziemlich einsam… Als ich Zoés orangefarbenen Haare in der Menschenmenge erblickte, wischte ich mir die Tränen aus dem Gesicht und stand auf. Auch wenn ich Zoé vielleicht nicht als beste Freundin bezeichnen mochte, so war sie doch eine der Personen, auf die ich mich gefreut hatte – genug, um ihr entgegenzugehen. „Nana! Wie schön! Mama, Papa, das ist Nael. Mit ihr teile ich mein Schlafzimmer am Kullë Guri.“ „Schön, dich kennenzulernen!“ Ich lächelte höflich und schüttelte Hände. Vor den letzten Ferien hatte ich Zoés Eltern gar nicht getroffen, weil sie auf Dienstreise gewesen waren und Zoé von ihrer Tante abgeholt worden war. Nun also standen sie vor mir und ich freute mich, sie kennenzulernen – Menschen, die zu Zoé gehörten. Und doch war es schwer, auch nach all der Zeit noch, die ich bereits von meinen Adoptiveltern weg war. Ich konnte mit Eltern nicht gut umgehen, ich hatte nicht die geringste Ahnung, was dahingehend als angemessen gehandelt wurde. Schließlich hatte ich ja auch nie viel mit Eltern zu tun gehabt – meine eigenen lebten nicht mehr, mit meinen Adoptiveltern wollte ich nichts zu tun haben und einen riesigen Freundeskreis hatte ich ja nun auch nicht gerade gehabt. Es fühlte sich seltsam an, nun hier neben dieser Familie zu stehen, die freundlich zu mir war und doch fremd. Dass ich Zoés Eltern noch nicht sonderlich gut kannte, war ja nur logisch, aber die gesamte Situation wirkte unendlich unwirklich auf mich. War ich sonst schon nicht sonderlich gut darin, mit fremden Menschen zu kommunizieren, so wurde das alles andere als besser dadurch, dass sie dort standen und ihre Tochter verabschiedeten und das alles so selbstverständlich wirkte. Selbstverständlich war, für Zoé. Und doch für mich so unerreichbar. Schließlich gab Zoé ihren Eltern noch einen letzten Kuss auf die Wange und auch ich winkte unsicher. Die beiden umarmten Zoé und gaben mir die Hand, dann half ich Zoé, ihre Sachen in unser Zimmer zu bringen. „Na, hast du unser Zimmer stehen lassen?“, scherzte Zoé. „Ein paar grobe Überreste sind möglicherweise noch zu erkennen“, gab ich trocken zurück. Jetzt, wo ich nur noch mit meiner Mitbewohnerin redete und nicht auch noch mit ihren Eltern, schien plötzlich wieder Sozialfähigkeit aufzutauchen, die vorher nicht da gewesen war. Als Antwort auf meinen Kommentar streckte Zoé mir die Zunge heraus. „Wie auch immer: Es ist schön, wieder hier zu sein! Wie sehr ich meine Eltern auch liebe, irgendwann ist dann auch mal genug der Familienmeierei.“ Da! Noch so ein Gefühl, das mir völlig fremd war. Klar, zwischen meine Adoptiveltern und mich konnte ich nie genug Abstand kriegen – aber, dass ich meiner leiblichen Eltern einmal überdrüssig werden könnte, das konnte ich mir nur schwer vorstellen. Schließlich hatte ich über zweihundert Monde überhaupt keine Zeit mit ihnen verbringen können; im Grunde so gut wie mein gesamtes Leben lang nicht. Ich seufzte tief, ein Seufzen, das völlig im Geschwätz der ankommenden Schüler*innen um uns herum unterging. Dann verdrängte ich die Gedanken an Eltern und Familie und sagte: „Ich finde es auch schön, dass du wieder da bist!“ Und es war nicht nur eine höfliche Floskel.