Читать книгу Verraten - Vanessa S. Kleinwächter - Страница 7
Zwei
ОглавлениеJake bekam es allen Ernstes hin, den gesamten Weg zur Schule über nicht ein einziges Wort darüber zu verlieren, was er soeben im Dorf erlebt hatte. Nicht einmal, wie es mir ging, nachdem die Scherben mich angerempelt hatten, fragte er mich! Und selbst, als wir längst an unserer Lieblingsstelle am Litar angekommen waren, war er noch immer viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt. Doch dass er richtig aufgekratzt war, das war deutlich zu spüren. Er versuchte, Kieselsteine übers Wasser hüpfen zu lassen, was am Fluss natürlich nicht sonderlich gut funktionierte. Unter leisem Quieken flüchtete ein Schwarm Flusssterne aus seiner Reichweite. Die kleinen Tierchen mit flachem, sternförmigem Körper hatten ein kurzes hellbraunes Fell, das ziemlich flauschig aussah. Streicheln ließen sie sich jedoch nie. Mit ihrem kräftigen Schwanz bewegten sie sich flinker durchs Wasser, als ich ihnen im ersten Moment zugetraut hätte. Das machte es gar nicht so einfach, sie zu zählen - eben deshalb machten wir uns oft gerne einen Spaß daraus. Aber nicht heute. Heute waren wir beide mit den Gedanken ganz woanders.
Mit einem lauten Platschen sank schließlich der letzte Stein in den Fluss und Jake ließ sich daraufhin neben mich auf den Kies fallen. Seine Augen leuchteten, wie ich es bisher erst ein einziges Mal bei ihm gesehen hatte. Das war gewesen, als er nach Tagen ein Bild seines Kaninchens fertiggestellt hatte. Am Kullë Guri waren Haustiere verboten, deshalb lebte es bei seinen Eltern und er sah es nur selten. Sein detailgetreues Gedächtnis war jedoch faszinierend. Immer und immer wieder hatte er Kleinigkeiten korrigiert: das Fell hier ein bisschen dunkler, die Pfoten dort ein wenig krummer. Am Ende hatte ich aufs Blatt geschaut und das Gefühl gehabt, ein echtes Tier säße auf dem Tisch. Ich hatte Jakes Haustier nie gesehen, aber er war so stolz auf das fertige Bild gewesen, dass ich nicht den geringsten Zweifel daran hegte, dass es exakt so aussah. Genau das lag jetzt wieder in seinem Blick. Unendlicher Stolz.
„Cabrysz will mich auf seiner Akademie!“, platzte es nach einer kurzen Stille endlich aus ihm heraus. „Akademie“, so konntest du es natürlich auch nennen. Ich hätte ja eher Worte wie „Sekte“, „Männerbund“, „Räuberbande“ gewählt. Kein Mensch wusste, was genau wirklich in der Festung vor sich ging, in der Cabrysz mit seinen Schergen hauste. Wie konnte Jake auch nur einen einzigen Gedanken daran verschwenden, den Widerstand gegen ihn aufzugeben? In die Stählerne Burg zu gehen?! Die Antwort folgte auf den Fuß: „Die beiden Magier, die wir heute getroffen haben, haben gesagt, dass sie schon viel von mir gehört haben – stell dir das mal vor! Sie waren ganz begeistert von meinen Zeichenkünsten!“ Ich konnte die Augenbrauen gar nicht so weit nach oben ziehen, wie ich gewollt hätte: „Die beschatten dich?! Wie gruselig!“ „Ach Quatsch. Sowas spricht sich doch herum. Hast du das noch nie mitbekommen? Wie oft ich mir in Siguri schon anhören durfte, dass Zeichnen doch nichts für einen jungen Mann wie mich wäre!“ Er rollte theatralisch mit den Augen. Dann fuhr er fort: „Andererseits treffe ich manchmal Menschen, mit denen ich im Leben noch kein einziges Wort gewechselt habe, die von meinen Bildern schwärmen. Das ist dann immer etwas seltsam, aber unheimlich schön.“ Ein zufriedenes Grinsen breitete sich auf seinem Gesicht aus und mir fiel wieder ein, dass wir im Dorf schon öfter einmal von fremden Personen aufgehalten worden waren. Im Gegensatz zu ihm war ich dann aber immer froh, wenn wir wieder weiterkamen. „Und weißt du, was das Beste ist?“, unterbrach Jake aufgeregt meine Erinnerungen. „Was?“ „Diese ganzen Versetzungsprüfungen, die wir hier am Kullë Guri ablegen müssen? Sowas haben die da überhaupt nicht! Ich laufe also nicht Gefahr, im Schwertkampf durchzufallen!“ Erleichterung lag in seiner Stimme. Der Schwertunterricht war schließlich nicht nur seine größte Abneigung, sondern gleichzeitig auch seine größte Sorge. „Außerdem haben sie mir versprochen, dass ich an der Akademie des Cabrysz etwas Großartiges aus meinem Zeichentalent machen kann! Sie sagten, meine Zeichnungen werden die Welt bewegen!“ Ich seufzte, tief und hilflos. „Jake…“, setzte ich an. Doch mir fehlten die Worte. Denn das Schlimme war: Wenn ich ganz ehrlich war, konnte ich ihn sogar verstehen. All die Zeit hatte er sich Anfeindungen und Spötteleien anhören müssen – für etwas, das ihm alles bedeutete. Hatte sich immer wieder sagen lassen müssen, dass er nicht in das Idealbild dieser Schule passte, egal, wie viel Energie er in die meisten Fächer steckte. Und jetzt war da jemand, der ihm vermittelte: Das, was du nicht kannst, brauchst du auch gar nicht. Das, was dir wirklich etwas bedeutet, wird wertgeschätzt. Ich habe schon von dir gehört. Natürlich war das schmeichelnd und verlockend. Selbst, wenn es Cabrysz war.
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Am nächsten Morgen brachte Jake eine ungewöhnliche Hektik mit zum Frühstück. Sonst war er oft der Erste im Essenssaal, um ganz ausgiebig und in aller Ruhe frühstücken zu können. Manchmal, wenn noch wirklich wenige Menschen im Raum waren, nahm er sich sogar ein Glas Tee, setzte sich in eines der großen Fenster und beobachtete die Tiere, die draußen vorbeihuschten. Heute hingegen schlang er leidlich eine Scheibe Brot herunter und sprang dann sofort wieder auf. „Was ist denn mit dir los?“, fragte ich irritiert. „Ich muss vor dem Unterricht noch kurz nach Siguri“, antwortete Jake. „Hä?“ „Treffen mit den Akademie-Magiern von gestern“, gab er kurz angebunden zurück und murmelte seinem Teller etwas zu, woraufhin dieser sich samt des dazugehörigen Messers in die Luft erhob und leise klirrend auf dem Stapel gebrauchten Geschirrs auf einem Tisch am Rande des Saals landete. Während ich noch Geschirr und Besteck mit dem Blick folgte und mich wunderte, dass Jake heute in seiner Eile sogar gegen das Verbot der Transportmagie außerhalb des Unterrichts verstieß, war dieser schon fast durch die Tür. Ich ließ mein halb aufgegessenes Brot liegen und sprang nun ebenfalls auf, um ihn noch einzuholen. Er jedoch wartete nicht auf mich. Mit unverminderter Geschwindigkeit hastete er durch die Gänge, durchs Foyer, auf das Tor der Schule zu. Es dauerte etwas, bis ich ihn erreicht hatte – meine Güte, meine Ausdauer ließ echt zu wünschen übrig! „Was für ein Treffen ist denn das?“, fragte ich dann ein wenig außer Atem. „Na, ich werde ihnen sagen, dass sie mich an der Akademie erwarten können, sobald ich Doktor Haxxley davon in Kenntnis gesetzt habe.“ „WAS?!“ Jetzt war ich froh, dass ich noch nicht viel gegessen hatte, sonst hätte ich mich möglicherweise übergeben. „Was soll das heißen, sie können dich an der Akademie erwarten? Du hast doch nicht ernsthaft vor,…?!“ Ungeduldig unterbrach mich Jake: „Natürlich! Siehst du nicht, was das für eine Chance ist? Jake Breshkë, Absolvent der Akademie des Cabrysz - wie das allein schon klingt! Das bedeutet ja noch lange nicht, dass ich mich dauerhaft in seine Gefolgschaft begeben muss. Es geht hier um meine Zukunft, Ella! Er wird meine Zeichnungen groß rausbringen und ich muss mich nie wieder mit den Arschlöchern an dieser Schule herumschlagen!“ Gut, dass die Gemeinten alle noch schliefen oder im Speisesaal saßen. Er mochte zwar Recht haben, aber auf Streit hatte ich um diese Uhrzeit keine Lust. Nicht, dass ich zu irgendeiner anderen Zeit Lust darauf gehabt hätte. Mitten in diesem Gedanken rannte ich beinahe in Jake, der nun doch stehen geblieben war und sich zu mir umdrehte. Zum ersten Mal an diesem Tag schaute er mich wirklich an. Für gewöhnlich strahlten seine bernsteinfarbenen Augen Ruhe und Wärme aus – heute mischten sich in ihnen Entschlossenheit und Traurigkeit. „Du wirst mir fehlen, Ella“, sagte er leise, aber nachdrücklich. Ella – der Spitzname, den nur er für mich verwendete. So, wie keine andere Person an dieser Schule mir so nahestand wie er. Ich seufzte. „Du mir auch.“ Er umarmte mich und ich hätte ihn am liebsten festgehalten und einfach nicht gehen lassen. Eine ganze Weile standen wir so da. Doch dann stieß er mich von sich weg und rief: „Jetzt muss ich mich aber wirklich beeilen!“ Ohne sich noch ein zweites Mal umzudrehen, hastete er aus dem Schulgebäude, Siguri und den Scherben entgegen.