Читать книгу Verraten - Vanessa S. Kleinwächter - Страница 15
Zehn
Оглавление„Ey, junger Mann! Hören Sie mal auf, den ganzen Verkehr aufzuhalten! Andere Leute wollen hier auch noch einkaufen!“ Ich schreckte aus meinen Gedanken hoch. Dass die Aufforderung mir galt, wurde mir allerdings erst so richtig klar, als ein erhobener Zeigefinger haarscharf an meiner Nase vorbeisegelte. Noch so ein Grund, warum ich diesen Glauben, Geschlechter wären am Aussehen abzulesen, nicht kapierte. Die Logik dieser Leute war ja nicht einmal in sich selbst schlüssig! Haxxley hatte in mir eine junge Frau gesehen, die meisten Leute taten das. Doch dann gab es auch immer wieder Einzelne, die mich als „jungen Mann“ ansprachen – nur, weil ich lange Haare hatte und manchmal gerne grüne Klamotten trug. Am liebsten hätte ich dem fuchtelnden Menschen ins Gesicht geschrien, wie absurd es war, Anreden an Frisuren und Farben ablesen zu wollen. Das traute ich mich dann aber doch nicht. Also trat ich einfach ein paar Schritte zur Seite, was ihn zum Glück besänftigte. Als er von dannen gezogen war, wanderte ich weiter zu einer der steinernen Sitze am Rande des Marktplatzes und ließ mich darauf nieder. Ein wenig Zeit hatte ich noch, bevor ich zurück ins Internat musste – genug, ein wenig weiter in Erinnerungen zu schwelgen. Denn so grausam die Erinnerung auch angefangen hatte, die das Gespräch der beiden Sigurii in mir ausgelöst hatte, so schön endete sie auch. Ich ließ meinen Blick in die Ferne schweifen und meine Gedanken zurück in die Vergangenheit treiben, zurück zu dem Tag, an dem Jake und ich zum ersten Mal zusammen in den Bergen gewesen waren:
„Weißt du, so fühle ich mich auch manchmal“, sagte ich und schaute nachdenklich über die Bergkette hinweg gen Horizont. „Was meinst du?“ „Wie ein hilfloses Baby, das einfach von einem riesigen Felsbrocken erschlagen wird. Nur, dass ich danach nicht tot bin, sondern das immer und immer wieder passiert. Dass dieses Leben sich so zu viel anfühlt.“ Seltsam fühlte es sich noch immer an, Jake so eine düstere Seite meiner Gedankenwelt zu zeigen. Falsch jedoch nicht mehr. Jake nickte verständnisvoll. „Das kenne ich.“ „DU?! Auf dich steht doch die ganze Schule!“ „Haha, ja.“ Jake lachte bitter auf. „Auf die personifizierte Top-Note. Auf das Mysterium, das immer für sich bleibt und sich anscheinend zu schade ist, mit irgendwem zu reden. Auf den Kerl, der Schwertkampf für unter seiner Würde hält. Aber was schätzt du, wie viele von denen sich wirklich dafür interessieren, wer ich bin und was mir wichtig ist? Und die Typen sind sowieso alle damit beschäftigt, mit dem Schwert rumzufuchteln und auf großen Helden zu machen. Wie mich das anödet! Das ist doch keine Basis für 'ne Freundschaft. Das ist überhaupt keine Basis für was auch immer! Dann bleib ich doch lieber wieder für mich – das ist zwar nervig, aber nicht so nervig, wie mit denen zu tun zu haben.“ Eine Weile schwieg er nachdenklich. Dann ergänzte er: „Vielleicht ist das auch der Grund, warum ich mich immer so in den Unterrichtsstoff hineinsteigere. Wenn ich damit beschäftigt bin, noch Zusatzinformationen zu recherchieren, muss ich nicht so viel über den ganzen anderen Kram nachdenken. Und in die Bibliothek verirren sich die anderen Typen ja doch eher selten freiwillig - da hab ich meine Ruhe. Naja, und vielleicht ist es doch auch ganz schön, dass da zumindest irgendwas ist, was die Leute respektieren, auch wenn ich nicht die geringste Motivation habe, irgendwen mit dem Schwertkampf zu beeindrucken…“ „Interessanter Gedanke. Aber da fällt mir was ein, was ich dich schon die ganze Zeit fragen will. Wie kam es eigentlich, dass du ausgerechnet zu mir gekommen bist mit… dem hier?“ Ich machte eine vage Handbewegung in Richtung der Gipfel um uns herum. Einen Moment lang überlegte Jake, dann antwortete er: „Weiß nicht. Ich hatte einfach das Gefühl, dass du eine Person bist, mit der ich wirklich reden kann. Das hab ich nicht oft, aber wenn, liege ich für gewöhnlich richtig damit.“ Er grinste mich an. Und obwohl hier wenige Tage zuvor ein Mensch sein Leben verloren hatte, schwand der Schrecken dieses Ortes ein wenig. Denn dafür hatten wir beide hier etwas gefunden. Ab diesem Moment war die Geschichte nicht mehr nur eine vom Tod, sondern auch eine von Freundschaft. Trotz allem so etwas wie glücklich grinste ich zurück. Es gibt abertausende verschiedene Metaphern und Erklärungsversuche für die menschliche Seele, und ich bin überzeugt, dass keine Beschreibung ihr vollständig gerecht wird. Sie ist das eine Rätsel, das wir selbst mit all unseren Kenntnissen über die Zusammenhänge der Welt nicht im Kern gelöst bekommen. Dennoch habe auch ich schon oft versucht, dieses wundersame Etwas in Worte zu destillieren, das Ungreifbare greifbar zu machen, festzuhalten. Ich würde sagen: Die Seele ist wie ein zweiter Schatten, den der Mensch nicht nach außen wirft, sondern nach innen. Wie bei einem Schatten achten die meisten Menschen für gewöhnlich nicht allzu sehr auf sie, doch in besonders strahlenden Momenten nehmen wir sie wahr. In ihr können wir uns selbst sehen, ohne einen Spiegel zu benötigen: unscharf zwar, doch wenn wir genau hinschauen, kann sie uns einen ganz neuen Blickwinkel auf uns selbst eröffnen. Das Faszinierendste an Seelen ist jedoch, dass sie sich – auch wenn sie so unfassbar und immateriell scheinen – mit anderen Seelen verbinden können. Genau das geschah an diesem Tag, mitten in den Bergen. Noch als die Sonne längst hinter den Gipfeln versunken war, saßen Jake und ich nebeneinander am Hang und unterhielten uns leise. Er erzählte mir die ganze Geschichte noch einmal ausführlich: Wie er auf der Suche nach Zeichen-Inspiration einen Ausflug ins Gebirge unternommen hatte. Wie er sich schon als Nathan noch schlief aus dem Zimmer geschlichen hatte, dem Sonnenaufgang entgegen. Wie er gerade rechtzeitig am Fuße dieser Bergkette angekommen war, um den Morgenhimmel über dem Gebirgsrücken glühen zu sehen. Wie er minutenlang einfach nur dagestanden und den Moment in sich aufgesogen hatte. So lange, bis er sich schließlich zugetraut hatte, ihn zu zeichnen. Wie er sich an eben jene Stelle gesetzt hatte, an der wir nun auch wieder saßen, mit Papier und Zeichenstift. Versucht hatte, den Augenblick festzuhalten. Wie er das befreiende Gefühl genossen hatte, der Gegenwart der anderen Internats-Schüler*innen für eine Weile entkommen zu sein. Wie er gleichzeitig den leisen Wunsch verspürt hatte, diesen wunderschönen Ort einem anderen Menschen zu zeigen; einem Menschen, der ihn zu würdigen wusste und sich nicht darüber lustig machen würde. Wie er auf einmal einige Schritte weiter eine fremde Person bemerkt hatte. Und wie dann alles plötzlich ganz schnell gegangen war: Der Sturz. Das fallende Baby. Der rollende Felsen. Die Panik, die es ihm unmöglich gemacht hatte, den Zeichenkram wegzulegen und einen Zauber zu wirken, der verhindert hätte, was dann geschehen war. Die Schreie des Babys und seiner Bezugsperson. Und noch viel schlimmer: die dumpfe Stille danach. Wie er hatte helfen wollen – und doch nur hatte rennen können. Weg von dem, was passiert war. Weg von diesem Ort. Diesem Ort, der wenige Momente zuvor noch Schönheit und Geborgenheit bedeutet hatte. Wie er gerannt war, immer weiter, zurück zur Schule, ohne noch einen einzigen Gedanken an seine zurückgelassenen Sachen zu verschwenden. Und wie die Bilder, die er nicht gezeichnet, sondern als unfreiwillige Erinnerung mitgenommen hatte, ihn verfolgt hatten, egal, wie schnell er lief. Mein Zuhören konnte das Baby nicht zurück ins Leben holen, nichts konnte das. Doch es konnte Jake helfen, weiterzuleben, obwohl das, was passiert war, nicht ungeschehen gemacht werden konnte. Weil er nicht allein war damit. Und dann, als Jakes letzte Tränen in meinem Schal versickert waren, begann meinerseits auch ich zu erzählen. Von meinen Eltern, die nicht mehr da waren, und von meinen Adoptiveltern, die im Grunde auch nie da gewesen waren. Wie ich vom Kullë Guri gelesen hatte und wider besseren Wissens angefangen, davon zu träumen, eines Tages dorthin zu gehen. Wie meine Adoptiveltern sich geweigert hatten, mich auch nur eine Magie-Vorschule besuchen zu lassen. Wie ich mich stattdessen oft in der Bibliothek verkrochen hatte, um in die fernen Welten von Büchern zu fliehen. Wie ich versucht hatte, mir viele magische Grundkenntnisse selbst anzueignen. Wie ich auf eigene Faust viel über die Pflanzen in meiner Umgebung herausgefunden hatte, und darüber, wozu sie nützen konnten (manchmal auch darüber, wie sie lieber nicht zu verwenden waren). Und dann von dem Tag, als auch ich gerannt war. Weg von diesen Menschen, die mich davon abgehalten hatten, das zu sein, von dem ich wusste, dass ich es sein konnte. Dem Kullë Guri entgegen, ohne wirklich zu wissen, was dann. Als meine Adoptiveltern auf der Party eines befreundeten Paares gewesen waren, hatte ich zwei Taschen mit Klamotten und meinen liebsten Büchern gepackt und war abgehauen. Transport-Magie hatte ich damals noch überhaupt nicht beherrscht, deshalb hatte ich mich zu Fuß auf den Weg gemacht, über jeder Schulter einen Beutel. Ich hatte ein wenig Essen mitgenommen und das goldene Amulett, das meine Mutter von meiner Großmutter geerbt hatte. Ich hatte ein letztes Mal den Hund meiner Adoptiveltern umarmt: das einzige Wesen in diesem Haus, dem ich mich jemals wirklich verbunden gefühlt hatte. Hatte einen letzten Blick in mein kleines Zimmer geworfen, das mir in den letzten Jahren Unterkunft gewesen war, mehr aber auch nicht. Höchstens Gefängnis. Dann hatte ich die Tür hinter mir geschlossen, um nie mehr zurückzukehren. Während ich redete, kam das Gefühl zurück, das ich so sehr versucht hatte, loszuwerden. Das Gefühl, das dich neben der hoffnungsvollen Aufregung ergreift, wenn du einem Ort den Rücken zukehrst, der nie Zuhause war und doch der einzige Ersatz dafür. Das Gefühl, nirgendwo hinzugehören, weil du nirgends erwünscht bist oder auch nur verstanden wirst. Das Gefühl, fast erschlagen zu werden von so viel Welt und so wenig Rückhalt. Doch zum ersten Mal war da auch noch etwas Anderes. Es war, als habe Jake es diesmal geschafft, den Felsen aufzuhalten. Nicht den, der das Baby getötet hatte – wohl aber den, der mich zu erschlagen drohte. Das Gefühl der Einsamkeit und des Verlorenseins war da, aber es wurde nicht zum Ohnmachtsgefühl. Denn von diesem Moment an war auch ich nicht mehr alleine mit allem, was mir zugestoßen war. Jake war an meiner Seite: der erste Mensch, dem ich all das erzählen konnte. Ohne etwas auszulassen. Die Sonne mochte untergegangen sein, aber meine Seele leuchtete weiter. Ich konnte es nicht sehen, aber ich konnte fühlen, wie sie einen Teil einer anderen Seele begrüßte. Einen kleinen Teil von Jakes Seele, der mich von nun an begleiten würde. Er passte perfekt in die Lücke, die ein Stück meiner eigenen Seele soeben hinterlassen hatte - als es sich sanft von mir gelöst hatte und sich Jakes Seele anvertraut.